»Schlimmer?«, fragte Peter und wedelte mit den Armen. »Die ganze Stadt ist zum Leben erwacht und will uns auf furchtbare Art mit unseren eigenen Albträumen töten! Was könnte schlimmer sein?«
»Zeit für die Wahrheit, Eddie«, sagte Walker. »Wir müssen das wissen. Wen oder was hat Ihre Familie hier begraben vor all den Jahren?«
»Einen von uns«, sagte ich, »Er gehört zur Familie. Ein Drood, den man wie einen unartigen Hund eingeschläfert hat. Wir haben ihn so tief begraben, dass er schon halb in der Hölle ist, in die er gehört. Mit Eisenketten gefesselt, in kraftvolle Zauber und Flüche gewickelt, damit er bis zum Jüngsten Tag schläft oder sogar noch länger. Unsere größte Peinlichkeit, unser größtes Versagen. Der Drood, der die Welt verschlingen wollte.
Unsere Torques und unsere Rüstung geben uns mehr Macht als alles, was ihr euch jemals vorstellen könntet, aber für einen von uns, einen gewissen Gerard Drood aus dem elften Jahrhundert, war das nicht genug. Er erforschte die Möglichkeiten des Torques, befasste sich viel tiefer damit als je einer von uns davor. Er … verbesserte seinen Torques, benutzte bestimmte verbotene Techniken und uralte Geräte und benutzte ihn dann dazu, die der anderen aufzusaugen. Hunderte von ihnen, Männer, Frauen und Kinder. Er wurde … unglaublich mächtig. Ein Seelenfresser. Ein lebendiger Gott.
Nachdem er die Familie besiegt und unterworfen hatte, machte er sich auf, die ganze Menschheit unter seinen Willen zu zwingen und die Welt nach seinem Abbild neu zu formen. Er hätte beinahe Erfolg damit gehabt. Ganze Länder fielen unter seinen Einfluss, Millionen von Menschen beugten die Knie und den Kopf und priesen seinen unheiligen Namen. Er grub seine Gesichtszüge in die Oberfläche des Mondes, damit die ganze Welt zu ihm aufsehen könnte und sah, wie er auf sie hinablächelte.
Aber es gab immer mehr Droods, als man öffentlich zugeben wollte; aktive Agenten und … so was in der Art. Die Matriarchin rief sie alle zu sich, alle Droods, die noch gegen den Verräter Widerstand leisteten. Sie bündelte sie, in ein kollektives Droodbewusstsein sozusagen, sodass Hunderte von Droodschen Torques gegen Gerards gestohlene standen. Am Ende war nicht einmal das genug, um ihn zu besiegen. All diese Macht - und alles, was sie erreicht haben, war, ihn einzuschläfern, fest zu bannen und ihn tief zu begraben.
Gerard Drood. Grendel Rex. Der unversöhnliche Gott.«
»Ich habe von ihm gehört«, rief Peter. »Er ist unter dem Silbury Hill begraben, im Südwesten Englands!«
»Eigentlich nicht, nein«, sagte ich. »Wir haben dieses Gerücht zur Ablenkung gestreut. Silbury Hill ist ein Grabhügel aus keltischen Zeiten mit so vielen Legenden, die sich darum ranken, dass eine mehr gar nicht auffällt. Nein. Wir haben ihn hierher gebracht, an einen Ort, der im elften Jahrhundert das Ende der Welt war. Einen harten und bitteren Ort, an dem keiner mit Verstand würde leben wollen. Wo ihn keiner stören konnte.«
»Wenn nicht er unter Silbury Hill begraben ist«, fragte Walker. »Wer dann?«
Ich brachte ein Lächeln zustande. »Sie können wohl kaum erwarten, dass ich Ihnen alle Familiengeheimnisse erzähle.«
»Warum überhaupt ein Gerücht streuen?«, fragte Peter.
»Weil Grendel Rex Anhänger hatte«, sagte ich geduldig. »Derartige Leute haben immer Anhänger. Sie können nun bis in alle Ewigkeit Tunnel in den Silbury Hill graben und niemals etwas finden.«
Honey rümpfte die Nase. »Ich habe bis heute noch nie von Grendel Rex gehört. Und ich habe ganz sicher auch nie von einer Machtübernahme in den Geschichtsbüchern gelesen.«
»Wir haben ihn aus der Geschichte getilgt«, erwiderte ich. »Jedes Zeugnis zerstört, jedes Buch und Manuskript verbrannt und jeden zum Schweigen gebracht, der versucht hat, zu reden. Damals konnten wir das noch tun. Nur Mythos und Legende blieben, und damit konnten wir leben. Den Mond sauber zu schleifen war schwierig, aber auch das haben wir geschafft.
Versteht ihr jetzt? Warum ich so zögere, etwas zu tun, was den Unversöhnlichen Gott wieder wecken und auf die Welt loslassen könnte?«
»Teufel noch mal«, sagte Peter. »Wenn das Tunguska-Ereignis ihn nicht geweckt hat …« Er hielt inne.
»Oder sollte es das, und es ging daneben?«
»Ein großer Teil meiner Familie hat sich das gefragt«, sagte ich. »Aber … er hat weitergeschlafen. Unsere Ahnen haben gute Arbeit geleistet. Das gibt mir das Vertrauen, es überhaupt zu versuchen. Aber … wenn ich zufällig die Fesseln breche, die ihn halten, dann wird er wiederauferstehen. Und vielleicht sind nicht einmal die Bemühungen aller Droods und all unserer Verbündeten und all unserer Waffen genug, um ihn diesmal niederzuzwingen.«
»Ach, komm schon«, sagte Honey. »Sei nicht so eingebildet, Drood! Die Welt hat sich seit dem elften Jahrhundert weiterentwickelt. Wir haben Zugang zu Waffen und Material, das in jenen Tagen nicht bekannt war. Ich spreche für die CIA, wir haben auch ein paar lebende Götter besiegt.«
Walker sah sie an und dann mich. »Eddie, was ist das Schlimmste, was passieren könnte, wenn er aufwacht?«
»Dass er beendet, was er angefangen hat«, sagte ich. »Dass er die ganze Menschheit unterwirft, die Kontinente nach seinem Gusto neu formt, die Seelen aller lebenden Dinge in sich aufnimmt und uns nur genug übrig lässt, um ihn zu lieben und anzubeten. Die Hölle auf Erden, für immer und ewig und drei Tage. Das könnte passieren, wenn ich's versaue.«
»Nun«, sagte Walker. »Dann sollten Sie das wohl nicht tun.«
Der Lärm draußen in den Straßen war unterdessen ständig lauter geworden. Kreischen und Heulen, das genauso viel von Tieren wie von Menschen in sich hatte. Sie kamen von allen Seiten und umgaben das Haus. Wir waren belagert von den wiedererwachten Geistern der alten Schrecken. Der Raum schien kälter als je zu sein, eine gespenstische Kälte, eine Lücke in der Seele. Die Schatten waren sehr dunkel, wie Löcher, die einen verschlingen konnten oder in denen man ewig fallen würde. Sie bewegten sich manchmal, wenn man nicht direkt hinsah. Der Raum änderte sich die ganze Zeit in kleinen subtilen Dingen. Er wurde größer oder kleiner oder tiefer, während die Ecken zu viele Winkel aufwiesen.
Mein Atem kam schnell und hart. Ich konnte spüren, wie mein Puls raste und eine Vene an meiner Schläfe beinahe schmerzhaft pochte. Ich habe schon Angst gehabt; ein Drood zu sein macht einen nicht immun dem Schmerz oder dem Tod oder dem Versagen gegenüber - aber das hier war anders. Eine andere Art von Angst: primitiv, beinahe rein. Wir waren von Albträumen umgeben, die in die reale Welt drangen und uns umzingelten. Gegen meinen Willen erinnerte ich mich an Dinge, vor denen ich in meinen Träumen davongerannt war: unaussprechlichen, unerträglichen und unerbittlichen Dingen, denen ich nur entkommen konnte, indem ich aufwachte. Und hier konnte ich nicht aufwachen.
Alles kann in Träumen passieren, in schlechten Träumen. Die Toten können wieder umgehen und unversöhnliche Dinge sagen. Physische Formen verlieren ihre Integrität, werden unsicher, ihre Kanten fransen aus und gleiten einem durch die Finger, nicht länger an eine Gestalt gebunden, mit der man fertig würde. Ich konnte ein Wimmern spüren, das sich in meinem Hals bildete. Honey hatte die Hand vor dem Mund und nagte an einem Knöchel. Walker stand mit dem Rücken zur Wand und wedelte mit seinem Regenschirm hin und her, als sei der ein Schwert. Peters vorspringende Augen schossen hin und her und erwarteten scheinbar die Ankunft von etwas ganz Furchtbarem, das immer von irgendwo anders kam.
Schon bald würden wir anfangen, uns gegenseitig als Albträume zu sehen. Vielleicht sogar einander angreifen, weil man niemandem und nichts in einem Albtraum trauen kann. Schatten stiegen von überallher hoch und nahmen verstörende Formen an, die eine schreckliche persönliche Bedeutung hatten. Der Boden unter meinen Füßen war weich und schwammig, die Wände lehnten sich zu uns herunter, kamen uns näher wie müde, alte Männer. Risse in den Mauern nahmen die Form von menschlichen Gesichtern an und lächelten in freudiger Erwartung des Kommenden.