Feric grübelte über seinen Platz im allgemeinen Menschheitsschicksal, während seine ausgreifenden Schritte ihn näher an die zehn oder fünfzehn Gestalten herantrug, die vor ihm gingen. Als junger Mann in Borgravia hatte er sich auf mehreren Gebieten talentiert gezeigt und es mit Fleiß und Ausdauer zu einiger Meisterschaft gebracht. So hatte er sich mit Entwürfen für Innenarchitektur und Kleidung bereits einen Namen gemacht, war bei Architekturwettbewerben mit Modellen und Plänen hervorgetreten, die eine klassische Monumentalität auszeichnete, und hatte die Kunst der Rhetorik und der Motivation ebenso gründlich studiert wie das Handwerk des Pamphletisten. Mit jedem dieser Talente hatte er sich zur einen oder anderen Zeit den Lebensunterhalt verdient. Darüber hinaus hatten der Stolz auf seine reinrassige Abkunft und die Ermutigung seines Vaters ihn bewogen, sich mit Geschichte, Genetik und militärischer Strategie und Taktik zu beschäftigen. Es schien Feric, daß es einem Mann seiner Vielseitigkeit niemals an einträglicher Beschäftigung fehlen würde.
Sein größter Wunsch war jedoch nicht die Bereicherung, sondern der Dienst an der Sache der wahren Menschheit, soweit es in seinen Kräften stand. Sein neues Leben in Heldon eröffnete ihm hier, wie er meinte, zwei Wege: eine militärische Laufbahn, oder die politische Betätigung. Es war eine schwierige Wahl. Auf der einen Seite versprach eine militärische Karriere den raschesten und unmittelbarsten Zugang zu konkretem patriotischem Handeln, aber nur unter der Voraussetzung, daß die politische Führung der Großrepublik den Willen zeigte, ihre bewaffneten Streitkräfte einzusetzen. Auf der anderen Seite war die politische Betätigung ein Weg, auf dem er Zugang zu den Kreisen gewinnen könnte, in welchen solche Entscheidungen getroffen wurden, doch nur durch einen langwierigen und erschöpfenden Prozeß der Anpassung an das politische Tagesgeschäft mit seinen faulen Kompromissen und Intrigen, seinem geschäftigen Leerlauf und seiner tönenden Wichtigtuerei. Alles das erschien Feric als im wesentlichen unwürdig und unmännlich.
Er beschloß, eine solch wichtige Entscheidung erst dann zu treffen, wenn das Schicksal ihm ein klares Zeichen gäbe, das in diese oder jene Richtung wies.
Während er diese gewichtigen Angelegenheiten bedachte, hatten die natürlichen Reflexe seines trainierten Körpers und sein rascher Schritt ihn bis auf wenige Meter an die anderen Einwanderer herangetragen, die vor ihm die Brücke überquerten, und als er zufällig zu ihnen aufblickte, blieb ihm vor Bestürzung der Mund offenstehen.
Denn hier auf der Ulmbrücke, der Bastion genetischer Reinheit entgegenschlurfend, war ein unglaublicher Haufen der abscheulichsten und dreistesten Mutanten und Bastarde, die man sich denken konnte! Da war ein Papageiengesicht, dessen mutierte Kiefer und Zähne einen unverkennbaren Schnabel bildeten; da war eine weibliche Blauhaut, und drei bucklige Zwerge, einer mit der warzigen Haut des Krötenmenschen; und ein menschenähnliches Wesen, dessen zappelnde Gangart klar genug die beiden zusätzlichen Gelenke in seinen Beinen verriet, neben einem Eierkopf mit einem grotesk deformierten ellipsoiden Schädel. Dies war ein Anblick, der einem auf den Straßen Gormonds jeden Tag geboten wurde, aber auf der Brücke nach Heldon, die man bereits als heldonisches Territorium betrachten mußte, war es eine unerklärliche Schreckenserscheinung.
Erbittert beschleunigte er seinen Schritt und holte die knorpelige Menagerie ein. »Halt!« rief er. »Was hat dies zu bedeuten?«
Die Kollektion von Mutanten kam schwankend zum Stillstand und betrachtete Feric mit einer Mischung von Furcht, Verwirrung und mürrischer Ehrerbietung.
»Wie belieben, Rechtmann?« krächzte das Papageiengesicht mit einer heiseren, widerlichen Stimme, die jedoch frei von Bosheit oder Schadenfreude schien.
»Was macht ihr auf der Brücke nach Heldon?«
Die Untermenschen starrten ihn in ungeheuchelter Verständnislosigkeit an. »Wir gehen in die Stadt Ulmgarn«, antwortete die weibliche Blauhaut schließlich.
Waren diese Kreaturen völlig unfähig, die Unmöglichkeit der Situation zu begreifen. »Wie wurdet ihr auf diese Brücke gelassen?« verlangte Feric zu wissen. »Sicherlich werdet ihr mir nicht weismachen wollen, daß ihr Bürger von Heldon seid.«
»Wir haben die üblichen Tagespassierscheine, Rechtmann«, sagte das Papageiengesicht.
»Tagespassierscheine?« murmelte Feric. Herr im Himmel, wurden an Mutanten tatsächlich Einreisepapiere ausgegeben? Welch ein Verrat an der wahren Menschheit steckte dahinter? »Zeigt mir einen dieser Passierscheine«, befahl er.
Der Eierkopf langte in einen fettigen Brustbeutel aus gummiertem Stoff, der ihm an einer zerfaserten Schnur vom Hals hing, und reichte ihm eine kleine rote Karte. Sie war aus billigem Karton, trug aber das Staatswappen von Heldon und eine geprägte Umrahmung aus winzigen, aneinanderhängenden Hakenkreuzen, dem traditionellen Motiv des Ministeriums für die Reinhaltung der Rasse. In einfacher Blockschrift von typographisch wenig eleganter Anordnung verkündete der Textaufdruck: ›Tagespassierschein, gültig für zehn Stunden Aufenthalt in Ulmgarn am 14. Mai 1142 A.F. Der Mißbrauch dieses Passierscheins oder die nachträgliche Veränderung des Datums wird mit dem Tode bestraft‹
Gründlich angewidert, gab Feric die Karte zurück. »Ist das die übliche Praxis?« fragte er. »Werden Nichtbürger jeden Tag für begrenzte Aufenthalte über den Fluß gelassen?«
»Vorausgesetzt, es gibt Arbeiten, die von Bürgern des Landes wie Ihnen als nicht standesgemäß betrachtet werden«, sagte einer der Zwerge.
Das also war es! Feric hatte gehört, daß der Universalismus unter den Volksmassen Heldons immer mehr Anhänger fand, aber er hatte sich nicht vorgestellt, daß die von den Dominatoren verbreitete heimtückische Doktrin soviel Einfluß gewonnen hatte, daß sie die Gesetze zur Erhaltung der genetischen Reinheit unterminieren und aushöhlen konnte. Die Universalisten forderten die Züchtung hirnloser Sklavengeschöpfe für die Ausführung niedriger Arbeiten, was ziemlich genau der Perversion von Protoplasma entsprach, wie sie von den Dominatoren in Zind praktiziert wurde. Sie waren noch nicht mächtig genug, um dieses unaussprechliche Vorhaben auch in Heldon in die Tat umzusetzen, doch hatten sie die trägen Massen offenbar bis zu einem Punkt aufgerührt, wo die feigherzige Regierung sich genötigt sah, Mutanten und Bastarde in Heldon arbeiten zu lassen, um solchen Tendenzen zu begegnen.
»Abstoßend!« murmelte Feric, und mit einem Dutzend langer Schritte legte er Distanz zwischen sich und die erbärmlichen Untermenschen hinter ihm. Was er bisher gesehen, hatte ihn tief beunruhigt. Er stand noch nicht auf heldonischer Erde und hatte bereits eine Zollfestung unter der Herrschaft eines Dominators sowie eine erschreckende Nachlässigkeit in der Handhabung der Gesetze zur genetischen Reinheit beobachtet, die nur auf den Einfluß von Universalisten zurückgeführt werden konnte. War die Großrepublik bis in den Kern hinein verrottet, oder war sie nur an den Rändern von äußeren Einflüssen angesteckt? Wie es sich auch verhalten mochte, seine Pflicht als Rechtmann und Staatsbürger war klar: er mußte alles tun, um die Wirksamkeit der Gesetze zur Erhaltung genetischer Reinheit wiederherzustellen und ihre fanatisch strikte Anwendung durchzusetzen. Um diese heilige Sache zu fördern, galt es jede Gelegenheit, die das Schicksal ihm gewährte, in vollem Umfang zu nutzen.
Mit erneuerter Entschlossenheit und dem wachsenden Bewußtsein einer Mission, beschleunigte Feric seinen Schritt und eilte der Stadt Ulmgarn und dem weiten Land entgegen, das sich vor ihm bis zum Horizont erstreckte.
Die Brücke mündete unmittelbar in die Hauptstraße der Stadt Ulmgarn: ein emailliertes Schild auf einer schlanken gußeisernen Säule informierte Feric, daß dieser ansehnliche Boulevard als Brückenstraße bekannt war. Ein herzerwärmender Anblick bot sich seinen Augen und machte den kalten Wind auf der Brücke ebenso vergessen wie das tiefergehende Frösteln, das seine Begegnungen in der Zollfestung und auf der Brücke in ihm hinterlassen hatten. Zum erstenmal in seinem Leben erblickte er eine Stadt, die -von wahren Menschen auf unverseuchtem Boden erbaut und von gesunden Vertretern des reinen menschlichen Genotyps bewohnt war; welch ein Unterschied zu dem Schmutz und Verfall von Gormond!