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»Du weißt genau, womit«, sagte Gowenna betont. In ihrer Stimme schwang eine leise Spur von Ungeduld, hinter der sich Ärger verber gen mochte. »Du quälst dich, Skar«, fuhr sie fort, als klarwurde, daß er nicht antworten würde. »Seit vier Tagen hockst du dort drinnen und quälst dich selbst. Findest du es sinnvoll, das Messer, das dir Vela in die Brust gestoßen hat, auch noch selbst herumzudrehen ?«

»Del ist tot«, sagte Skar dumpf. Er atmete hörbar ein, drehte das Ge sicht aus dem Wind und sah sie nun doch an.

Gowennas Lippen zuckten. In ihrem sehenden Auge blitzte es zornig auf. »Das ist er nicht, Skar«, sagte sie gepreßt. »Die Sumpfmänner werden ihn retten und -«

Skar hob mit einer so abrupten Bewegung die Hand, daß Gowenna erschrocken abbrach und einen halben Schritt zurückwich. »Sie wer den ihn wieder zum Leben erwecken, wie?« sagte er leise. »Sie werden ihn ... wie haben sie es genannt? Neu schaffen? Und was werden sie mir geben? Eine Puppe? Ein Ding, das aussieht wie Del, sich bewegt wie Del, redet wie Del und mir jeden Wunsch von den Lippen abliest, wie es deine drei Schattenmänner bei dir getan haben ?«

»Dir geben?« wiederholte Gowenna erschrocken. »Sie werden dir nichts geben, Skar. Sie werden Del das Leben zurückgeben, das ist al les.«

Skar erschrak für einen Moment vor seinen eigenen Worten. Er hatte - ohne es im ersten Moment selbst zu bemerken - den Gedanken aus gesprochen, den er seit Tagen sorgsam bekämpft und irgendwo in sei nem Inneren vergraben hatte.

»Vielleicht ist es gar nicht wirkliche Trauer, Skar«, fuhr Gowenna fort. »Vielleicht bist du nur zornig, weil Vela dir Del weggenommen hat.«

»Unsinn«, sagte Skar verwirrt. »Ich

»Ich bin nicht gekommen, um mich mit dir zu streiten«, unterbrach ihn Gowenna. Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln und fuhr sich mit einer raschen, unbewußten Geste über das Gesicht; eine Bewe gung, die sie sich in den letzten Tagen mehr und mehr angewöhnt hatte, beinahe als müsse sie sich immer wieder neu davon überzeugen, daß die eine Hälfte ihres Gesichts noch unbeschädigt und heil war und das verbrannte Narbengewebe nicht etwa über Nacht unbemerkt wei ter über die Grenze zwischen Engel und Teufel, die sich in ihr Antlitz gebrannt hatte, gekrochen war. »Die Späher sind zurück«, fuhr sie in verändertem, bewußt sachlichem Ton fort. »Es ist so, wie ich es gesagt habe: Der Paß ist verschneit. Du mußt schon fliegen lernen, um über die Berge zu kommen.«

»Ich werde trotzdem gehen«, sagte Skar ruhig.

Gowenna seufzte. »So nimm doch endlich Vernunft an, Skar. Es ist unmöglich. Du kannst nicht über den Paß. Niemand kann das.«

»Niemand?« Skar lächelte, bewußt kalt und bewußt verletzend. »Vela hat es geschafft.«

»Das vermutest du«, erwiderte Gowenna. »Aber es kann auch sein, daß sie irgendwo an einem geschützten Ort überwintert, während du in dein Unglück rennst.«

»Du weißt so gut wie ich, daß das nicht stimmt«, sagte Skar. »Sie ist jetzt bereits auf dem Weg nach Elay, und wenn wir warten, bis der Winter vorbei ist, dann wird sie ihre Macht bereits gefestigt haben, bevor wir überhaupt aufbrechen.«

»Und du wirst unsere letzte Chance, sie aufzuhalten, verspielen, wenn du jetzt losreitest und dich umbringst. Wahrscheinlich hast du recht, aber du vergißt dabei eine Kleinigkeit, Skar: Sie hat den Stein, um sich den Weg zu bahnen. Du nicht.«

Skar wandte sich um und sah lange und nachdenklich zu dem Gebäude am anderen Ende des Hofes hinüber. »Es ist sinnlos, Gowenna«, murmelte er. Er wollte nicht mehr diskutieren, weder mit ihr noch mit irgendwem. Vielleicht hatte sie recht, aber er war einfach müde, zu müde, um auch nur über ihre Argumente nachzudenken. »Ich werde gehen. Noch heute. Ich... hätte es längst tun sollen.«

»Wenn du stirbst, Skar, dann verliert Enwor vielleicht seine letzte Chance.«

»Enwor...« Die Schwärze hinter dem rechteckigen Eingang schien sich zu verdichten. Es war ein Grab. Selbst wenn Del sich nach einer Weile von seinem Totenbett erheben und das Haus verlassen würde, würde es nur ein Schatten des jungen Satai sein. Und er, Skar, wollte es nicht erleben. »Was kümmert mich die Welt, Gowenna«, sagte er abfällig. »Sie wird nicht untergehen, wenn ich sterbe. Vielleicht hat Vela sogar recht, und Enwor wird besser, wenn es Männer wie mich nicht mehr gibt.«

Gowenna erstarrte. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verhärtete sich. »Und Frauen wie mich, nicht wahr? Das meinst du doch?« Skar zögerte einen Moment zu antworten. Er wußte genau, wie sinnlos es war, dieses Spiel fortzusetzen. Es war wieder die alte Gowenna, wie er sie seit dem ersten Tag kannte. Sie wechselte ihre Taktik, schnell und ohne wirklich zu überlegen, instinktiv auf der Suche nach einer verwundbaren Stelle, nach einer Lücke in seiner Deckung, nach irgend etwas, wo sie ihn packen und festhalten konnte. Sie hatte noch nicht begriffen, daß es den Skar, mit dem sie geritten war, nicht mehr gab.

»Vielleicht«, sagte er schließlich. »Vielleicht sind wir beide nur Überbleibsel einer Welt, die schon längst gestorben ist, Gowenna. Vielleicht ist unsere Welt schon tot, ohne daß wir es bisher bemerkt haben, und vielleicht gehört die Zukunft Menschen wie Vela.« Gowenna verzog abfällig das Gesicht. »Wenn du wirklich so denkst, Skar«, sagte sie, »warum nimmst du dann nicht dein verdammtes Schwert und stürzt dich hinein?«

»Vielleicht werde ich das tun, Gowenna«, antwortete er ernst. »Wenn alles vorbei ist.«

Gowenna wollte etwas erwidern, aber Skar drehte sich ohne ein weiteres Wort um und ließ sie stehen.

1.

Der schwere Regen der letzten zehn Tage hatte aufgehört, und das Meer war so ruhig, wie man es sonst nur vor einem Sturm beobachten konnte. Aber der Himmel war leer, und als die Sonne aufging und mit ihren wärmenden Strahlen auch den letzten Rest von Morgennebel und Dunst zu vertreiben begann, war nicht einmal die winzigste Wolke zu entdecken. Trotzdem machte die SHANTAR gute Fahrt - die Segel, die während der letzten Wochen mehr als nur einmal naß und schlaff von den Rahen gehangen hatten, blähten sich unter einer steifen, beständigen Brise, und die zwanzig Doppelruder auf jeder Seite verliehen dem Freisegler zusätzliche Geschwindigkeit, so daß das scheinbar plumpe Schiff mit überraschendem Tempo an der Küste entlangglitt. Das verquollene Holz der Masten, zehn Tage lang vollgesogen mit Regen und Nebel, dessen Feuchtigkeit beharrlich in jede Pore und jeden noch so winzigen Riß gekrochen war, ächzte unter der Belastung, als es die Kraft des Windes auffangen und an den Schiffsrumpf weitergeben mußte, und das monotone Klatschen der Ruder begann einen einschläfernden Einfluß auf Skar auszuüben. Seine Augen brannten - zum Teil eine Wirkung des Salzwassers, das in einem dünnen Sprühregen von den Spieren empor und auf das Deck gewirbelt wurde, zum größeren Teil jedoch einfach vor Müdigkeit. Er hatte während der zweieinhalb Wochen, die er an Bord der SHANTAR verbracht hatte, nicht sehr viel Schlaf gefunden. Das Schiff war groß, bot jedoch kaum Platz für Passagiere, denn es war vom Bug bis zum Heck vollgestopft mit Lade- und Frachträumen, und die Wände seiner Kabine waren so hellhörig gewesen, daß er nahezu jedes Wort gehört hatte, das irgendwo an Bord des Schiffes gesprochen wurde. Dazu kam etwas, das so banal wie ärgerlich war - Seekrankheit. Von der ersten Stunde an, die er an Bord gewesen war, war ihm übel gewesen, und wenn sich sein Körper auch allmählich an das beständige Auf und Ab des Schiffes zu gewöhnen begann, so genügte doch noch immer eine unbedachte Bewegung, um seinen Magen in einen schmerzhaften Klumpen zu verwandeln. Zumindest konnte er der Situation ein gewisses Maß an Ironie nicht absprechen - was Vela mit all ihrer Macht und Bosheit nicht gelungen war, das hatte das Meer geschafft. Er wäre im Moment nicht einmal fähig gewesen, mit einem Kind zu kämpfen.