»Nun, Satai?«
Skar sah auf, als eine hochgewachsene, in einen schwarzen, ledernen Regenmantel gehüllte Gestalt neben ihm an die Reling trat. Andred, der Kapitän des Freiseglers. Skar mochte ihn. Er war ein schlanker Mann unbestimmbaren Alters, der sich gern selbst reden hörte, dabei aber nicht annähernd solch haarsträubenden Unsinn verzapfte wie die meisten anderen Männer seines Schlages. »Deine Wache ist zu Ende«, fuhr er mit einer Kopfbewegung zum Horizont fort. Die Sonne war vollends aufgegangen und stand als glosender roter Ball über dem Meer. »Du kannst in deine Kabine gehen. Ich lasse dich wecken, wenn Essenszeit ist.« Skar stemmte sich von der Reling hoch, massierte mit der Linken seinen steifen, schmerzenden Rücken und schüttelte den Kopf. Er war so müde, daß er Mühe hatte, die Augen offenzuhalten, aber irgend etwas sagte ihm, daß er sowieso keinen Schlaf finden würde. Vielleicht war es die Nähe Elays, die ihn wach hielt. »Ich bleibe noch«, sagte er, ohne den Blick vom Meer zu nehmen. Die Küste war als schwarzer, unregelmäßiger Streifen an Backbord sichtbar, so wie während der gesamten vergangenen Woche. Die SHANTAR segelte - zumindest in nautischen Maßstäben - dicht an der Küste entlang; weit genug entfernt, um vor den Untiefen und Riffen, die diese Gewässer zu den gefürchtetsten der Welt werden ließen, sicher zu sein, aber auch nahe genug, um sich mit einem schnellen Manöver in Sicherheit bringen zu können, falls Piraten auftauchen oder ein Sturm heraufziehen sollte. Ein Tümmler näherte sich dem Schiff, ließ seine dreieckige Rückenflosse eine Zeitlang parallel zu dem gewaltigen schwarzen Rumpf durch die Wellen schneiden und entfernte sich dann so rasch, wie er aufgetaucht war. Skar sah ihm nach, bis er verschwand.
»Wie du willst«, sagte Andred nach einer Weile. Er lehnte sich neben Skar gegen die Reling, starrte blicklos auf die Wellen hinab und schüttelte ein paarmal und ohne Skar irgendeinen Grund dafür erkennen zu lassen, den Kopf. Sein Fuß hämmerte den Takt zu einer unhörbaren Melodie auf die Planken. »Unsere Reise endet bald, Satai«, sagte er plötzlich. »Wenn der Wind weiter so günstig bleibt, dann erreichen wir noch vor Sonnenuntergang Anchor.« Skar nickte. »Ich weiß.«
»Du willst dort wirklich von Bord?« fragte Andred, nachdem er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß Skar das Gespräch von sich aus weiterführen würde.
»Warum nicht?«
»Anchor ist ein seltsamer Ort für einen Satai«, murmelte Andred. »Eine Stadt voller verrückter alter Weiber und bissiger Drachen - was sucht ein Mann wie du dort?«
Skar lächelte. Wenn es etwas gab, das Andreds Schwatzhaftigkeit noch übertraf, dann war es seine Neugier. Er hatte vom ersten Tag an versucht, mehr über den wahren Grund von Skars Reise in Erfahrung zu bringen.
»Nimm an, ich hätte ein Geschäft zu erledigen«, sagte Skar. »Ein Geschäft?« Andred sah ihn einen Herzschlag lang verblüfft an und lachte dann. Es klang unsicher. »Du? Seit wann sind die Satai unter die Krämer gegangen?«
Skar schwieg einen Moment. Er hätte Andred eine scharfe Abfuhr erteilen können, aber er wollte den Freisegler nicht vor den Kopf stoßen. Immerhin hatte Andred ihm einen Platz auf der SHANTAR gewährt, ohne daß er für die Passage bezahlen konnte. Und es konnte sein, daß er schon bald in eine Situation kam, in der er einen Freund - oder wenigstens einen Mann, der nicht sein Feind war - gebrauchen konnte. »Ich ... suche jemanden«, sagte er ausweichend.
»In Anchor?«
»In Elay«, antwortete Skar. »Wenn du mich zufällig dorthin bringen kannst...«
Das Lächeln auf Andreds Zügen wurde um eine Spur eisiger. »In Elay«, wiederholte er. »In Ordnung - du willst nicht darüber sprechen. Vielleicht hast du recht, und es geht mich nichts an.« Er drehte sich mit einer abrupten Bewegung um und wollte gehen, aber Skar hielt ihn noch zurück.
»Verzeih, Andred«, sagte er in versöhnlichem Tonfall. »Ich wollte dich nicht brüskieren.«
»Das ... hast du nicht«, sagte Andred in einem Ton, der die Worte Lügen strafte. »Es geht mich wirklich nichts an. Ich bin nur ein Kauffahrer und sollte mich nicht in die Angelegenheiten eines Kriegers mischen. Ich ...« Er stutzte, sah an Skar vorbei in Richtung Küste und streifte dessen Hand mit einer unbewußten Bewegung ab. Seine Augen wurden schmal.
Skar drehte sich ebenfalls um. Vor der dunklen Linie der Küste war ein schlanker, noch dunklerer Schatten erschienen. Ein Schiff. Es war noch zu weit entfernt, als daß man seine Herkunft oder auch nur seine Bauart hätte erkennen können, aber selbst für Skars nicht gerade seemännisch geschulten Blick war nach wenigen Sekunden klar, daß der fremde Segler direkten Kurs auf die SHANTAR hielt.
»Was ist das für ein Schiff?« fragte er.
Andred schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf. »Ein Thbargscher Kapersegler«, murmelte er. »Aber hier? In diesen Gewässern?«
Skar sah den Freisegler an. »Glaubst du, daß er uns gefährlich werden wird?«
»Gefährlich?« Andred sah ihn einen Moment verwirrt an, als müsse er sich erst ins Gedächtnis rufen, was dieses Wort überhaupt bedeutete. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein. Das Wort klingt gefährlicher, als es ist - zumindest sind es keine Piraten, wenn es das ist, was du befürchtest. Aber sie halten sich normalerweise nur oben im Norden auf. Ich habe jedenfalls ...« Er stockte, fuhr herum und schrie, mit den Händen einen Trichter vor dem Mund bildend, ein paar scharfe Kommandos zu den Matrosen in den Rahen hinauf. Skar sah erstaunt, wie die Männer begannen, die Segel zu reffen. Gleichzeitig wurde der Ruderschlag langsamer und hörte nach wenigen Augenblicken ganz auf. Die SHANTAR trieb, von ihrem eigenen Schwung getragen, noch weiter auf dem bisherigen Kurs, wurde aber bereits merklich langsamer.
»Was hast du vor?« fragte Skar mißtrauisch.
Andred zuckte abermals mit den Schultern, stellte sich wieder neben ihn und blinzelte aus zusammengekniffenen Augen zu dem anderen Segler hinüber. »Ich nehme Fahrt weg«, sagte er. Skar schluckte die scharfe Entgegnung, die ihm auf der Zunge lag, im letzten Moment hinunter. »Das ist mir nicht entgangen«, sagte er spitz. »Aber warum?«
Der Freisegler deutete mit einer knappen Geste auf das schwarze Kaperschiff. »Er hält Kurs auf uns«, erklärte er geduldig. »Und das heißt, daß sein Kapitän mit mir sprechen will. Und er ist mindestens doppelt so schnell wie wir und würde uns so oder so einholen. Warum also sollten wir uns auf ein ebenso sinnloses wie kräftezehrendes Rennen mit ihm einlassen? Außerdem haben wir keinen Streit mit ihm - weder mit ihm noch mit irgendeinem anderen Thbarg.« Er schwieg einen Moment, sah Skar mit einem langen, nachdenklichen Blick an und fuhr in verändertem Tonfall fort: »Ich verstehe deine Nervosität nicht, Satai. Die Thbarg sind zwar gefürchtete Kapersegler, doch sie tun keinem etwas, der ihre Grenzen nicht überschreitet. Und einem Freisegler schon gar nicht.«
Skar schwieg. Seine Finger schlossen sich in einer unbewußten, kraftvollen Geste um das brüchige Holz der Reling. Andreds Worte klangen einleuchtend - ganz egal, aus welcher Richtung er es bedachte; er hatte keinen Grund, nervös oder gar ängstlich zu sein. Und doch war etwas an diesem schwarzen, viermastigen Schiff dort drüben, das ihn alarmierte.
Vielleicht, versuchte er sich einzureden, war er auch nur übernervös. Die zweiwöchige Schiffsreise hatte mehr an seinen Kräften gezehrt, als er zugeben wollte, und die Nähe Elays und damit Velas tat ein übriges, ihn gereizt und vielleicht übervorsichtig werden zu lassen. Seit er Vela und die Sumpfleute verlassen und sich allein auf den Weg zu der Verbotenen Stadt im Herzen des Drachenlandes gemacht hatte, hatte er fast ununterbrochen an die ehemalige Errish gedacht, an sie und an das, was ihn erwarten mochte. Wenn man lange genug über eine unbekannte Gefahr nachdachte, dann fing man irgendwann einmal an, Gespenster zu sehen.