Legis deutete stumm hinter sich. Ihr Gesicht war ein verschwommener grauer Fleck unter der spitzen Kapuze ihres Mantels, aber Skar glaubte trotzdem einen Ausdruck der Verzweiflung auf ihren Zügen zu bemerken. »Wir warten auf Mork und die anderen«, sagte sie leise. »Es ist nicht mehr weit.«
Skar sah ungeduldig über die Schulter zurück. Er konnte die Quorrl jetzt hören; aber auch nur, weil er wußte, worauf er zu achten hatte. Wenige Sekunden später tauchte bereits der erste breitschultrige Schatten aus der Nacht auf. Es war Mork.
Legis wartete, bis auch alle anderen heran waren, drehte sich schweigend und mit übertriebener Hast herum und ging weiter. Skar folgte ihr dichtauf, und auch die Quorrl verzichteten jetzt darauf, weiter einen so großen Abstand einzuhalten. Sie bewegten sich nun unmittelbar an der Mauer entlang. Der schwarze Schlagschatten des gewaltigen Bollwerkes vertiefte die Finsternis noch mehr, obwohl Skar dies kaum noch für möglich gehalten hatte. Er stolperte mehr hinter der Errish her, als er ging, und wäre nicht der eisige Hauch Elays neben ihm gewesen, hätte er schon nach wenigen Schritten vollkommen die Orientierung verloren. Aber Legis bewegte sich so sicher, als wäre es am hellen Tag.
Der Weg schien kein Ende zu nehmen. Sie mußten mehr als eine Meile neben der Stadtmauer entlanggegangen sein, als Legis endlich stehenblieb und mit einer wortlosen Geste zu Boden deutete. Skar trat neben sie, kniete nieder und tastete suchend über den aufgeweichten Boden. Unter der fingerdicken Schicht aus Morast und klebrigem Lehm war Metall. Er grub weiter, fand einen wuchtigen, von Rost zerfressenen Ring und zog mit aller Macht daran. Aber seine Kraft reichte nicht aus. Der gußeiserne Deckel saß so fest, als wäre er mit dem Boden verwachsen. Erst als Mork ebenfalls niederkniete und die Kraft seiner gewaltigen Muskeln einsetzte, hatten sie Erfolg. Die Klappe schoß mit einem saugenden Geräusch und so rasch hoch, daß Skar um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte und hintenüber gefallen wäre. Er unterdrückte im letzten Moment einen Fluch, stand auf und suchte nach irgend etwas, an dem er sich die Hände abwischen konnte, fand aber nichts. Schließlich nahm er achselzuckend einen Zipfel seines Umhanges und rieb sich den gröbsten Schmutz von den Unterarmen. Trotz der Kälte und des feuchten Hauches, der vom Meer herüberwehte, trocknete der Lehm fast augenblicklich und wurde zu einem starren, kribbelnden Panzer auf seiner Haut.
Während Mork mit einer gewaltigen Kraftanstrengung den Verschluß so weit nach oben stemmte, daß er senkrecht stand und sicher in seinen rostigen Scharnieren hielt, ließ sich Legis bereits in die Hocke gleiten und kroch rückwärts an den sichtbar gewordenen Schacht heran. Es mußte eine Leiter oder eine Treppe geben, denn sie fand nach kurzem Suchen mit den Füßen festen Halt und verschwand rasch in der Tiefe. Skar zögerte sekundenlang, näherte sich dem Schacht dann auf die gleiche Weise wie sie und tastete blind mit dem Fuß nach Halt. Er spürte eine schmale, rostige Metallsprosse, verlagerte behutsam sein Körpergewicht und ließ sich herabsinken. Die Leiter knarrte hörbar unter seinem Gewicht, aber sie hielt.
Ein Schwall muffiger, abgestandener Luft, die nach Wasser und Kälte roch, schlug ihm entgegen, als er Legis in die Tiefe folgte. Er beeilte sich, obwohl seine Hände und Füße auf den glitschigen Metallsprossen der Leiter kaum Halt fanden, und war nach wenigen Augenblicken am Grunde des Schachts angekommen. Es war nicht so dunkel, wie es von oben den Anschein gehabt hatte. Von irgendwoher - die genaue Quelle war nicht auszumachen - kam Licht, und auf dem Wasser zu seinen Füßen spiegelten sich unzählige winzige Halbmonde aus zersplittertem Silber, so daß er seine Umgebung, wenn auch nicht genau, so doch wenigstens in vagen Umrissen wahrnehmen konnte. Er stand in einem halbrunden, kaum mannshohen Tunnel mit gemauerter Decke, die sich wenige Schritte vor und hinter ihm in Ungewisser Dunkelheit verlor. Vor ihm war ein schmaler, aus dem natürlichen Fels des Bodens herausgemeißelter Sims, auf dem Schimmel und grünliche Schmieralgen wuchsen, und der faulige Geruch, den Skar schon oben gespürt hatte, raubte ihm hier fast den Atem.
Skar trat hastig zur Seite, als die Leiter über ihm zu beben begann und Mork heruntergeklettert kam.
»Was ist das hier?« frage er leise. Die gekrümmte Decke fing seine Stimme auf und warf sie als verzerrtes, zischelndes Echo zurück. Der Gang mußte sehr lang sein.
»Die Flutkanäle«, antwortete Legis. Sie war ein paar Schritte in den Stollen zurückgewichen, um Platz für die nachdrängenden Quorrl zu machen. »Ein Teil der alten Anlage. Das Meer muß früher weitaus höher gestiegen sein als heute. Es gab ein ganzes System solcher unterirdischer Wasseradern. Sie wurden vor Jahrhunderten versiegelt. Diesen hier hat man vergessen. Nicht einmal die Margoi weiß von ihm.«
Skar hätte sich gerne nach weiteren Einzelheiten erkundigt, aber Legis drängte sich an ihm vorbei und verschwand mit gebeugtem Haupt in der Dunkelheit, ohne auf die letzten Nachzügler zu warten. Skar sah sich flüchtig nach Herger um, ehe er ihr folgte. Der Hehler war noch nicht herabgestiegen, aber Skar wußte, daß er folgen würde. Morks Gefährten würden dafür sorgen, daß niemand zurückblieb.
Diesmal war der Weg nicht mehr weit. Der Gang verlief kaum fünfzig Schritte geradeaus und machte dann einen scharfen Knick nach rechts, um sich zu einer flachen, aber weitläufigen Katakombe auszuweiten, die offensichtlich natürlichen Ursprungs war und nur hier und da künstlich erweitert oder zugemauert worden war. Bis auf den schmalen Sims, auf dem sie hierhergekommen waren und der sich wie ein Laufsteg rings um ihre Wände dahinzog, wurde sie zur Gänze von einem grauen, ölig schimmernden See eingenommen. Skar hielt vergeblich nach einem weiteren Ausgang Ausschau.
Legis deutete auf das schlammige Wasser. »Wir müssen dort hindurch. Du kannst schwimmen, hoffe ich.« Sie ließ sich auf die Knie sinken, suchte einen Moment mit den Händen im Wasser herum und richtete sich mit einem nur halb unterdrückten Seufzer wieder auf. In ihren Fingern glitzerte eine dünne, schlammverkrustete Kette.
»Nimm«, sagte sie.
Skar zögerte einen Moment, griff widerwillig nach der Kette und blickte stirnrunzelnd auf die graue Wasserfläche hinunter. Der Gestank ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Das Wasser war nicht überall so ruhig wie hier - weiter zur Mitte hin gab es Strudel und winzige, rasende Wirbel, und von Zeit zu Zeit trug die Strömung formlose dunkle Dinge mit sich.
»Es gibt... keinen anderen Weg?« fragte er.
Legis schüttelte den Kopf. »Wir sind direkt unter der Mauer«, sagte sie. »Der Abfluß führt direkt in die Drachenhöhle hinein - es ist nicht weit. Zehn, vielleicht fünfzehn Stöße. Die Kette weist dir den Weg.«
Skar starrte die Errish zweifelnd an.
»Wir sind auf diesem Weg aus der Stadt geflohen«, fuhr sie fort. »Zwei von uns sind ertrunken. Ihre Leichen sind noch dort unten. Für einen Mann wie dich ist es nicht sehr schwierig. Geh!« Ihre Stimme klang plötzlich ungeduldig und gehetzt, und Skars Mißtrauen erwachte erneut. Vielleicht war dies die Falle, auf die er die ganze Zeit unbewußt gewartet hatte, und der Stollen hatte nicht nach wenigen Metern einen Ausgang, sondern führte geradewegs in den Tod, so daß nur ihre Leichen auf der anderen Seite ins Meer gespült wurden.
Aber vielleicht war er auch einfach nur zu mißtrauisch.
»Nun mach schon«, sagte Mork hinter ihm. Skar dreht sich halb um und verlor auf dem glitschigen Untergrund um ein Haar das Gleichgewicht. Der schmale Streifen von Sternenlicht, der durch den offenstehenden Eingang in den Schacht gefallen war, war erloschen. Offensichtlich war nun auch der letzte Quorrl zu ihnen heruntergestiegen und hatte den gußeisernen Deckel hinter sich zugezogen. Hinter den Quorrl, halbwegs verdeckt von den breitschultrigen Gestalten der Schuppenkrieger, drängten sich Legis' Männer zusammen. Der Gang war fast zu schmal, um sie alle aufzunehmen. Skars Blick tastete über das Gesicht des Quorrl. Die stumpfgrauen Schuppen des Riesen schienen mit der Farbe der Felswände hinter ihm zu verschmelzen.