Sie verließen den Keller. Legis führte ihn durch ein verwirrendes Labyrinth asymmetrischer Stollen und schräger, in unmöglichen Winkeln aufsteigender Treppen; Räume, die dem Blick Schmerzen bereiteten, und Kammern, deren Wände in grauem Nichterkennen verschwammen. Einmal überquerten sie einen Hof, ein schmales, lichtdurchflutetes Zehn- oder Zwölfeck, dessen Boden auf bizarre Weise zu leben schien; und ein paarmal gebot ihm Legis mit hastigen Gesten, in einen Schatten zu huschen und zu schweigen, obwohl er keinen Laut gehört oder ein Zeichen von Leben gesehen hatte. Es war ein gespenstischer Weg. Skar spürte das fremde Leben, die Gegenwart von etwas unsagbar Fremdem, Feindseligem, das sich wie Modergeruch in den schwarzen Wänden eingenistet hatte. Sie waren länger als eine Stunde unterwegs, ohne auf einen einzigen Menschen zu treffen. Schließlich blieb Legis erneut stehen. »Wir sind da«, raunte sie. Skar sah sich neugierig um. Sie waren eine Treppe emporgestiegen und standen in einer winzigen, fensterlosen Kammer. In der gegenüberliegenden Wand war eine Tür.
»Die Kammer der Margoi liegt hinter jener Tür«, flüsterte Legis.
Skar runzelte die Stirn. Das alarmierende Gefühl in seinem Inneren wurde stärker. Es war zu leicht gewesen. Aber wenn es eine Falle war, dann waren sie längst hineingetappt.
»Gut«, raunte er. »Du bleibst hier. Wenn du Lärm hörst oder ich nicht zurückkomme, dann fliehst du.«
Legis schüttelte den Kopf. »Ich begleite dich«, erwiderte sie leise. »Ich will sie sehen.«
»Sei vernünftig«, seufzte Skar. »Ich habe kaum eine Chance, lebend hier herauszukommen. Warum willst du dich ...«
»Wenn du versagst, Skar«, fiel ihm Legis wispernd ins Wort, »dann hat keiner von uns eine Chance, noch lange zu leben. Und wenn sie wirklich so gefährlich ist, wie du glaubst, dann kannst du jede Hilfe gebrauchen, die sich dir bietet.«
Legis' Worte klangen logisch, und Skar widersprach nicht mehr. Es war auch nicht der wahre Grund, warum er allein gehen wollte. Es waren zu viele gestorben, zu viele Unschuldige umgebracht worden, als daß es jetzt noch auf ein Leben mehr oder weniger angekommen wäre. Aber dies hier war sein Kampf. Trotzdem ging er mit einem wortlosen Nicken an Legis vorbei, streckte die Hand nach dem Riege! aus und legte das Ohr an die Tür.
Alles, was er hörte, war das hämmernde Geräusch seines eigenen Herzens. Das Holz war wohl zu dick, um irgendwelche Laute durchzulassen. Er warf Legis einen warnenden Blick zu und schob den Riegel zur Seite. Die Tür schwang lautlos nach innen.
Skar blinzelte. Vor ihnen lag ein gewaltiger, domähnlicher Raum mit gewölbter Decke und schwarzem, spiegelndem Boden. Die Wände waren mit Teppichen und Tüchern verhängt worden, wohl um einen einigermaßen wohnlichen Eindruck zu vermitteln und die fremde Architektur der Stadt zu verbergen.
Ein Gefühl dumpfer Erregung ergriff von Skar Besitz. Er schob die Tür noch weiter auf, schlüpfte hindurch und duckte sich in einen Schatten. Legis huschte lautlos hinterher und kniete neben ihm nieder. Ihre Hand wies zur gegenüberliegenden Seite. Der Raum war beinahe leer. Es gab einen Tisch - eine gewaltige, zwanzig Meter lange Tafel aus schwarzem Stein -, zwei oder drei Dutzend Stühle, die sich um den Tisch herum gruppierten, und ein schmales Bett hinter einem halb durchsichtigen Vorhang in einer Nische.
Und einen Thron. Ein Gefühl eisiger Kälte durchströmte Skar beim Anblick des Möbelstückes. Ein Monstrum von Thron, passend zu diesem Monstrum von Stadt. Ein gewaltiges schwarzes Ding, halb verborgen im Schatten und auf bizarre Weise lebend, lauernd wie ein Raubtier.
Der Thron war nicht leer. Skar konnte nur einen dunklen Umriß erkennen; der Schatten einer Frau, schlank, reglos; das Gesicht war unter einer tief in die Stirn gezogenen Kapuze verborgen. Aber Skar spürte, daß sie ihn ansah.
»Tritt näher, Skar«, sagte Vela ruhig.
Legis zuckte wie unter einem Hieb zusammen. Ihre Hand fuhr unter ihren Umhang und erstarrte, als Skar sie warnend ansah. Die Gestalt auf dem Thron lachte leise. »Laß den Scanner dort, wo er ist, du kleine Närrin«, sagte sie. »Ich glaube nicht, daß du ihn schnell genug ziehen könntest. Aber wenn du es versuchen willst...« Velas Schatten bewegte sich. In ihrer Hand glitzerte etwas Kleines, Silbernes. Legis erstarrte.
»Ihr habt lange gebraucht«, fuhr Vela fort. »Ich habe schon vor Stunden mit euch gerechnet. Aber auf alte Freunde wartet man gerne.« Sie stand auf, kam mit gemessenen Schritten die Stufen des Thrones herunter und blieb hinter dem Tisch stehen. »Kommt näher. Es redet sich nicht gut auf so große Entfernung.«
Skar richtete sich ganz langsam auf. Seine Hand lag am Gürtel, nur wenige Zentimeter vom Griff des Tschekal entfernt. Aber er würde es nicht ziehen können.
Langsam, wie betäubt, näherte er sich dem Thron. Er wußte jetzt, warum es so leicht gewesen war. Sie hatte es gewußt. Vielleicht hatte sie ihnen sogar den Weg geebnet, Hindernisse beseitigt, an denen sie niemals vorbeigekommen wären. Sein Blick suchte den Velas, aber unter der Kapuze waren nur dunkle Schatten. Das Silberding in ihrer Hand glitzerte boshaft. Skar hatte die Waffe schon einmal bei ihr gesehen und von ihrer furchtbaren Wirkung gehört. Eine Waffe der Alten. Ein Ding, das Blitze schleuderte und Menschen in Sekunden zu Asche verbrennen konnte.
»Tu es nicht«, sagte Vela. »Ich weiß, wie schnell du bist. Vielleicht könntest du dein Schwert schleudern und mich töten, aber du würdest es nicht mehr erleben. Und du wüßtest deshalb nicht, ob du mich wirklich getötet oder nur verwundet hättest.«
Skar spürte wieder den alten Haß in sich aufsteigen, heißer und brennender als jemals zuvor. Er stand der Frau gegenüber, die sein Leben zerstört hatte, die seine Freunde getötet und sein Vertrauen ausgenutzt hatte, die schuld daran war, daß Del gestorben war.
Und er war hilflos.
Vela trat einen halben Schritt zurück, nahm die Kapuze herunter und kam um den Tisch herum. Ihre Bewegungen wirkten schwerfällig und müde, als müsse sie sich zu jedem Schritt zwingen, und ihre Gestalt war längst nicht mehr so schlank und jugendlich, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie war ...
Legis stieß ein ungläubiges Keuchen aus. »Laynanya!«
Vela kam näher. Ein triumphierendes Lächeln huschte über ihre Züge. Ihre linke Hand lag in einer unbewußten, schützenden Haltung auf ihrem Leib.
»Du Hexe!« keuchte Legis. »Du warst die ganze Zeit draußen bei uns. Du hast -«
»Du magst eine gute Errish sein, Kindchen«, fiel Vela ihr spöttisch ins Wort, »aber von Politik verstehst du leider nur sehr wenig. Das erste, was ich getan habe, war, eure lächerliche Rebellenarmee ins Leben zu rufen. Ich muß mich noch bedanken für deine Hilfe. Du warst -«
Aber Legis hörte schon nicht mehr zu. Sie schrie auf, duckte sich und riß die Hand unter dem Mantel hervor. In ihren Fingern glitzerte ein klobiges silbernes Etwas.
Skar warf sich instinktiv zur Seite und schloß die Augen. Ein weißes, helles, unerträglich helles Licht fraß sich durch seine zusammengepreßten Lider, hüllte Legis ein und verwandelte sie in eine brüllende Fackel. Skar stürzte, schrie vor Schmerz und Haß und schleuderte sein Tschekal. Die Waffe flog in einer geraden, blitzschnellen Bahn auf die Errish zu.
Aber sie erreichte ihr Ziel nicht. Eine Handbreit vor Velas Brust prallte sie gegen ein unsichtbares Hindernis, flog, wie von einem Hieb getroffen, zur Seite und landete klirrend auf dem Boden. Die schlanke Klinge aus Sternenstahl glühte.