»Ich weiß.« Skar nickte, nahm sein mittlerweile geleertes Glas und drehte es nachdenklich in den Fingern. Der geschliffene Kristall zerlegte seinerseits das Licht wieder in einzelne Farben und ließ die unzähligen Facetten in allen Nuancen des Regenbogens aufflammen.
»Und gerade darum bin ich fast geneigt, dir zu glauben«, sagte Andred. »Ich wüßte keinen Grund, warum sich ein Mann wie du eine so haarsträubende Geschichte ausdenken sollte.« Er lachte, aber es war eher ein Laut der Unsicherheit. »Und du glaubst, diese - wie hieß sie? Vela?«
Skar nickte.
»Du glaubst, diese Vela ist bereits in Elay? In weniger als vier Monaten vom Quellgebiet des Besh hierher?« Der Zweifel in Andreds Stimme war unüberhörbar, aber wie das Lachen zuvor schien auch er gekünstelt und nur dem Zweck dienend, die Furcht, die Skars Erzählung in ihm wachgerufen hatte, zu dämpfen. »Und in dieser Zeit soll sie auch noch die Macht in Elay übernommen haben?«
»Du hast nicht erlebt, wozu diese Frau fähig ist«, murmelte Skar. »Sie spielt mit Menschen wie mit Puppen. Männer wie Gondered haben ihr nichts entgegenzusetzen. Und dieser verdammte Stein gibt ihr zusätzlich noch die Möglichkeit, alles zu erreichen.« Er seufzte, schüttelte den Kopf und goß sich Wein ein. »Ich bin auf dein Schiff gekommen, weil ich dachte, so noch rechtzeitig in Elay sein zu können. Aber es sieht so aus, als hätte ich mich getäuscht. Sie war vor mir hier, und sie weiß, daß ich sie verfolgen werde. Wahrscheinlich hat sie sämtliche Pässe über die Berge sperren lassen.«
»Und die Häfen auch«, fügte Andred finster hinzu.
Skar nickte. »Die Häfen auch. Deshalb mein Vorschlag, vorher an Land zu gehen. Gib mir ein Boot oder meinetwegen nur ein Holzstück, an dem ich mich festhalten und an Land schwimmen kann ...«
Andred unterbrach ihn mit einer resignierenden Geste. »Das ist unmöglich, Skar. Es sind acht Meilen bis zur Küste, und selbst wenn du den Haien entgehen solltest, würde die Brandung dein Boot an den Klippen zerschmettern. Was glaubst du, warum wir so weit von der Küste entfernt segeln. Der Hafen von Anchor ist die einzige Stelle auf hundert Meilen, an der ein Schiff anlegen kann. Du wirst schon an Bord bleiben müssen, bis wir den Hafen erreichen. Wie bist du über die Berge gekommen?«
Skar hatte für einen Moment Mühe, dem plötzlichen Gedankensprung zu folgen. Er hatte seine Erzählung dort beendet, wo sie die Leichen von Velas Männern und des Drachen gefunden hatten.
»Gar nicht«, sagte er nach kurzem Zögern. »Gowenna hatte recht - die Pässe waren verschneit, und ich wäre beinahe umgekommen, als ich versuchte, sie trotzdem zu überwinden. Ich kämpfte mich zurück, bis ich den Besh erreichte und einen Flußschiffer fand, bei dem ich eine Passage erstehen konnte. Für mein letztes Geld«, fügte er grinsend hinzu. »Deshalb mußte ich dir auch die Fahrt hierher abbetteln.«
»Was deinem Stolz als Satai natürlich einen ungeheuren Abbruch getan hat«, fügte Andred in einer Mischung aus Ernst und gutmütigem Spott hinzu.
Skar schüttelte den Kopf. »Nein, Andred. Mein Stolz ist auf den Ebenen von Tuan erfroren. Ich ... ich glaube nicht, daß ich wirklich noch Satai bin.«
Auf Andreds Gesicht erschien ein überraschter Ausdruck. »Das klingt sehr verbittert, mein Freund«, sagte er. »Glaubst du wirklich, daß es sinnvoll ist, sein Leben wegzuwerfen - nur um Rache zu üben?«
Skar sah den Freisegler an, ohne zu antworten. Es hätte tausend Dinge geben können, die er erwidern konnte, so wie Andred tausend Antworten darauf finden konnte. Er hatte jede einzelne durchdacht, hundertmal, auf dem Weg den Besh herab und dann hier an Bord, und vielleicht hatte er sich geweigert, wirklich jemals darüber nachzudenken, weil er Angst hatte, eingestehen zu müssen, daß er sich irrte.
»Vielleicht nicht«, sagte er nach einer Weile.
»Aber du willst nicht darüber reden, ich verstehe«, murmelte Andred. »Und es geht mich wohl auch nichts an. Suchen wir lieber nach einer Lösung.«
»Wir?«
Andred nickte. »Du kannst nicht von Bord, Skar«, sagte er geduldig. »Sieh das endlich ein. Wir sind Partner - ob es dir paßt oder nicht.« Er hob sein Glas und prostete Skar mit einer übertriebenen Geste zu. »Wenn dein Verdacht stimmt, dann wird Gondered uns in Anchor erwarten.«
»Du wirst Ärger bekommen«, prophezeite Skar düster.
Andred winkte gelangweilt ab. »Ich lebe vom Ärger, Skar«, sagte er. »Aber ich glaube, du bist ein Mann, der dringend ein paar gute Freunde braucht. Nicht nur hier an Bord.« Er überlegte einen Moment, starrte an Skar vorbei zu einem imaginären Punkt irgendwo auf halber Strecke zwischen seinem Schreibtisch und der Wand und faltete die Hände unter dem Kinn. »Ich habe Bekannte in Anchor«, murmelte er, mehr zu sich als zu Skar gewandt. »Aber ich weiß nicht, ob ich ihnen trauen kann. Wenn diese Errish tatsächlich schon das ganze Land unterwandert hat...«
»Das ganze Land sicher nicht«, sagte Skar. »Auch sie kann nicht zaubern - jedenfalls nicht so. Wäre ich sie, dann hätte ich genau das getan, was sie getan hat - die Schlüsselpositionen mit meinen Leuten besetzt, die Grenzen geschlossen und dem Volk auf der Straße etwas gegeben, woran es sich begeistern kann.«
»Du meinst diesen Feldzug gegen die Quorrl.«
Skar nickte. »Auch. Die erste Lektion jedes Möchtegern-Diktators«, fügte er lächelnd hinzu. »Wirf dem Volk einen Köder hin und gib ihm etwas zu tun, damit es nicht zum Nachdenken kommt.«
Andred sog nachdenklich die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du wirst nach Elay müssen. Ein weiter Weg für einen einzelnen Mann. Vielleicht wäre es besser, du würdest warten, bis deine Freunde aus Cosh nachkommen.«
Skar schüttelte heftig den Kopf. »Dann ist es zu spät«, behauptete er. »Es wäre schon jetzt zu spät, fürchte ich. Vela ist vorbereitet, und ein direkter Angriff mit Waffengewalt ist so ungefähr das letzte, womit ihr beizukommen wäre.«
Andred nickte trübsinnig, seufzte erneut und stand auf. »Dieses Was-wäre-wenn-Spielchen hilft weder dir noch mir weiter«, sagte er bestimmt. »Zuerst einmal bringen wir dich von Bord. Und dann sehen wir weiter.« Er ging zur Tür, öffnete sie und machte eine einladende Handbewegung. »Geh in deine Kabine und ruh dich noch ein paar Stunden aus«, sagte er. »Ich lasse dich wecken, sobald Anchor in Sicht ist. Mittlerweile bereite ich die Ladepapiere und das Zolldokument vor.« Er grinste. »Schließlich wollen wir Gondered keinen Anlaß geben, das Schiff noch einmal zu durchsuchen, oder?«
2.
Die Sonne hatte den Großteil ihrer Wanderung hinter sich gebracht und berührte schon fast wieder den Horizont, als die Hafeneinfahrt von Anchor vor ihnen auftauchte.
Skar stand am Bug des Schiffes; seit Stunden. Er hatte versucht, noch einmal mit Andred zu reden, aber der Freisegler war zu beschäftigt gewesen. Und wahrscheinlich hatte er auch nicht mit Skar sprechen wollen; eine Reaktion, die dieser durchaus verstand und respektierte, nach allem, was geschehen war. Wenn auch nur die Hälfte seiner Befürchtungen zutraf, dann würde Andred in Anchor mehr als nur Ärger bekommen, wie er es ausgedrückt hatte.
Das Schiff rollte arhythmisch von einer Seite auf die andere. Der Takt der Ruder war langsamer geworden; die Männer auf den harten Ruderbänken tief im Leib der SHANTAR mußten bis zum Umfallen erschöpft sein. Und seit sie Kurs vom offenen Meer weg und fast im rechten Winkel zur Küste hin eingeschlagen hatten, hatten die wechselnden Strömungen, von denen Andred sprach, das Schiff ergriffen und wie einen Spielball hin und her geworfen. Skars Blick glitt über die schäumenden Wellen, die die Meeresoberfläche rechts und links des Freiseglers bedeckten. Andred hatte keineswegs übertrieben - hätte er es wirklich gewagt, sich mit einem Boot oder gar schwimmend der Küste zu nähern, dann wäre er wie ein Stück Treibholz zerschmettert worden. Selbst die SHANTAR hatte Mühe, sich dem Sog der heimtückischen Strömungen und Strudel entgegenzustemmen. Ein kleineres Boot wäre in diesem Hexenkessel rettungslos verloren gewesen. Eine neue Woge traf die SHANTAR und brach sich brüllend an den Achteraufbauten. Der Gischt schoß schäumend über Deck und fast bis zur Spitze des Focksegels hinauf, und der Stoß, der den Rumpf des Schiffes erbeben ließ, war so heftig, daß Skar sich unwillkürlich fester an die Reling klammerte. Ein Schauer eisigen Sprühregens durchnäßte seinen Umhang.