Der Abend wurde denn auch entsprechend wunderbar. Vor dem Hause meines Bekannten blieb ich einen Augenblick stehen und sah zu den Fenstern empor. Da wohnt dieser Mann, dachte ich, und tut Jahr um Jahr seine Arbeit weiter, liest und kommentiert Texte, sucht nach Zusammenhängen zwischen vorderasiatischen und indischen Mythologien und ist vergnügt dabei, denn er glaubt an den Wert seines Tuns, er glaubt an die Wissenschaft, deren Diener er ist, er glaubt an den Wert des bloßen Wissens, des Aufspeicherns, denn er glaubt an den Fortschritt, an die Entwicklung. Er hat den Krieg nicht miterlebt, nicht die Erschütterung der bisherigen Denkgrundlagen durch Einstein (das, denkt er, geht nur die Mathematiker an), er sieht nichts davon, wie rings um ihn der nächste Krieg vorbereitet wird, er hält Juden und Kommunisten für hassenswert, er ist ein gutes, gedankenloses, vergnügtes, sich wichtig nehmendes Kind, er ist sehr zu beneiden. Ich gab mir einen Ruck und trat ein, wurde vom weißbeschürzten Dienstmädchen empfangen, aus irgendeiner Ahnung mir genau die Stelle merkend, wohin sie meinen Hut und Mantel brachte, ich wurde in ein warmes helles Zimmer geführt und zu warten gebeten, und statt ein Gebet zu sprechen oder ein wenig zu schlafen, folgte ich einem spielerischen Trieb und nahm den nächsten Gegenstand in die Hände, der sich mir anbot. Es war ein kleines gerahmtes Bild, das auf dem runden Tisch seinen Standort hatte, durch eine steife Kartonklappe zum Schrägstehen gezwungen. Es war eine Radierung und stellte den Dichter Goethe dar, einen charaktervollen, genial frisierten Greis mit schön modelliertem Gesicht, in welchem weder das berühmte Feuerauge fehlte noch der Zug von leicht hofmännisch übertünchter Einsamkeit und Tragik, auf welche der Künstler ganz besondere Mühe verwandt hatte. Es war ihm gelungen, diesem dämonischen Alten, seiner Tiefe unbeschadet, einen etwas professoralen oder auch schauspielerischen Zug von Beherrschtheit und Biederkeit mitzugeben und ihn, alles in allem, zu einem wahrhaft schönen alten Herrn zu gestalten, welcher jedem Bürgerhause zum Schmuck gereichen konnte. Vermutlich war dieses Bild nicht dümmer als alle Bilder dieser Art, alle diese von fleißigen Kunsthandwerkern hergestellten holden Heilande, Apostel, Heroen, Geisteshelden und Staatsmänner, vielleicht wirkte es nur durch eine gewisse virtuose Gekonntheit so aufreizend auf mich; sei dem wie ihm wolle, auf jeden Fall schrie mir, der ich schon hinlänglich gereizt und geladen war, diese eitle und selbstgefällige Darstellung des alten Goethe sogleich als ein fataler Mißklang entgegen und zeigte mir, daß ich hier nicht am richtigen Ort sei. Hier waren schön stilisierte Altmeister und nationale Größen zu Hause, keine Steppenwölfe.
Wäre jetzt der Hausherr eingetreten, so wäre es mir vielleicht geglückt, unter annehmbaren Vorwänden meinen Rückzug auszuführen. Es kam jedoch seine Frau herein, und ich ergab mich ins Geschick, obwohl ich Unheil ahnte. Wir begrüßten uns, und dem ersten Mißklang folgten lauter neue. Die Frau beglückwünschte mich zu meinem guten Aussehen, während mir nur allzu bewußt war, wie sehr ich in den Jahren seit unsrer letzten Begegnung gealtert war; schon bei ihrem Händedruck hatte der Schmerz in den Gichtfingern mich fatal daran erinnert. Ja, und dann fragte sie, wie es denn meiner lieben Frau gehe, und ich mußte ihr sagen, daß meine Frau mich verlassen habe und unsre Ehe geschieden sei. Wir waren froh, als der Professor eintrat. Auch er begrüßte mich herzlich, und die Schiefheit und Komik der Situation fand alsbald den denkbar hübschesten Ausdruck. Er hielt eine Zeitung in Händen, das Blatt, auf das er abonniert war, eine Zeitung der Militaristen- und Kriegshetzepartei, und nachdem er mir die Hand gegeben hatte, deutete er auf das Blatt und erzählte, darin stehe etwas über einen Namensvetter von mir, einen Publizisten Haller, der ein übler Kerl und vaterlandsloser Geselle sein müsse, er habe sich über den Kaiser lustig gemacht und sich zu der Ansicht bekannt, daß sein Vaterland am Entstehen des Krieges um nichts minder schuldig sei als die feindlichen Länder. Was das für ein Kerl sein müsse! Na, hier kriege der Bursche es gesagt, die Redaktion habe diesen Schädling recht schneidig erledigt und an den Pranger gestellt. Wir gingen jedoch zu anderem über, als er sah, daß dies Thema mich nicht interessierte, und die beiden dachten wirklich nicht von ferne an die Möglichkeit, daß jenes Scheusal vor ihnen sitzen könne, und doch war es so, das Scheusal war ich selbst. Na, wozu Lärm machen und die Leute beunruhigen! Ich lachte in mich hinein, gab aber jetzt die Hoffnung verloren, an diesem Abend noch etwas Angenehmes zu erleben. Ich habe den Augenblick deutlich in Erinnerung. In diesem Augenblick nämlich, während der Professor vom Vaterlandsverräter Haller sprach, verdichtete sich in mir das schlimme Gefühl von Depression und Verzweiflung, das sich seit der Begräbnisszene in mir angehäuft und immer verstärkt hatte, zu einem wüsten Druck, zu einer körperlich (im Unterleib) fühlbaren Not, einem würgend angstvollen Schicksalsgefühl. Es lag etwas gegen mich auf der Lauer, fühlte ich, es beschlich mich von hinten eine Gefahr. Zum Glück kam jetzt die Meldung, daß das Essen bereitstehe. Wir gingen ins Speisezimmer, und während ich mich bemühte, immer wieder irgend etwas ganz Harmloses zu sagen oder zu fragen, aß ich mehr, als ich gewohnt war, und fühlte mich von Augenblick zu Augenblick jämmerlicher. Mein Gott, dachte ich beständig, warum strengen wir uns denn so an? Deutlich fühlte ich, daß auch meine Gastgeber sich gar nicht wohl fühlten und daß ihre Munterkeit ihnen Mühe machte, sei es nun, daß ich so lähmend wirkte, sei es, daß sonst eine Verstimmung im Hause war. Sie fragten mich nach lauter Dingen, auf welche eine aufrichtige Antwort nicht zu geben war, bald hatte ich mich richtig festgelogen und kämpfte mit dem Ekel bei jedem Wort. Schließlich begann ich, um abzulenken, von dem Begräbnis zu erzählen, dessen Zuschauer ich heute gewesen war. Aber ich traf den Ton nicht, meine Anläufe zum Humor wirkten verstimmend, wir kamen mehr und mehr auseinander, in mir lachte der Steppenwolf mit grinsendem Gebiß, und beim Nachtisch waren wir alle drei recht schweigsam.
Wir kehrten in jenes erste Zimmer zurück, um Kaffee und Schnaps zu trinken, vielleicht würde uns das ein wenig aufhelfen. Aber da fiel der Dichterfürst mir wieder ins Auge, obwohl er beiseite auf eine Kommode gestellt worden war. Ich kam nicht los von ihm, und nicht ohne warnende Stimmen in mir zu vernehmen, nahm ich ihn wieder in die Hand und begann mich mit ihm auseinanderzusetzen. Ich war wie besessen von dem Gefühl, daß die Situation unerträglich sei, daß es mir jetzt gelingen müsse, meine Wirte entweder zu erwärmen, mitzureißen und auf meinen Ton zu stimmen oder aber vollends eine Explosion herbeizuführen.
»Hoffen wir«, sagte ich, »daß Goethe nicht wirklich so ausgesehen hat! Diese Eitelkeit und edle Pose, diese mit den verehrten Anwesenden liebäugelnde Würde und unter der männlichen Oberfläche diese Welt von holdester Sentimentalität! Man kann ja gewiß viel gegen ihn haben, auch ich habe oft viel gegen den alten Wichtigtuer, aber ihn so darzustellen, nein, das geht doch zu weit.«
Die Hausfrau schenkte den Kaffe vollends ein, mit einem tief leidenden Gesicht, dann eilte sie aus dem Zimmer, und ihr Mann eröffnete mir, halb verlegen, halb vorwurfsvoll, dies Goethebild gehöre seiner Frau und werde von ihr ganz besonders geliebt. »Und selbst wenn Sie objektiv recht hatten, was ich übrigens bestreite, durften Sie sich doch nicht so kraß ausdrücken.«
»Da haben Sie recht« gab ich zu. »Es ist leider eine Gewohnheit, ein Laster von mir, mich immer für den möglichst krassen Ausdruck zu entscheiden, was übrigens Goethe in seinen guten Stunden auch getan hat. Dieser süße spießige Salongoethe freilich hätte nie einen krassen, einen echten, unmittelbaren Ausdruck gebraucht. Ich bitte Sie und Ihre Frau sehr um Entschuldigung – sagen Sie ihr bitte, daß ich Schizophrene bin. Und zugleich bitte ich um Erlaubnis, mich empfehlen zu dürfen.
Der betretene Herr erhob zwar noch einige Einwände, kam auch wieder darauf zu sprechen, wie schön und anregend unsre einstigen Unterredungen gewesen seien, ja, daß meine Vermutungen über Mithras und Krischna ihm damals tiefen Eindruck gemacht hätten und daß er gehofft habe, auch heute wieder… und so weiter. Ich dankte ihm und sagte, daß dies sehr freundliche Worte seien, daß aber leider mein Interesse für Krischna ebenso wie meine Lust zu wissenschaftlichen Gesprächen ganz und gar geschwunden sei, daß ich ihn heute mehrmals angelogen habe, so sei ich zum Beispiel nicht seit einigen Tagen hier in der Stadt, sondern seit vielen Monaten, lebe aber für mich allein und sei nicht mehr für den Verkehr in besseren Häusern geeignet, denn erstens sei ich stets sehr schlechter Laune und mit Gicht behaftet und zweitens meistens betrunken. Ferner, um reinen Tisch zu schaffen und wenigstens nicht als Lügner wegzugehen, müsse ich dem verehrten Herrn erklären, daß er mich heute recht sehr beleidigt habe. Er habe sich jene dumme, stiernackige, eines beschäftigungslosen Offiziers, nicht aber eines Gelehrten würdige Stellung eines reaktionären Blattes zu Hallers Meinungen zu eigen gemacht. Dieser »Bursche« und vaterlandslose Geselle Haller aber sei ich selber, und es stünde besser um unser Land und um die Welt, wenn wenigstens die paar denkfähigen Menschen sich zur Vernunft und Friedensliebe bekennten, statt blind und besessen auf einen neuen Krieg loszusteuern. So, und damit Gott befohlen.
Und so erhob ich mich, nahm Abschied von Goethe und dem Professor, riß draußen meine Sachen vom Kleiderhaken und lief davon. Laut heulte in meiner Seele der schadenfrohe Wolf, ein gewaltiges Theater fand zwischen den beiden Harrys statt. Denn, das war mir sofort klar, diese unerquickliche Abendstunde hatte für mich viel mehr Bedeutung als für den indignierten Professor; für ihn war sie eine Enttäuschung und ein kleines Ärgernis, für mich aber war sie ein letztes Mißlingen und Davonlaufen, war mein Abschied von der bürgerlichen, der moralischen, der gelehrten Welt, war ein vollkommener Sieg des Steppenwolfes. Und es war ein Abschiednehmen als Flüchtling und Besiegter, eine Bankrotterklärung vor mir selber, ein Abschied ohne Trost, ohne Humor. Ich hatte von meiner ehemaligen Welt und Heimat, von Bürgerlichkeit, Sitte, Gelehrsamkeit nicht anders Abschied genommen als der Mann mit dem Magengeschwür vom Schweinebraten. Wütend lief ich unter den Laternen hin, wütend und todestraurig. Was war das für ein trostloser, beschämender, böser Tag gewesen, vom Morgen bis zum Abend, vom Friedhof bis zur Szene beim Professor! Wozu? Warum? Hatte es einen Sinn, noch mehr solche Tage auf sich zu laden, noch mehr solche Suppen auszufressen? Nein! Und so würde ich denn heut nacht der Komödie ein Ende machen. Geh heim, Harry, und schneide dir die Kehle durch! Lang genug hast du damit gewartet.