»Ach«, gestand ich, »ich weiß es selber nicht mehr. Ich habe studiert, Musik gemacht, Bücher gelesen, Bücher geschrieben, Reisen gemacht –«
»Merkwürdige Ansichten, die du vom Leben hast! Du hast also immer schwierige und komplizierte Sachen getrieben, und die einfachen hast du gar nicht gelernt? Keine Zeit? Keine Lust? Na meinetwegen, Gott sei Dank bin ich nicht deine Mutter. Aber dann so tun, als hättest du das Leben durchprobiert und nichts daran gefunden, nein, das geht nicht!«
»Schelten Sie nicht!« bat ich. »Ich weiß schon, daß ich verrückt bin.«
»Ach was, sing mir keine Lieder vor! Du bist keineswegs verrückt, Herr Professor, du bist mir sogar viel zu wenig verrückt! Du bist so auf eine dumme Art gescheit, scheint mir, richtig wie ein Professor. Komm, iß noch ein Brötchen. Nachher erzählst du weiter.«
Sie besorgte mir nochmals ein Brötchen, tat etwas Salz daran, strich ein wenig Senf darauf, schnitt ein Stückchen für sich selber ab und hieß mich essen. Ich aß. Ich hätte alles getan, was sie mich geheißen hätte, alles außer Tanzen. Es tat ungeheuer wohl, jemand zu gehorchen, neben jemand zu sitzen, der einen ausfragte, einem befahl, einen ausschalt. Hätte der Professor oder seine Frau das vor ein paar Stunden getan, es wäre mir viel erspart geblieben. Aber nein, es war gut so, es wäre mir viel entgangen!
»Wie heißt du eigentlich?« fragte sie plötzlich. »Harry.«
»Harry? Ein Bubenname! Und ein Bub bist du auch, Harry, trotz den paar grauen Flecken im Haar. Du bist ein Bub, und du solltest jemand haben, der ein wenig nach dir schaut. Vom Tanzen sage ich nichts mehr. Aber wie du frisiert bist! Hast du denn keine Frau, keinen Schatz?«
»Ich habe keine Frau mehr, wir sind geschieden. Einen Schatz habe ich schon, aber er wohnt nicht hier, ich sehe ihn nur selten, wir kommen nicht sehr gut miteinander aus.«
Sie pfiff leise durch die Zähne.
»Du scheinst ein recht schwieriger Herr zu sein, daß keine bei dir bleibt. Aber sag jetzt: was war denn heut abend Besonderes los, daß du so vergeistert in der Welt herumgelaufen bist? Krach gehabt? Geld verspielt?«
Das war nun schwierig zu sagen.
»Sehen Sie«, fing ich an, »es war eigentlich eine Kleinigkeit. Ich war eingeladen, bei einem Professor – ich selber bin aber keiner –, und eigentlich hätte ich gar nicht hingehen sollen, ich bin es nicht mehr gewohnt, so bei Leuten zu sitzen und zu schwatzen, ich habe es verlernt. Ich ging auch schon in das Haus hinein mit dem Gefühl, es werde nicht gut gehen – als ich meinen Hut aufhängte, kam mir schon der Gedanke, ich würde ihn vielleicht schon bald wieder brauchen. Ja, und bei diesem Professor also, da stand auf dem Tisch so ein Bild herum, ein dummes Bild, das mich ärgerte …«
»Was für ein Bild? Warum ärgerte?« unterbrach sie mich.
»Ja, es war ein Bild, das den Goethe vorstellte – wissen Sie, den Dichter Goethe. Er war aber darauf nicht so, wie er wirklich ausgesehen hat – das weiß man nämlich überhaupt nicht genau, er ist seit hundert Jahren tot. Sondern irgendein moderner Maler hatte den Goethe da so zurechtfrisiert, wie er sich ihn vorstellt, und dieses Bild ärgerte mich und war mir scheußlich zuwider – ich weiß nicht, ob Sie das verstehen?«
»Kann ich sehr gut verstehen, sei ohne Sorge. Weiter!«
»Schon vorher war ich mit dem Professor uneins; er ist, wie die Professoren fast alle, ein großer Patriot und hat während des Krieges brav mitgeholfen, das Volk anzulügen – im besten Glauben natürlich. Ich aber bin ein Kriegsgegner. Na, einerlei. Also weiter. Ich hätte ja das Bild gar nicht anzusehen brauchen …«
»Hättest du allerdings nicht.«
»Aber erstens tat es mir wegen Goethe leid, der ist mir nämlich sehr, sehr lieb, und dann war es so, daß ich dachte – nun, ich dachte oder fühlte etwa so: da sitze ich nun bei Leuten, die ich für meinesgleichen ansehe und von denen ich dachte, auch sie werden den Goethe ähnlich wie ich lieben und sich etwa ein ähnliches Bild von ihm machen wie ich, und nun haben sie da dieses geschmacklose, verfälschte, versüßte Bild stehen und finden es herrlich und merken gar nicht, daß der Geist dieses Bildes genau das Gegenteil von Goethes Geist ist. Sie finden das Bild wunderbar, und meinetwegen können sie das ja auch – aber für mich ist dann auf einmal alles Vertrauen zu diesen Leuten, alle Freundschaft für sie und alles Gefühl von Verwandtschaft und Zusammengehören aus und vorbei. Übrigens war die Freundschaft ohnehin nicht groß. Also da wurde ich wütend und traurig und sah, daß ich ganz allein war und niemand mich verstand. Begreifen Sie?«
»Leicht zu begreifen, Harry. Und dann? Hast du ihnen das Bild an die Köpfe gehauen?«
»Nein, ich habe geschimpft und bin fortgelaufen, ich wollte nach Hause, aber –«
»Aber da wäre keine Mama gewesen, um den dummen Buben zu trösten oder auszuschelten. Nun ja, Harry, du tust mir beinahe leid, du bist ein Kindskopf ohnegleichen.«
Gewiß, das sah ich ein, wie mir schien. Sie gab mir ein Glas Wein zu trinken. Sie war in der Tat wie eine Mama mit mir. Zwischenein aber sah ich für Augenblicke, wie schön und jung sie war.
»Also«, fing sie dann wieder an, »also der Goethe ist vor hundert Jahren gestorben, und der Harry hat ihn sehr gern, und er macht sich eine wunderbare Vorstellung von ihm, wie er ausgesehen haben mag, und dazu hat Harry auch das Recht, nicht? Aber der Maler, der auch für den Goethe schwärmt und sich ein Bild von ihm macht, der hat kein Recht dazu, und der Professor auch nicht, und überhaupt niemand, denn das paßt Harry nicht, er verträgt das nicht, er muß dann schimpfen und davonlaufen! Wenn er klug wäre, so würde er über den Maler und den Professor einfach lachen. Wenn er verrückt wäre, würde er ihnen ihren Goethe ins Gesicht schmeißen. Da er aber bloß ein kleiner Bub ist, läuft er heim und will sich aufhängen. – Ich habe deine Geschichte gut verstanden, Harry. Es ist eine komische Geschichte. Sie macht mich lachen. Halt, trink nicht so rasch! Burgunder trinkt man langsam, er macht sonst zu heiß. Aber dir muß man alles sagen, kleiner Bub.« Ihr Blick war streng und mahnend wie der einer sechzigjährigen Gouvernante.
»O ja«, bat ich zufrieden, »sagen Sie mir nur alles.«
»Was soll ich dir sagen?«
»Alles, was Sie mögen.«
»Gut, ich sage dir etwas. Seit einer Stunde hörst du, daß ich du zu dir sage, und du sagst immer noch Sie zu mir. Immer Lateinisch und Griechisch, immer möglichst kompliziert! Wenn ein Mädchen du zu dir sagt und sie dir nicht zuwider ist, dann sagst du auch du zu ihr. So, da hast du etwas zugelernt. Und zweitens: seit einer halben Stunde weiß ich, daß du Harry heißt. Ich weiß es, weil ich dich gefragt habe. Du aber willst nicht wissen, wie ich heiße.«
»O doch, sehr gern will ich es wissen.«
»Zu spät, Kleiner! Wenn wir uns einmal wiedersehen, kannst du wieder fragen. Heut sag ich's nicht mehr. So, und jetzt will ich tanzen.«
Da sie Miene machte, aufzustehen, sank plötzlich meine Stimmung tief, ich bekam Angst, sie würde gehen und mich allein lassen, und dann würde alles wieder, wie es vorher gewesen war. Wie ein vorübergehend verschwundener Zahnschmerz plötzlich wieder da ist und wie Feuer brennt, so war in einem Augenblick die Angst und das Grauen wieder da. O Gott, hatte ich denn vergessen können, was auf mich wartete? War denn etwas anders geworden?
»Halt«, rief ich flehend, »gehen Sie – geh nicht fort! Natürlich kannst du tanzen, soviel zu willst, aber bleib nicht lange fort, komm wieder, komm wieder!«
Lachend stand sie auf. Ich hatte sie mir stehend größer gedacht, sie war schlank, aber nicht groß. Wieder erinnerte sie mich an jemand – an wen? Es war nicht zu finden.
»Du kommst wieder?«
»Ich komme wieder, aber es kann eine Weile dauern, eine halbe Stunde oder auch eine ganze. Ich will dir was sagen: mach die Augen zu und schlaf ein wenig; das ist, was du nötig hast.«
Ich machte ihr Platz, und sie ging; ihr Röckchen streifte meine Knie, im Gehen blickte sie in einen runden, winzig kleinen Taschenspiegel, zog die Augenbrauen hoch, wischte mit einem winzigen Puderquästchen über ihr Kinn und verschwand im Tanzsaal. Ich blickte um mich: fremde Gesichter, rauchende Männer, verschüttetes Bier auf dem Marmortisch, Geschrei und Gekreische überall, nebenan die Tanzmusik. Ich solle schlafen, hatte sie gesagt. Ach, gutes Kind, du hast eine Ahnung von meinem Schlaf, der scheuer ist als ein Wiesel! In diesem Jahrmarkt schlafen, am Tisch sitzend, zwischen den klappernden Bierkrügen! Ich nippte am Wein, zog eine Zigarre aus der Tasche, sah mich nach Streichhölzern um, aber eigentlich war mir nichts am Rauchen gelegen, ich legte die Zigarre vor mir auf den Tisch. »Mach die Augen zu«, hatte sie zu mir gesagt. Weiß Gott, woher das Mädchen diese Stimme hatte, diese etwas tiefe, gute Stimme, eine mütterliche Stimme. Es war gut, dieser Stimme zu gehorchen, ich hatte es erfahren. Gehorsam machte ich die Augen zu, lehnte den Kopf an die Wand, hörte hundert heftige Geräusche mich umtosen, lächelte über die Idee, an diesem Ort zu schlafen, beschloß, an die Saaltür zu gehen und einen Blick in den Tanzsaal zu erhäschen – ich mußte doch mein schönes Mädchen tanzen sehen –, bewegte unterm Stuhl die Füße, fühlte erst jetzt, wie unendlich müde ich vom stundenlangen Umherirren war, und blieb sitzen. Und da schlief ich schon, dem mütterlichen Befehl getreu, schlief gierig und dankbar und träumte, träumte klarer und hübscher, als ich seit langem geträumt hatte. Mir träumte:
Ich saß und wartete in einem altmodischen Vorzimmer. Zuerst wußte ich nur, daß ich bei einer Exzellenz angemeldet sei, dann fiel mir ein, daß es ja Herr von Goethe sei, von dem ich empfangen werden sollte. Leider war ich nicht ganz als Privatmann hier, sondern als Korrespondent einer Zeitschrift, das störte mich sehr, und ich konnte nicht begreifen, welcher Teufel mich in diese Situation hineingeritten habe. Außerdem beunruhigte mich ein Skorpion, der soeben noch sichtbar gewesen war und an meinem Bein hochzuklettern versucht hatte. Ich hatte mich zwar gegen das kleine schwarze Kriechtier gewehrt und geschüttelt, wußte aber nicht, wo es jetzt stecke, und wagte nirgends hinzugreifen.
Auch war ich nicht ganz sicher, ob man mich nicht aus Versehen, statt bei Goethe, bei Matthisson angemeldet habe, den ich aber im Traum mit Bürger verwechselte, denn ich schrieb ihm die Gedichte an Molly zu. Übrigens wäre mir ein Zusammentreffen mit Molly höchst erwünscht gewesen, ich dachte sie mir wundervoll, weich, musikalisch, abendlich. Wäre ich nur nicht im Auftrag jener verwünschten Redaktion dagesessen! Mein Unmut hierüber stieg mehr und mehr und übertrug sich allmählich auch auf Goethe, gegen den ich nun mit einemmal alle möglichen Bedenken und Vorwürfe hatte. Das konnte eine schöne Audienz geben! Der Skorpion aber, wenn auch gefährlich und vielleicht in meiner nächsten Nähe versteckt, war doch vielleicht nicht so schlimm; er konnte, so schien mir, vielleicht auch Freundliches bedeuten, es schien mir sehr möglich, daß er irgend etwas mit Molly zu tun habe, eine Art Bote von ihr sei oder ihr Wappentier, ein schönes, gefährliches Wappentier der Weiblichkeit und der Sünde. Konnte das Tier nicht vielleicht Vulpius heißen? Aber da riß ein Diener die Tür auf, ich erhob mich und ging hinein.