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Da stand der alte Goethe, klein und sehr steif, und richtig hatte er einen dicken Ordensstern auf seiner Klassikerbrust. Immer noch schien er zu regieren, immer noch Audienzen zu empfangen, immer noch die Welt von seinem Weimarer Museum aus zu kontrollieren. Denn kaum hatte er mich erblickt, so nickte er ruckend mit dem Kopf wie ein alter Rabe und sprach feierlich: »Nun, ihr jungen Leute, ihr seid ja wohl mit uns und unseren Bemühungen recht wenig einverstanden?«

»Ganz richtig«, sagte ich, von seinem Ministerblick durchkältet. »Wir jungen Leute sind in der Tat nicht mit Ihnen einverstanden, alter Herr. Sie sind uns zu feierlich, Exzellenz, und zu eitel und wichtigtuerisch und zu wenig aufrichtig. Dies dürfte das Wesentliche sein: zu wenig aufrichtig.«

Der kleine alte Mann bewegte den strengen Kopf etwas nach vorn, und indem sein harter, amtlich gefalteter Mund sich in einem kleinen Lächeln entspannte und entzückend lebendig wurde, schlug mir plötzlich das Herz, denn es fiel mir auf einmal das Gedicht ein »Dämmrung senkte sich von oben« und daß dieser Mann und dieser Mund es sei, aus dem die Worte jenes Gedichtes gekommen waren. Eigentlich war ich in diesem Augenblick schon vollkommen entwaffnet und übermannt und wäre am liebsten vor ihn hingekniet. Aber ich hielt mich stramm und hörte aus seinem lächelnden Munde die Worte: »Ei, also der Unaufrichtigkeit zeihen Sie mich? Was das für Worte sind! Wollen Sie sich nicht näher erklären?« Gerne wollte ich das, sehr gerne.

»Sie haben, Herr von Goethe, gleich allen großen Geistern die Fragwürdigkeit, die Hoffnungslosigkeit des Menschenlebens deutlich erkannt und gefühlt: die Herrlichkeit des Augenblicks und sein elendes Verwelken, die Unmöglichkeit, eine schöne Höhe des Gefühls anders zu bezahlen als durch die Kerkerhaft des Alltags, die mit der ebenso brennenden und ebenso heiligen Liebe zur verlorenen Unschuld der Natur in ewigem tödlichen Kampfe liegt, dies ganze furchtbare Schweben im Leeren und Ungewissen, dies Verurteiltsein zum Vergänglichen, niemals Vollgültigen, ewig Versuchhaften und Dilettantischen – kurz, die ganze Aussichtslosigkeit, Verstiegenheit und brennende Verzweiflung des Menschseins. Dies alles haben Sie gekannt, sich je und je auch dazu bekannt, und dennoch haben Sie mit Ihrem ganzen Leben das Gegenteil gepredigt, haben Glauben und Optimismus geäußert, haben sich und andern eine Dauer und einen Sinn unsrer geistigen Anstrengungen vorgespiegelt. Sie haben die Bekenner der Tiefe, die Stimmen der verzweifelten Wahrheit abgelehnt und unterdrückt, in sich selbst ebenso wie in Kleist und Beethoven. Sie haben jahrzehntelang so getan, als sei das Anhäufen von Wissen, von Sammlungen, das Schreiben und Sammeln von Briefen, als sei Ihre ganze Weimarer Altersexistenz in der Tat ein Weg, um den Augenblick zu verewigen, den Sie doch nur mumifizieren konnten, um die Natur zu vergeistigen, die Sie doch nur zur Maske stilisieren konnten. Das ist die Unaufrichtigkeit, die wir Ihnen vorwerfen.«

Nachdenklich blickte der alte Geheimrat mir in die Augen, sein Mund lächelte noch immer.

Dann fragte er zu meiner Verwunderung: »Die Zauberflöte von Mozart muß Ihnen dann wohl recht sehr zuwider sein?«

Und noch ehe ich protestieren konnte, fuhr er fort: »Die Zauberflöte stellt das Leben als einen köstlichen Gesang dar, sie preist unsere Gefühle, die doch vergänglich sind, wie etwas Ewiges und Göttliches, sie stimmt weder dem Herrn von Kleist noch dem Herrn Beethoven zu, sondern predigt Optimismus und Glauben.«

»Ich weiß, ich weiß!« rief ich wütend. »Weiß Gott, wie Sie gerade auf die Zauberflöte verfallen sind, die mir das Liebste auf der Welt ist! Aber Mozart ist nicht zweiundachtzig Jahre alt geworden und hat nicht in seinem persönlichen Leben diese Ansprüche an Dauer, an Ordnung, an steife Würde gestellt wie Sie! Er hat sich nicht so wichtig gemacht! Er hat seine göttlichen Melodien gesungen und ist arm gewesen und ist früh gestorben, arm, verkannt –«

Der Atem ging mir aus. Tausend Dinge hätten jetzt in zehn Worten gesagt werden müssen, ich begann an der Stirn zu schwitzen.

Goethe aber fragte sehr freundlich: »Daß ich zweiundachtzig Jahre alt geworden bin, mag immerhin unverzeihlich sein. Mein Vergnügen daran war indessen geringer, als Sie denken mögen. Sie haben recht: ein großes Verlangen nach Dauer hat mich stets erfüllt, ich habe stets den Tod gefürchtet und bekämpft. Ich glaube, der Kampf gegen den Tod, das unbedingte und eigensinnige Lebenwollen ist der Antrieb, aus welchem alle hervorragenden Menschen gehandelt und gelebt haben. Daß man am Ende dennoch sterben muß, dies hingegen, mein junger Freund, habe ich mit zweiundachtzig Jahren ebenso bündig bewiesen, wie wenn ich als Schulknabe gestorben wäre. Wenn es zu meiner Rechtfertigung dienen kann, möchte ich dies noch sagen: in meiner Natur ist viel Kindliches gewesen, viel Neugierde und Spieltrieb, viel Lust zum Zeitvergeuden. Nun, und da habe ich eben etwas lange gebraucht, bis ich einsah, es müsse des Spielens einmal genug sein.«

Während er dies sagte, lächelte er ganz durchtrieben, geradezu schlingelhaft. Seine Gestalt war größer geworden, die steife Haltung und die krampfhafte Würde im Gesicht waren verschwunden. Und die Luft um uns her war jetzt voll von lauter Melodien, lauter Goetheliedern, ich hörte Mozarts »Veilchen« und Schuberts »Füllest wieder Busch und Tal« deutlich heraus. Und Goethes Gesicht war jetzt rosig und jung und lachte und glich bald dem Mozart, bald dem Schubert wie ein Bruder, und der Stern auf seiner Brust bestand aus lauter Wiesenblumen, eine gelbe Primel blühte froh und feist aus seiner Mitte hervor.

Es paßte mir nicht ganz, daß der alte Mann sich meinen Fragen und Anklagen auf eine so scherzhafte Art entziehen wollte, und ich blickte ihn vorwurfsvoll an. Da neigte er sich vor und brachte seinen Mund, den schon ganz kindlich gewordenen Mund, dicht an mein Ohr und flüsterte leise in mein Ohr hinein: »Mein Junge, du nimmst den alten Goethe viel zu ernst. Alte Leute, die schon gestorben sind, muß man nicht ernst nehmen, man tut ihnen sonst unrecht. Wir Unsterblichen lieben das Ernstnehmen nicht, wir lieben den Spaß. Der Ernst, mein Junge, ist eine Angelegenheit der Zeit; er entsteht, soviel will ich dir verraten, aus einer Überschätzung der Zeit. Auch ich habe den Wert der Zeit einst überschätzt, darum wollte ich hundert Jahre alt werden. In der Ewigkeit aber, siehst du, gibt es keine Zeit; die Ewigkeit ist ein Augenblick, gerade lang genug für einen Spaß.«

In der Tat war kein ernstes Wort mehr mit dem Mann zu reden, er tänzelte vergnügt und gelenkig auf und nieder und ließ die Primel aus seinem Stern bald wie eine Rakete herausschießen, bald klein werden und verschwinden. Während er mit seinen Tanzschritten und Figuren glänzte, mußte ich denken, daß dieser Mann es wenigstens nicht versäumt habe, tanzen zu lernen. Er konnte es wundervoll. Da fiel der Skorpion mir wieder ein, oder vielmehr Molly, und ich rief Goethe zu: »Sagen Sie, ist Molly nicht da?«

Goethe lachte laut. Er ging zu seinem Tisch, schloß ein Schubfach auf, nahm eine kostbare, lederne oder samtene Dose heraus, öffnete sie und hielt sie mir unter die Augen. Da lag klein, tadellos und schimmernd ein winziges Frauenbein auf dem dunklen Samt, ein entzückendes Bein, im Knie ein wenig gebogen, der Fuß nach unten gestreckt, in die zierlichsten Zehen spitz auslaufend. Ich streckte die Hand aus und wollte das kleine Bein an mich nehmen, das mich ganz verliebt machte, aber sowie ich mit zwei Fingern zugreifen wollte, schien das Spielzeug sich mit einem winzigen Zuck zu bewegen, und es kam mir plötzlich der Verdacht, dies könnte der Skorpion sein. Goethe schien das zu begreifen, schien sogar gerade das gewollt und bezweckt zu haben, diese tiefe Verlegenheit, diesen zuckenden Zwiespalt von Begehren und Angst. Er hielt mir das reizende Skorpiönchen ganz nahe vors Gesicht, sah mich danach verlangen, sah mich davor zurückschaudern, und dies schien ihm ein großes Vergnügen zu machen. Während er mich mit dem holden gefährlichen Ding neckte, war er wieder ganz alt geworden, uralt, tausend Jahre alt; mit schneeweißem Haar, und sein welkes Greisengesicht lachte still und lautlos, lachte heftig in sich hinein mit einem abgründigen Greisenhumor.

Als ich erwachte, hatte ich den Traum vergessen, erst später fiel er mir wieder ein. Ich hatte wohl gegen eine Stunde geschlafen, mitten in Musik und Getriebe, am Wirtshaustisch, nie hätte ich das für möglich gehalten. Das liebe Mädchen stand vor mir, eine Hand auf meiner Schulter.

»Gib mir zwei oder drei Mark«, sagte sie, »ich habe drüben etwas verzehrt.«

Ich gab ihr meinen Geldbeutel, sie ging damit und kam bald wieder.

»So, jetzt kann ich noch ein kleines Weilchen bei dir sitzen, dann muß ich gehen, ich habe eine Verabredung.«

Ich erschrak. »Mit wem denn?« fragte ich schnell.

»Mit einem Herrn, kleiner Harry. Er hat mich in die Odeon-Bar eingeladen.«

»Oh, ich dachte, du würdest mich nicht allein lassen.«

»Dann hättest eben du mich einladen müssen. Es ist dir einer zuvorgekommen. Nun, du sparst hübsch Geld dabei. Kennst du das Odeon? Nach Mitternacht nur Champagner. Klubsessel, Negerkapelle, sehr fein.«

Dies alles hatte ich nicht bedacht.

»Ach«, sagte ich bittend, »laß dich doch von mir einladen! Ich hielt das für selbstverständlich, wir sind doch Freunde geworden. Laß dich einladen, wohin du willst, ich bitte dich.«

»Das ist nett von dir. Aber schau, ein Wort ist ein Wort, ich habe angenommen, und ich werde hingehen. Gib dir keine Mühe mehr! Komm, nimm noch einen Schluck, wir haben ja noch Wein in der Flasche. Den trinkst du aus und gehst dann hübsch nach Hause und schläfst. Versprich mir's.«

»Nein, du, nach Hause kann ich nicht gehen.«

»Ach du, mit deinen Geschichten! Bist du noch immer nicht mit dem Goethe fertig?« (In diesem Augenblick fiel mir der Goethetraum wieder ein.) »Aber wenn du wirklich nicht heimgehen kannst, dann bleib hier im Haus, es sind Fremdenzimmer da. Soll ich dir eins besorgen?«