Obwohl ich in jenen paar Tagen des Wartens niemals daran zweifelte, daß meine Freundin ihr Wort halten werde, war ich am letzten Tage doch sehr erregt und ungewiß; nie im Leben habe ich ungeduldiger auf den Abend eines Tages gewartet. Und während die Spannung und Ungeduld mir beinahe unerträglich wurde, tat sie zugleich doch wunderbar wohclass="underline" unausdenklich schön und neu war es für mich, den Ernüchterten, der seit langer Zeit auf nichts gewartet, sich auf nichts gefreut hatte – wunderbar war es, diesen ganzen Tag voll Unruhe, Bangigkeit und heftiger Erwartung hin und her zu rennen, sich die Begegnung, die Gespräche, die Ergebnisse des Abends im voraus auszudenken, sich dafür zu rasieren und anzukleiden (mit besonderer Sorgfalt, neuem Hemd, neuer Krawatte, neuen Schuhnesteln). Mochte dies kluge und geheimnisvolle Mädchen sein, wer sie wollte, mochte sie auf diese oder jene Weise in diese Beziehung zu mir geraten sein, mir war es einerlei; sie war da, das Wunder war geschehen, daß ich nochmals einen Menschen und ein neues Interesse am Leben gefunden hatte! Wichtig war nur, daß dies weiterging, daß ich mich dieser Anziehung überließ, diesem Stern folgte.
Unvergeßlicher Augenblick, als ich sie wiedersah! Ich saß an einem kleinen Tisch des alten behaglichen Restaurants, den ich unnötigerweise vorher telephonisch bestellt hatte, studierte die Speisekarte und hatte im Wasserglas zwei schöne Orchideen stehen, die ich für meine Freundin gekauft hatte. Ich mußte eine ganze Weile auf sie warten, fühlte mich aber ihres Kommens sicher und war nicht mehr erregt. Und nun kam sie, blieb vor der Garderobe stehen und grüßte mich nur durch einen aufmerksamen, etwas prüfenden Blick aus ihren hellgrauen Augen. Mißtrauisch kontrollierte ich, wie sich der Kellner gegen sie benehme. Nein, Gott sei Dank, keine Vertraulichkeit, kein Mangel an Distanz, er war tadellos höflich. Und doch kannten sie sich, sie nannte ihn Emil.
Als ich ihr die Orchideen gab, war sie erfreut und lachte. »Das ist hübsch von dir, Harry. Du wolltest mir ein Geschenk machen, nicht wahr, und wußtest nicht recht, was wählen, du wußtest nicht so ganz, wieweit du eigentlich berechtigt seiest, mich zu beschenken, ob ich nicht beleidigt sein werde, und da hast du denn Orchideen gekauft, das sind bloß Blumen und sind doch hübsch teuer. Also danke schön. Übrigens will ich dir gleich sagen: ich will nicht von dir beschenkt werden. Ich lebe von den Männern, aber von dir will ich nicht leben. Aber wie du dich verändert hast! Man kennt dich nicht wieder. Neulich hast du ausgesehen, als hätte man dich grade vom Strick abgeschnitten, und jetzt bist du schon beinah wieder ein Mensch. Hast du übrigens meinen Befehl ausgeführt?« »Welchen Befehl?«
»So vergeßlich? Ich meine, ob du jetzt Foxtrott tanzen kannst? Du hast mir gesagt, daß du dir nichts Besseres wünschest, als Befehle von mir zu erhalten, dir sei nichts lieber, als mir zu gehorchen. Erinnerst du dich?«
»O ja, und dabei soll es bleiben! Es war mir Ernst!«
»Und doch hast du noch nicht tanzen gelernt?«
»Kann man denn das so schnell, bloß in ein paar Tagen?«
»Natürlich. Fox kannst du in einer Stunde lernen, Boston in zwei. Tango geht länger, aber den brauchst du gar nicht.«
»Aber jetzt muß ich endlich deinen Namen wissen!«
Sie blickte mich eine Weile schweigend an. »Du kannst ihn vielleicht erraten. Es wäre mir sehr lieb, wenn du ihn erraten würdest. Paß einmal auf und sieh mich gut an! Ist dir noch nicht aufgefallen, daß ich manchmal ein Knabengesicht habe? Zum Beispiel jetzt?«
Ja, indem ich jetzt ihr Gesicht genau betrachtete, mußte ich ihr recht geben, es war ein Knabengesicht. Und als ich mir eine Minute Zeit ließ, begann das Gesicht zu mir zu sprechen und erinnerte mich an meine eigene Knabenzeit und an meinen damaligen Freund, der hatte Hermann geheißen. Einen Augenblick schien sie ganz in diesen Hermann verwandelt.
»Wenn du ein Knabe wärst«, sagte ich staunend, »müßtest du Hermann heißen.«
»Wer weiß, vielleicht bin ich einer und bloß verkleidet«, sagte sie spielerisch.
»Heißt du Hermine?«
Sie nickte strahlend, froh über mein Erraten. Eben kam die Suppe, wir begannen zu essen, und sie wurde kindlich vergnügt. Von allem, was mir an ihr gefiel und mich bezauberte, war dies das hübscheste und eigenartigste, daß sie ganz plötzlich vom tiefsten Ernst zur drolligsten Lustigkeit übergehen konnte und umgekehrt und sich dabei gar nicht änderte und verzerrte, es war wie bei einem begabten Kinde. Jetzt war sie eine Weile lustig, neckte mich mit dem Foxtrott, stieß mich sogar mit den Füßen an, lobte das Essen mit Eifer, bemerkte, daß ich mir mit dem Anziehen Mühe gegeben habe, hatte aber noch eine Menge an meinem ußeren auszusetzen.
Zwischenein fragte ich sie: »Wie hast du das gemacht, daß du plötzlich wie ein Knabe aussähest und daß ich deinen Namen erraten konnte?«
»Oh, das hast alles du selber gemacht. Begreifst du das nicht, du gelehrter Herr: daß ich dir darum gefalle und für dich wichtig bin, weil ich wie eine Art Spiegel für dich bin, weil in mir innen etwas ist, was dir Antwort gibt und dich versteht? Eigentlich sollten alle Menschen füreinander solche Spiegel sein und einander so antworten und entsprechen, aber solche Käuze wie du sind eben wunderlich und verlaufen sich leicht in eine Verzauberung, daß sie in den Augen andrer Menschen nichts mehr sehen und lesen können, daß es sie nichts mehr angeht. Und wenn dann so ein Kauz plötzlich doch wieder ein Gesicht findet, das ihn wirklich anschaut, in dem er etwas wie Antwort und Verwandtschaft spürt, ja, dann hat er natürlich eine Freude.«
»Du weißt alles, Hermine«, rief ich erstaunt. »Es ist genau so, wie du sagst. Und doch bist du so ganz und gar anders als ich! Du bist ja mein Gegenteil; du hast alles, was mir fehlt.«
»So kommt es dir vor«, sagte sie lakonisch, »und das ist gut.«
Und jetzt floß über ihr Gesicht, das mir in der Tat wie ein Zauberspiegel war, eine schwere Wolke von Ernst, plötzlich sprach dies ganze Gesicht nur noch Ernst, nur noch Tragik, bodenlos wie aus leeren Augen einer Maske. Langsam, Wort für Wort wie widerwillig hergebend, sagte sie:
»Du, vergiß nicht, was du zu mir gesagt hast! Du hast gesagt, ich soll dir befehlen und es würde dir eine Freude sein, allen meinen Befehlen zu gehorchen. Vergiß das nicht! Du mußt wissen, kleiner Harry: so, wie es dir mit mir geht, daß mein Gesicht dir Antwort gibt, daß etwas in mir dir entgegenkommt und dir Vertrauen macht – ebenso geht es mir auch mit dir. Als ich dich neulich im Schwarzen Adler hereinkommen sah, so müd und abwesend und schon beinah nicht mehr auf dieser Welt, da spürte ich gleich: der wird mir gehorchen, der sehnt sich danach, daß ich ihm befehle! Und das werde ich auch tun, darum habe ich dich angesprochen, und darum sind wir Freunde geworden.«
Sie sprach so voll schweren Ernstes, so unter hohem Druck der Seele, daß ich nicht ganz mitkam und sie zu beruhigen und abzulenken suchte. Sie schüttelte das nur mit einem Zucken der Augenbrauen von sich, sah mich zwingend an und fuhr fort, mit ganz kalter Stimme: »Du mußt dein Wort halten, Kleiner, das sage ich dir, oder du sollst es bereuen. Du wirst viele Befehle von mir erhalten und wirst ihnen folgen, hübsche Befehle, angenehme Befehle, es wird dir eine Lust sein, ihnen zu gehorchen. Und zuletzt wirst du auch meinen letzten Befehl erfüllen, Harry.«
»Ich werde«, sagte ich halb willenlos. »Was wird dein letzter Befehl für mich sein?« Ich ahnte ihn aber schon, Gott weiß warum.
Sie schüttelte sich wie unter einem leichten Frostschauer und schien aus ihrer Versunkenheit langsam zu erwachen. Ihre Augen ließen mich nicht los. Sie wurde plötzlich noch finsterer.
»Es wäre klug von mir, dir das nicht zu sagen. Ich will aber nicht klug sein, Harry, diesmal nicht. Ich will etwas ganz anderes. Paß auf, hör zu! Du wirst es hören, wirst es wieder vergessen, wirst darüber lachen, wirst darüber weinen. Paß auf, Kleiner! Ich will mit dir um Leben und Tod spielen, Brüderchen, und ich will dir meine Karten, noch eh wir anfangen zu spielen, offen zeigen.«
Wie schön war ihr Gesicht, wie überirdisch, als sie das sagte! In den Augen kühl und hell schwamm wissende Trauer, diese Augen schienen schon alles irgend erdenkliche Leid gelitten und ja dazu gesagt zu haben. Der Mund sprach schwer und wie behindert, etwa so, wie man spricht, wenn einem großer Frost das Gesicht erstarrt hat; aber zwischen den Lippen, in den Mundwinkeln, im Spiel der nur selten sichtbar werdenden Zungenspitze floß, im Widerspruch zu Blick und Stimme, lauter süße spielende Sinnlichkeit, inniges Lustverlangen. In die stille glatte Stirn hing eine kurze Locke herab, von dort aus, von dieser Stirnecke mit der Locke her, strömte von Zeit zu Zeit wie lebendiger Atem jene Welle von Knabenähnlichkeit, von hermaphrodisischer Magie. Angstvoll hörte ich ihr zu, und doch wie betäubt, wie nur halb anwesend.
»Du hast mich gern«, fuhr sie fort, »aus dem Grunde, den ich dir schon gesagt habe: ich habe deine Einsamkeit durchbrochen, ich habe dich gerade vor dem Tor der Hölle aufgefangen und wieder aufgeweckt. Aber ich will mehr von dir, viel mehr. Ich will dich in mich verliebt machen. Nein, widersprich mir nicht, laß mich reden! Du hast mich sehr gern, das spüre ich, und du bist mir dankbar, aber in mich verliebt bist du nicht. Ich will machen, daß du es wirst, das gehört zu meinem Beruf; ich lebe ja davon, daß ich Männer in mich verliebt machen kann. Aber paß gut auf, ich tue das nicht darum, weil ich gerade dich so entzückend fände. Ich bin nicht in dich verliebt, Harry, so wenig wie du in mich. Aber ich brauche dich, wie du mich brauchst. Du brauchst mich jetzt, im Augenblick, weil du verzweifelt bist und einen Stoß nötig hast, der dich ins Wasser wirft und dich wieder lebendig macht. Du brauchst mich, um tanzen zu lernen, lachen zu lernen, leben zu lernen. Ich aber brauche dich, nicht heute, später, auch zu etwas sehr Wichtigem und Schönem. Ich werde dir, wenn du in mich verliebt sein wirst, meinen letzten Befehl geben, und du wirst gehorchen, und das wird für dich und mich gut sein.«