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»Nun ja. Aber auf was denn kommt es an?«

»Darauf, daß man musiziert, Herr Haller, daß man so gut und so viel und so intensiv wie möglich musiziert! Das ist es, Monsieur. Wenn ich sämtliche Werke von Bach und Haydn im Kopf habe und die gescheitesten Sachen darüber sagen kann, so ist damit noch keinem Menschen gedient. Wenn ich aber mein Blaserohr nehme und einen zügigen Shimmy spiele, so mag der Shimmy gut sein oder schlecht, er wird doch den Leuten Freude machen, er fährt ihnen in die Beine und ins Blut. Darauf allein kommt es an. Sehen Sie einmal in einem Ballsaal die Gesichter an in dem Augenblick, wo nach einer längeren Pause die Musik wieder loslegt – wie da die Augen blitzen, die Beine zucken, die Gesichter zu lachen anfangen! Das ist es, wofür man musiziert.«

»Sehr gut, Herr Pablo. Aber es gibt nicht bloß sinnliche Musik, es gibt auch geistige. Es gibt nicht bloß die, die im Augenblick gerade gespielt wird, sondern auch unsterbliche, die weiterlebt, auch wenn sie nicht gerade gespielt wird. Es kann jemand allein in seinem Bett liegen und in seinen Gedanken eine Melodie aus der Zauberflöte oder aus der Matthäuspassion erwecken, dann findet Musik statt, ohne daß ein einziger Mensch in eine Flöte bläst oder eine Geige streicht.«

»Gewiß, Herr Haller. Auch der Yearning und der Valencia wird jede Nacht von vielen einsamen und träumerischen Menschen stumm reproduziert; noch das ärmste Schreibmaschinenmädel in seinem Bureau hat den letzten Onestep im Kopf und trommelt ihre Tasten nach seinem Takt. Sie haben recht, alle die einsamen Menschen, ich gönne ihnen allen ihre stumme Musik, sei es der Yearning oder die Zauberflöte oder der Valencia! Aber woher nehmen denn diese Menschen ihre einsame, stumme Musik? Sie holen sie bei uns, bei den Musikanten, sie muß zuerst gespielt und gehört werden und ins Blut gegangen sein, eh einer daheim in seiner Kammer an sie denken und von ihr träumen kann.«

»Einverstanden«, sagte ich kühl. »Dennoch geht es nicht an, Mozart und den neuesten Foxtrott auf eine Stufe zu stellen. Und es nicht einerlei, ob Sie den Leuten göttliche und ewige Musik vorspielen oder billige Eintagsmusik.«

Als Pablo die Erregtheit in meiner Stimme wahrnahm, machte er alsbald sein liebstes Gesicht, strich mir kosend über den Arm und gab seiner Stimme eine unglaubliche Sanftheit.

»Ach, lieber Herr, mit den Stufen mögen Sie ja ganz recht haben. Ich weiß gewiß nichts dagegen, daß Sie Mozart und Haydn und den Valencia auf jede Ihnen beliebende Stufe stellen! Mir ist das ganz einerlei, ich habe über die Stufen nicht zu entscheiden, ich werde nicht hierüber gefragt. Der Mozart wird vielleicht auch noch in hundert Jahren gespielt werden und der Valencia vielleicht schon in zwei Jahren nicht mehr – ich glaube, das können wir ruhig dem lieben Gott überlassen, er ist gerecht und hat unser aller Lebensdauer in der Hand, auch die jedes Walzers und jedes Foxtrott, er wird sicher das Richtige tun. Wir Musikanten aber, wir müssen das Unsere tun, das, was unsere Pflicht und Aufgabe ist: wir müssen das spielen, was gerade im Augenblick von den Leuten begehrt wird, und wir müssen es so gut und schön und eindringlich spielen wie nur möglich.«

Seufzend gab ich es auf. Diesem Menschen war nicht beizukommen.

In manchen Augenblicken war Altes und Neues, war Schmerz und Lust, Furcht und Freude ganz wunderlich durcheinander gemischt. Bald war ich im Himmel, bald in der Hölle, meistens in beiden zugleich. Der alte Harry und der neue lebten bald im bittern Streit, bald im Frieden miteinander. Der alte Harry schien manchmal ganz und gar tot zu sein, gestorben und begraben, und plötzlich stand er dann wieder da, befahl und tyrannisierte und wußte alles besser, und der neue, kleine, junge Harry schämte sich, schwieg und ließ sich an die Wand drücken. Zu andern Stunden nahm der junge Harry den alten an der Kehle und drückte wacker zu, es gab viel Gestöhne, viel Todeskampf, viel Gedanken an das Rasiermesser.

Oft aber schlug Leid und Glück in einer Welle über mir zusammen. Ein solcher Augenblick war der, in dem ich wenige Tage nach meinem ersten öffentlichen Tanzversuch am Abend mein Schlafzimmer betrat und zu meinem namenlosen Erstaunen, Befremden, Schreck und Entzücken die schöne Maria in meinem Bett liegen fand.

Von allen Überraschungen, denen Hermine mich bisher ausgesetzt hatte, war dies die heftigste. Denn daran zweifelte ich keinen Augenblick, daß sie es war, die mir diesen Paradiesvogel zugesandt habe. Ich war an jenem Abend ausnahmsweise nicht mit Hermine zusammen gewesen, sondern hatte im Münster eine gute Aufführung alter Kirchenmusik angehört – es war ein schöner und wehmütiger Ausflug in mein ehemaliges Leben gewesen, in die Gefilde meiner Jugend, in die Gebiete des idealen Harry. Im hohen gotischen Raum der Kirche, deren schöne Netzgewölbe im Spiel der wenigen Lichter geisterhaft lebendig hin und wider schwangen, hatte ich Stücke von Buxtehude, Pachelbel, Bach, Haydn gehört, war die geliebten alten Wege wieder gegangen, hatte die herrliche Stimme einer Bachsängerin wieder gehört, mit der ich einst befreundet gewesen war und viele außerordentliche Aufführungen erlebt hatte. Die Stimmen der alten Musik, ihre unendliche Würde und Heiligkeit hatte mir alle Erhebungen, Entzückungen und Begeisterungen der Jugend wachgerufen, traurig und versunken saß ich im hohen Chor der Kirche, für eine Stunde zu Gast in dieser edlen, seligen Welt, die einst meine Heimat gewesen war. Bei einem Haydnischen Duett waren mir plötzlich die Tränen gekommen, ich hatte den Schluß des Konzerts nicht abgewartet, hatte auf das Wiedersehen mit der Sängerin verzichtet (oh, wieviel strahlende Abende hatte ich einst nach solchen Konzerten mit den Künstlern hingebracht!), hatte mich aus dem Münster hinweggeschlichen und in den nächtlichen Gassen müde gelaufen, wo da und dort hinter den Fenstern der Restaurants Jazzkapellen die Melodien meines jetzigen Lebens spielten. Oh, was für ein trübes Irrsal war aus meinem Leben geworden!

Lange hatte ich auf diesem Nachtgang auch über mein merkwürdiges Verhältnis zur Musik nachgedacht und hatte, einmal wieder, dies ebenso rührende wie fatale Verhältnis zur Musik als das Schicksal der ganzen deutschen Geistigkeit erkannt. Im deutschen Geist herrscht das Mutterrecht, die Naturgebundenheit in Form einer Hegemonie der Musik, wie sie nie ein andres Volk gekannt hat. Wir Geistigen, statt uns mannhaft dagegen zu wehren und dem Geist, dem Logos, dem Wort Gehorsam zu leisten und Gehör zu verschaffen, träumen alle von einer Sprache ohne Worte, welche das Unaussprechliche sagt, das Ungestaltbare darstellt. Statt sein Instrument möglichst treu und redlich zu spielen, hat der geistige Deutsche stets gegen das Wort und gegen die Vernunft frondiert und mit der Musik geliebäugelt. Und in der Musik, in wunderbaren seligen Tongebilden, in wunderbaren holden Gefühlen und Stimmungen, welche nie zur Verwirklichung gedrängt wurden, hat der deutsche Geist sich ausgeschwelgt und die Mehrzahl seiner tatsächlichen Aufgaben versäumt. Wir Geistigen alle waren in der Wirklichkeit nicht zu Hause, waren ihr fremd und feind, darum war auch in unsrer deutschen Wirklichkeit, in unsrer Geschichte, unsrer Politik, unsrer öffentlichen Meinung die Rolle des Geistes eine so klägliche. Nun ja, oft hatte ich diesen Gedanken durchgedacht, nicht ohne zuweilen eine heftige Sehnsucht danach zu fühlen, einmal Wirklichkeit mitzugestalten, einmal ernsthaft und verantwortlich tätig zu sein, statt immer bloß Ästhetik zu treiben und geistiges Kunstgewerbe. Es endete aber immer mit der Resignation, mit der Ergebung ins Verhängnis. Die Herren Generäle und Schwerindustriellen hatten ganz recht: es war nichts los mit uns »Geistigen«, wir waren eine entbehrliche, wirklichkeitsfremde, verantwortungslose Gesellschaft von geistreichen Schwätzern, Pfui Teufel! Rasiermesser!

So von Gedanken und vom Nachklang der Musik erfüllt, das Herz schwer von Trauer und verzweifelter Sehnsucht nach Leben, nach Wirklichkeit, nach Sinn, nach unwiederbringlich Verlorenem, war ich endlich heimgekehrt, hatte meine Treppen erstiegen, hatte im Wohnzimmer Licht gemacht und vergebens ein wenig zu lesen versucht, hatte an die Verabredung gedacht, die mich zwang, morgen abend zu Whisky und Tanz in die Cécil-Bar zu gehen, und hatte nicht nur gegen mich selbst, sondern auch gegen Hermine Groll und Bitterkeit empfunden. Mochte sie es gut und herzlich meinen, mochte sie ein wundervolles Wesen sein – sie hätte mich doch damals lieber zugrunde gehen lassen sollen, statt mich in diese wirre, fremde, flirrende Spielwelt hinein- und hinabzuziehen, wo ich doch immer ein Fremder bleiben würde und wo das Beste in mir verkam und Not litt!

Und so hatte ich traurig mein Licht gelöscht, traurig mein Schlafzimmer aufgesucht, traurig mit dem Entkleiden begonnen, da machte ein ungewohnter Duft mich stutzig, es roch leicht nach Parfüm, und umblickend sah ich in meinem Bett die schöne Maria liegen, lächelnd, etwas bange, mit großen blauen Augen.

»Maria!« sagte ich. Und mein erster Gedanke war, daß meine Hauswirtin mir kündigen würde, wenn sie das wüßte.

»Ich bin gekommen«, sagte sie leise. »Sind Sie mir böse?«

»Nein, nein. Ich weiß, Hermine hat Ihnen den Schlüssel gegeben. Nun ja.«

»Oh, Sie sind böse darüber. Ich gehe wieder.«

»Nein, schöne Maria, bleiben Sie! Nur bin ich gerade heut abend sehr traurig, lustig sein kann ich heute nicht, das kann ich dann morgen vielleicht wieder.«

Ich hatte mich etwas zu ihr hinabgebeugt, da faßte sie meinen Kopf mit ihren beiden großen, festen Händen, zog ihn herab und küßte mich lange. Dann setzte ich mich zu ihr aufs Bett, hielt ihre Hand, bat sie, leise zu reden, da man uns nicht hören dürfe, und sah in ihr schönes volles Gesicht hinab, das fremd und wunderbar wie eine große Blume da auf meinem Kissen lag. Langsam zog sie meine Hand an ihren Mund, zog sie unter die Decke und legte sie auf ihre warme, still atmende Brust.

»Du brauchst nicht lustig zu sein«, sagte sie. »Hermine hat mir schon gesagt, daß du Kummer hast. Das versteht ja jeder. Gefalle ich dir denn noch, du? Neulich beim Tanzen warst du sehr verliebt.«

Ich küßte sie auf Augen, Mund, Hals und Brüste. Eben noch hatte ich an Hermine gedacht, bitter und mit Vorwürfen. Nun hielt ich ihr Geschenk in Händen und war dankbar. Die Liebkosungen Marias taten der wundervollen Musik nicht weh, die ich heut gehört hatte, sie waren ihrer würdig und ihre Erfüllung. Langsam zog ich die Decke von der schönen Frau, bis ich mit meinen Küssen zu ihren Füßen gelangt war. Als ich mich zu ihr legte, lächelte ihr Blumengesicht mich allwissend und gütig an.