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»Es ist gut«, sagte er. »Wir sind also Kollegen. Tun Sie nun bitte Ihre Pflicht, Herr Kollege.«

Das hübsche Mädchen hatte sich inzwischen am Straßenrand niedergelassen und war ohnmächtig.

In diesem Augenblick tutete wieder ein Wagen und kam in voller Fahrt dahergerannt. Wir zogen das Mädchen ein wenig beiseite, drückten uns an die Felsen und ließen den ankommenden Wagen in die Trümmer des ändern hineinfahren. Er bremste heftig und bäumte sich in die Höhe, blieb aber unbeschädigt stehen. Schnell nahmen wir unsre Büchsen zur Hand und legten auf die Neuen an.

»Aussteigen!« kommandierte Gustav. »Hände hoch!«

Es waren drei Männer, die aus dem Wagen stiegen,und gehorsam die Hände hochhielten. »Ist einer von Ihnen Arzt?« fragte Gustav. Sie verneinten.

»Dann haben Sie die Güte, den Herrn hier vorsichtig aus seinem Sitz zu befreien, er ist schwer verletzt. Und dann nehmen Sie ihn in Ihrem Wagen bis zur nächsten Stadt mit. Vorwärts, angefaßt!«

Bald war der alte Herr im ändern Wagen gebettet, Gustav kommandierte, und alle fuhren los.

Inzwischen war unsre Stenographin wieder zu sich gekommen und hatte den Vorgängen zugesehen. Es gefiel mir, daß wir diese hübsche Beute gemacht hatten.

»Fräulein«, sagte Gustav, »Sie haben Ihren Arbeitgeber verloren. Hoffentlich stand der alte Herr Ihnen sonst nicht nahe. Sie sind von mir engagiert, seien Sie uns ein guter Kamerad! So, und nun pressiert es ein wenig. In Bälde wird es hier ungemütlich werden. Können Sie klettern, Fräulein? Ja? Also los, wir nehmen Sie zwischen uns und helfen Ihnen.«

Nun kletterten wir alle drei, so rasch es gehen wollte, in unsre Baumhütte hinauf. Dem Fräulein wurde oben schlecht, aber sie bekam einen Kognak, und bald war sie so weit erholt, daß sie die prachtvolle Aussicht auf See und Gebirge anerkennen und uns mitteilen konnte, daß sie Dora heiße. Gleich darauf war unten schon wieder ein Wagen angekommen, der in vorsichtiger Fahrt an dem gestürzten Auto vorbeisteuerte, ohne zu halten, und dann sein Tempo sofort beschleunigte.

»Drückeberger!« lachte Gustav und schoß den Lenker ab. Der Wagen tanzte ein wenig, machte einen Satz gegen die Mauer, drückte sie ein und blieb schräg überm Abgrund hängen.

»Dora«, sagte ich, »können Sie mit Flinten umgehen?«

Sie konnte es nicht, aber sie lernte von uns, wie man ein Gewehr lädt. Zuerst war sie ungeschickt und riß sich einen Finger blutig, heulte und verlangte englisches Pflaster. Aber Gustav erklärte ihr, es sei Krieg und sie möge zeigen, daß sie ein braves, tapferes Mädel sei. Da ging es.

»Aber was soll aus uns werden?« fragte sie dann.

»Ich weiß nicht«, sagte Gustav. »Mein Freund Harry hat hübsche Frauen gern, er wird Ihr Freund sein.«

»Aber sie werden mit Polizei und Soldaten kommen und uns totmachen.«

»Polizei und dergleichen gibt es nicht mehr. Wir haben die Wahl, Dora. Entweder bleiben wir ruhig hier oben und schießen alle Wagen zusammen, die vorbei wollen. Oder wir nehmen selber einen Wagen, fahren davon und lassen andre auf uns schießen. Es ist einerlei, welche Partei wir ergreifen. Ich bin fürs Hierbleiben.«

Unten war wieder ein Wagen, hell tönte seine Hupe herauf. Er war bald erledigt und blieb, die Räder zuoberst, liegen.

»Komisch«, sagte ich, »daß das Schießen so viel Spaß machen kann! Dabei war ich früher ein Kriegsgegner!«

Gustav lächelte. »Ja, es sind eben gar zu viele Menschen auf der Welt. Früher merkte man es nicht so. Aber jetzt, wo jeder nicht bloß Luft atmen, sondern auch ein Auto haben will, jetzt merkt man es eben. Natürlich ist das, was wir da tun, nicht vernünftig, es ist eine Kinderei, wie auch der Krieg eine riesige Kinderei war. Später einmal wird die Menschheit lernen müssen, ihre Vermehrung durch vernünftige Mittel im Zaum zu halten. Vorderhand reagieren wir auf die unerträglichen Zustände ziemlich unvernünftig, tun aber im Grunde doch das Richtige: wir reduzieren.«

»Ja«, sagte ich, »was wir tun, ist wahrscheinlich verrückt, und wahrscheinlich ist es dennoch gut und notwendig. Es ist nicht gut, wenn die Menschheit den Verstand überanstrengt und Dinge mit Hilfe der Vernunft zu ordnen sucht, die der Vernunft noch gar nicht zugänglich sind. Dann entstehen solche Ideale wie das des Amerikaners oder das der Bolschewiken, die beide außerordentlich vernünftig sind und die doch das Leben, weil sie es gar so naiv vereinfachen, furchtbar vergewaltigen und berauben. Das Bild des Menschen, einst ein hohes Ideal, ist im Begriff, zu einem Klischee zu werden. Wir Verrückten werden es vielleicht wieder adeln.«

Lachend gab Gustav Antwort: »Junge, du redest wunderbar klug, es ist eine Freude und bringt Gewinn, diesem Weisheitsborn zu lauschen. Und vielleicht hast du sogar ein bißchen recht. Aber sei so gut und lade jetzt deine Flinte wieder, du bist mir ein wenig zu träumerisch. Jeden Augenblick können wieder ein paar Rehböckchen gelaufen kommen, die können wir nicht mit Philosophie totschießen, es müssen immerhin Kugeln im Rohr sein.«

Ein Auto kam und fiel sogleich, die Straße war gesperrt. Ein Überlebender, ein feister, rotköpfiger Mann gestikulierte wild neben den Trümmern, glotzte hinab und hinauf, entdeckte unser Versteck, kam brüllend gelaufen und schoß aus seinem Revolver viele Male gegen uns herauf.

»Gehen Sie jetzt oder ich schieße«, schrie Gustav hinunter. Der Mann zielte auf ihn und schoß nochmals. Da schossen wir ihn ab, mit zwei Schüssen.

Noch zwei Wagen kamen, die wir zur Strecke brachten. Dann blieb die Straße still und leer, die Nachricht von ihrer Gefährlichkeit schien sich verbreitet zu haben. Wir hatten Zeit, die schöne Aussicht zu betrachten. Jenseits des Sees lag eine kleine Stadt in der Tiefe, dort stieg Rauch auf, und bald sahen wir, wie das Feuer von Dach zu Dach lief. Man hörte auch schießen. Dora weinte ein wenig, ich streichelte ihr die nassen Wangen.

»Müssen wir denn alle sterben?« fragte sie. Niemand gab Antwort. Inzwischen kam unten ein Fußgänger daher, sah die kaputten Automobile liegen, schnüffelte an ihnen herum, beugte sich in eines hinein, zog einen bunten Sonnenschirm, eine lederne Damentasche, eine Weinflasche heraus, setzte sich friedvoll auf die Mauer, trank aus der Flasche, aß etwas in Stanniol Gewickeltes aus der Tasche, trank die Flasche vollends leer, ging veignügt weiter, den Sonnenschirm unter den Arm geklemmt. Friedlich zog er dahin, und ich sagte zu Gustav: »Wäre es dir nun möglich, auf diesen netten Kerl zu schießen und ihm ein Loch in den Kopf zu machen? Weiß Gott, ich könnte es nicht.«

»Wird auch nicht verlangt«, brummte mein Freund. Aber es war ihm auch unbehaglich ums Herz geworden. Kaum hatten wir einen Menschen zu Gesicht bekommen, der noch harmlos, friedlich und kindlich sich benahm, der noch im Stand der Unschuld lebte, da schien uns unser ganzes so löbliches und notwendiges Tun auf einmal dumm und widerlich. Pfui Teufel, all das Blut! Wir schämten uns. Aber es sollen im Kriege sogar Generäle zuweilen so empfunden haben.

»Wir wollen nicht länger hierbleiben«, klagte Dora, »wir wollen hinuntergehen, gewiß finden wir in den Wagen etwas zum Essen. Habt ihr denn keinen Hunger, ihr Bolschewiken?«

Drunten in der brennenden Stadt fingen die Glocken an zu läuten, aufgeregt und angstvoll. Wir machten uns an den Abstieg. Als ich Dora über die Brüstung klettern half, küßte ich ihre Knie. Sie lachte hell. Aber da gab das Gestänge nach, und wir stürzten beide ins Leere …

Wieder befand ich mich im runden Korridor, angeregt von dem Jagdabenteuer. Und überall, an allen unzähligen Türen, lockten die Inschriften:

Mutabor

Verwandlung in beliebige Tiere und Pflanzen

Kamasutram

Unterricht in der indischen Liebeskunst

Kurs für Anfänger: 42 verschiedene Methoden der Liebesübung

Genußreicher Selbstmord

Du lachst dich kaputt

Wollen Sie sich vergeistern?

Weisheit des Ostens

O daß ich tausend Zungen hätte!

Nur für Herren

Untergang des Abendlandes

Ermäßigte Preise. Noch immer unübertroffen

Inbegriff der Kunst

Die Verwandlung von Zeit in Raum durch die Musik

Die lachende Träne

Kabinett für Humor

Einsiedlerspiele

Vollwertiger Ersatz für jede Geselligkeit

Endlos lief die Reihe der Inschriften. Eine hieß:

Anleitung zum Aufbau der Persönlichkeit

Erfolg garantiert

Das schien mir beachtenswert, und ich trat in diese Tür.

Es empfing mich ein dämmriger, stiller Raum, darin saß, ohne Stuhl nach morgenländischer Art, ein Mann auf dem Boden, der hatte vor sich etwas wie ein großes Schachbrett stehen. Im ersten Augenblick schien es mir Freund Pablo zu sein, wenigstens trug der Mann eine ähnliche buntseidene Jacke und hatte dieselben dunkel strahlenden Augen.

»Sind Sie Pablo?« fragte ich.

»Ich bin niemand«, erklärte er freundlich. »Wir tragen hier keine Namen, wir sind hier keine Personen. Ich bin ein Schachspieler. Wünschen Sie Unterricht über den Aufbau der Persönlichkeit?«

»Ja, bitte.«

»Dann stellen Sie mir freundlichst ein paar Dutzend Ihrer Figuren zur Verfügung.«

»Meiner Figuren …«

»Der Figuren, in welche Sie Ihre sogenannte Persönlichkeit haben zerfallen sehen. Ohne Figuren kann ich ja nicht spielen.«

Er hielt mir einen Spiegel vor, wieder sah ich darin die Einheit meiner Person in viele Ichs zerfallen, ihre Zahl schien noch gewachsen zu sein. Die Figuren waren aber jetzt sehr klein, so groß etwa wie handliche Schachfiguren, und der Spieler nahm mit stillen, sichern Fingergriffen einige Dutzend davon und stellte sie neben dem Schachbrett an den Boden. Eintönig sprach er dazu, wie ein Mann, der eine oft gehaltene Rede oder Lektion wiederholt: »Die fehlerhafte und Unglück bringende Auffassung, als sei ein Mensch eine dauernde Einheit, ist Ihnen bekannt. Es ist Ihnen auch bekannt, daß der Mensch aus einer Menge von Seelen, aus sehr vielen Ichs besteht. Die scheinbare Einheit der Person in diese vielen Figuren auseinanderzuspalten gilt für verrückt, die Wissenschaft hat dafür den Namen Schizophrenie erfunden. Die Wissenschaft hat damit insofern recht, als natürlich keine Vielheit ohne Führung, ohne eine gewisse Ordnung und Gruppierung zu bändigen ist. Unrecht dagegen hat sie darin, daß sie glaubt, es sei nur eine einmalige, bindende, lebenslängliche Ordnung der vielen Unter-Ichs möglich. Dieser Irrtum der Wissenschaft hat manche unangenehme Folgen, sein Wert liegt lediglich darin, daß die staatlich angestellten Lehrer und Erzieher ihre Arbeit vereinfacht und das Denken und Experimentieren erspart sehen. Infolge jenes Irrtums gelten viele Menschen für ‚normal', ja für sozial hochwertig, welche unheilbar verrückt sind, und umgekehrt werden manche für verrückt angesehen, welche Genies sind. Wir ergänzen daher die lückenhafte Seelenlehre der Wissenschaft durch den Begriff, den wir Aufbaukunst nennen. Wir zeigen demjenigen, der das Auseinanderfallen seines Ichs erlebt hat, daß er die Stücke jederzeit in beliebiger Ordnung neu zusammenstellen und daß er damit eine unendliche Mannigfaltigkeit des Lebensspieles erzielen kann. Wie der Dichter aus einer Handvoll Figuren ein Drama schafft, so bauen wir aus den Figuren unsres zerlegten Ichs immerzu neue Gruppen, mit neuen Spielen und Spannungen, mit ewig neuen Situationen. Sehen Sie!«