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Mit den stillen, klugen Fingern griff er meine Figuren, alle die Greise, Jünglinge, Kinder, Frauen, alle die heitern und traurigen, starken und zarten, flinken und unbeholfenen Figuren, ordnete sie rasch auf seinem Brett zu einem Spiel, in welchem sie alsbald zu Gruppen, Familien, zu Spielen und Kämpfen, zu Freundschaften und Gegnerschaften sich aufbauten, eine Welt im kleinen bildend. Vor meinen entzückten Augen ließ er die belebte und doch wohlgeordnete kleine Welt eine Weile sich bewegen, spielen und kämpfen, Bündnisse schließen und Schlachten schlagen, untereinander werben, heiraten, sich vermehren; es war in der Tat ein vielfiguriges, bewegtes und spannendes Drama. Dann strich er mit heiterer Gebärde über das Brett, warf alle Figuren sachte um, schob sie auf einen Haufen und baute nachdenklich, ein wählerischer Künstler, aus denselben Figuren ein ganz neues Spiel auf, mit ganz anderen Gruppierungen, Beziehungen und Verflechtungen. Das zweite Spiel war dem ersten verwandt: es war dieselbe Welt, dasselbe Material, aus dem er es aufbaute, aber die Tonart war verändert, das Tempo gewechselt, die Motive anders betont, die Situationen anders gestellt.

Und so baute der kluge Aufbauer aus den Gestalten, deren jede ein Stück meiner selbst war, ein Spiel ums andre auf, alle einander von ferne ähnlich, aller erkennbar als derselben Welt angehörig, derselben Herkunft verpflichtet, dennoch jedes völlig neu.

»Dies ist Lebenskunst«, sprach er dozierend. »Sie selbst mögen künftig das Spiel Ihres Lebens beliebig weiter gestalten und beleben, verwickeln und bereichern, es liegt in Ihrer Hand. So wie die Verrücktheit, in einem höhern Sinn, der Anfang aller Weisheit ist, so ist Schizophrenie der Anfang aller Kunst, aller Phantasie. Sogar Gelehrte haben dies schon halb erkannt, wie man zum Beispiel in des Prinzen Wunderhorn nachlesen mag, jenem entzückenden Buch, in welchem die mühevolle und fleißige Arbeit eines Gelehrten durch die geniale Mitarbeit einer Anzahl von verrückten und in Anstalten eingesperrten Künstlern geadelt wird. – Hier, stecken Sie Ihre Figürchen nur zu sich, das Spiel wird Ihnen noch oft Freude machen. Sie werden die Figur, die heute sich zum unerträglichen Popanz ausgewachsen hat und Ihnen das Spiel verdirbt, morgen zur harmlosen Nebenfigur degradieren. Sie werden das arme liebe Figürchen, das eine Weile zu lauter Pech und Unstern verurteilt schien, im nächsten Spiel zur Prinzessin machen. Ich wünsche viel Vergnügen, mein Herr.«

Ich verbeugte mich tief und dankbar vor diesem begabten Schachspieler, steckte die Figürchen in meine Trasche und zog mich durch die schmale Tür zurück.

Eigentlich hatte ich mir gedacht, ich würde nun alsbald im Korridor mich an den Boden setzen und stundenlang, eine Ewigkeit lang, mit den Figuren spielen, aber kaum stand ich wieder in dem hellen runden Theatergang, so zogen neue Strömungen, stärker als ich, mich davon. Ein Plakat flammte grell vor meinen Augen auf:

Wunder der Steppenwolfdressur 

Vielerlei Gefühle regte diese Inschrift in mir auf: allerlei Ängste und Zwänge aus meinem gewesenen Leben, aus der verlassenen Wirklichkeit her, zogen mir peinlich das Herz zusammen. Mit bebender Hand öffnete ich die Tür und kam in eine Jahrmarktbude, darin sah ich ein Eisengitter errichtet, das mich von der dürftigen Schaubühne trennte. Auf der Bühne aber sah ich einen Tierbändiger stehen, einen etwas marktschreierisch aussehenden und wichtigtuenden Herrn, der trotz großem Schnauzbart, trotz muskelstrotzendem Oberarm und geckenhafter Zirkuskleidung mir selbst auf eine hämische, recht widerwärtige Weise ähnlich sah. Dieser starke Mann führte – jämmerlicher Anblick! – einen großen, schönen, aber furchtbar abgemagerten und sklavisch-scheu blickenden Wolf an der Leine wie einen Hund. Und es war nun ebenso ekelhaft wie spannend, ebenso scheußlich wie dennoch heimlich-lustvoll, diesen brutalen Bändiger das edle und doch so schmählich gehorsame Raubtier in einer Reihe von Tricks und sensationellen Szenen vorführen zu sehen.

Der Mann, mein verfluchter Zerrspiegelzwilling, hatte seinen Wolf allerdings fabelhaft gezähmt. Der Wolf gehorchte aufmerksam jedem Befehl, reagierte hündisch auf jeden Zuruf und Peitschenknall, er fiel in die Knie, stellte sich tot, machte das Männchen, er trug einen Brotlaib, ein Ei, ein Stück Fleisch, ein Körbchen folgsam und artig in der Schnauze, ja, er mußte dem Bändiger die Peitsche, die dieser hatte fallen lassen, aufheben und im Maule nachtragen, wozu er unerträglich kriecherisch mit dem Schwänze wedelte. Es wurde dem Wolf ein Kaninchen vorgeführt und dann ein weißes Lamm, und er bleckte zwar die Zähne und ließ den Speichel tropfen vor zitternder Begierde, berührte aber keines der Tiere, sondern sprang auf Befehl über sie, die bebend am Boden kauerten, in elegantem Schwung hinweg, ja, er legte sich zwischen Hase und Lamm nieder, umarmte beide mit den Vorderpfoten und bildete mit ihnen eine rührende Familiengruppe. Dazu fraß er aus des Menschen Hand eine Tafel Schokolade. Es war eine Qual, mitanzusehen, bis zu welch phantastischem Grade dieser Wolf seine Natur hatte verleugnen lernen, und mir standen dabei die Haare zu Berg.

Für diese Qual wurde jedoch der erregte Zuschauer im zweiten Teil der Vorführung, ebenso wie der Wolf selbst, entschädigt. Nach Abwickelung jenes raffinierten Dressurprogramms nämlich und nachdem der Bändiger über der Lamm- und Wolfsgruppe sich triumphierend mit süßem Lächeln verbeugt hatte, wurden die Rollen vertauscht. Der harryähnliche Tierbändiger legte plötzlich seine Peitsche mit tiefem Bückling dem Wolf zu Füßen und begann ebenso zu zittern, einzuschrumpfen und elend auszusehen wie vorher das Tier. Der Wolf aber leckte sich lachend das Maul, Krampf und Verlogenheit fielen von ihm ab, sein Blick leuchtete, sein ganzer Leib wurde straff und blühte in wiedererlangter Wildheit auf.

Und nun befahl der Wolf, und der Mensch mußte gehorchen. Auf Befehl sank der Mensch in die Knie nieder, spielte den Wolf, ließ die Zunge heraushängen, riß sich mit den plombierten Zähnen die Kleider vom Leibe. Er ging, je nachdem der Menschenbändiger befahl, auf zweien oder auf vieren, machte das Männchen, stellte sich tot, ließ den Wolf auf sich reiten, trug ihm die Peitsche nach. Hündisch und begabt ging er auf die Demütigung und Perversion phantasievoll ein. Ein schönes Mädchen kam auf die Bühne, näherte sich dem dressierten Mann, streichelte ihm das Kinn, rieb ihre Wange an seiner, aber er blieb auf allen vieren, blieb Vieh, schüttelte den Kopf und fing an, der Schönen die Zähne zu zeigen, zuletzt so drohend und wölfisch, daß sie entfloh. Schokolade wurde ihm vorgesetzt, die er verächtlich beschnoberte und wegstieß. Und zuletzt wurde das weiße Lamm und das fette gescheckte Kaninchen wieder hereingebracht, und der gelehrige Mensch gab sein Letztes her und spielte den Wolf, daß es eine Lust war. Mit Fingern und Zähnen packte er die schreienden Tierchen, riß ihnen Fetzen von Fell und Fleisch heraus, kaute grinsend ihr lebendiges Fleisch und soff hingegeben, trunken mit wollust-geschlossenen Augen, ihr warmes Blut.

Entsetzt floh ich durch die Tür hinaus. Dieses magische Theater, sah ich, war kein reines Paradies, alle Höllen lagen unter seiner hübschen Oberfläche. O Gott, gab es denn auch hier keine Erlösung?

Angstvoll lief ich auf und ab, spürte den Geschmack von Blut und den Geschmack von Schokolade im Munde, einen ebenso häßlich wie den ändern, wünschte sehnsüchtig, dieser trüben Welle zu entrinnen, rang inbrünstig in mir selbst um erträglichere, freundlichere Bilder. »O Freunde, nicht diese Töne!« sang es in mir, und mit Entsetzen erinnerte ich mich an jene scheußlichen Photographien von der Front, die man während des Krieges zuweilen zu Gesicht bekommen hatte, an jene Haufen ineinander verknäulter Leichname, deren Gesichter durch Gasmasken in grinsende Teufelsfratzen verwandelt waren. Wie ich damals vnoch dumm und kindlich gewesen, als ich mich, ein menschenfreundlich gesinnter Kriegsgegner, über diese Bilder entsetzt hatte? Heute wußte ich, daß kein Tierbändiger, kein Minister, kein General, kein Irrsinniger Gedanken und Bilder in seinem Gehirn auszubrüten fähig war, die nicht ebenso scheußlich, ebenso wild und böse, ebenso roh und dumm in mir selber wohnten.

Aufatmend erinnerte ich mich jener Inschrift, der ich vorher, beim Beginn des Theaters, jenen hübschen Jüngling so stürmisch hatte folgen sehen, der Inschrift:

Alle Mädchen sind dein

und es schien mir, alles in allem, doch eigentlich nichts anderes so begehrenswert wie dieses. Froh darüber, der verfluchten Wolfswelt wieder entrinnen zu können, ging ich hinein.

Wunderlich – so sagenhaft und zugleich so tief vertraut, daß ich aufschauerte – kam mir hier der Duft meiner Jugend entgegengeweht, die Atmosphäre meiner Knaben- und Jünglingszeit, und in meinem Herzen floß das Blut von damals. Was ich eben noch getan und gedacht hatte und gewesen war, sank hinter mir hinab, und ich war wieder jung. Noch vor einer Stunde, noch vor Augenblicken hatte ich recht wohl zu wissen geglaubt, was Liebe, was Begehren, was Sehnsucht sei, aber das war die Liebe und Sehnsucht eines alten Mannes gewesen. Jetzt war ich wieder jung, und was ich in mir fühlte, dieses glühend fließende Feuer, diese gewaltig ziehende Sehnsucht, diese wie Tauwind im März auflösende Leidenschaft, war jung, neu und echt. Oh, wie brannten die vergessenen Feuer wieder auf, wie schwellend und dunkel klangen die Töne des Ehemals, wie blühte es flackernd im Blut, wie schrie es und sang in der Seele! Ich war ein Knabe, fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, mein Kopf war voll von Latein und Griechisch und schönen Dichterversen, meine Gedanken voll von Streben und Ehrgeiz, meine Phantasien voll von Künstlertraum, aber viel tiefer, stärker und furchtbarer als all diese lodernden Feuer brannte und zuckte in mir das Feuer der Liebe, der Hunger des Geschlechts, die zehrende Vorahnung der Wollust.