Magisches Theater
Eintritt nicht für jedermann
– nicht für jedermann
Ich versuchte die Pforte zu öffnen, die schwere alte Klinke bewegte sich auf keinen Druck. Das Buchstabenspiel war zu Ende, plötzlich hatte es aufgehört, traurig, seiner Vergeblichkeit innegeworden. Ich trat einige Schritte zurück, trat tief in den Schmutz, es kamen keine Buchstaben mehr, das Spiel war erloschen, lange blieb ich im Schmutz stehen und wartete, vergebens.
Da, als ich es aufgab und schon auf den Bürgersteig zurückgekehrt war, tropften vor mir her ein paar farbige Lichtbuchstaben über den spiegelnden Asphalt. Ich las:
Nur – für – Ver – rückte!
Ich hatte nasse Füße bekommen und fror, dennoch blieb ich noch eine ganze Weile wartend stehen. Nichts mehr. Während ich noch stand und dachte, wie hübsch die zarten bunten Buchstabenirrlichter über die feuchte Mauer und den schwarzglänzenden Asphalt gegeistert waren, fiel mir plötzlich wieder ein Bruchstück aus meinen vorigen Gedanken ein: das Gleichnis von der golden aufleuchtenden Spur, die so plötzlich wieder fern und unauffindbar ist.
Ich fror und ging nun weiter, jener Spur nachträumend, voll Sehnsucht nach der Pforte zu einem Zaubertheater, nur für Verrückte. Ich hatte inzwischen die Marktgegend betreten, wo es an Abendunterhaltung nicht fehlte, alle paar Schritte hing ein Plakat und warb eine Tafeclass="underline" Damenkapelle – Varieté – Kino – Tanzabend – , aber dies alles war nichts für mich, es war für »Jedermann«, für Normale, welche ich denn auch überall in Scharen durch die Pforten drängen sah. Trotzdem war meine Traurigkeit ein wenig aufgehellt, es hatte mich doch ein Gruß der ändern Welt berührt, ein paar farbige Buchstaben hatten getanzt und auf meiner Seele gespielt und an verborgene Akkorde gerührt, ein Schimmer der goldenen Spur war wieder sichtbar gewesen.
Ich suchte die kleine altvaterische Kneipe auf, in der sich seit meinem ersten Aufenthalt in dieser Stadt, vor wohl fünfundzwanzig Jahren, nichts geändert hat, auch die Wirtin ist noch die von damals, und manche von den heutigen Gästen saßen auch damals schon hier, am gleichen Platz, vor den gleichen Gläsern. Ich trat in das bescheidene Wirtshaus, hier war Zuflucht. Zwar war es nur eine Zuflucht wie etwa die auf der Treppe bei der Araukarie, auch hier fand ich nicht Heimat und Gemeinschaft, fand nur einen stillen Zuschauerplatz, vor einer Bühne, auf der fremde Leute fremde Stücke spielten, aber schon dieser stille Platz war etwas wert: keine Menschenmenge, kein Geschrei, keine Musik, bloß ein paar ruhige Bürger an ungedeckten Holztischen (kein Marmor, kein Emailblech, kein Plüsch, kein Messing!) und vor jedem ein Abendtrunk, ein guter solider Wein. Vielleicht waren diese paar Stammgäste, die ich vom Sehen alle kannte, richtige Philister und hatten zu Hause in ihren Philisterwohnungen öde Hausaltäre vor blöden Zufriedenheitsgötzen stehen, vielleicht auch waren sie vereinsamte und entgleiste Burschen wie ich, stille gedankenvolle Säufer über bankrotten Idealen, Steppenwölfe und arme Teufel auch sie; ich wußte es nicht. Jeden von ihnen zog ein Heimweh, eine Enttäuschung, ein Bedürfnis nach Ersatz hieher, der Verheiratete suchte hier die Atmosphäre seiner Junggesellenzeit, der alte Beamte die Anklänge seiner Studentenjahre, alle waren sie ziemlich schweigsam, und alle waren sie Trinker und saßen gleich mir lieber vor einem halben Liter Elsässer als vor einer Damenkapelle. Hier warf ich Anker, hier war es für eine Stunde auszuhalten, auch für zwei. Kaum hatte ich einen Schluck Elsässer genommen, so spürte ich, daß ich heute noch nichts gegessen hatte außer dem Frühstücksbrot.
Wunderlich, was der Mensch alles schlucken kann! Wohl zehn Minuten las ich in einer Zeitung, ließ durch das Auge den Geist eines verantwortungslosen Menschen in mich hinein, der die Worte anderer im Munde breitkaut und sie eingespeichelt, aber unverdaut wieder von sich gibt. Das nahm ich zu mir, eine ganze Spalte lang. Und alsdann fraß ich ein gutes Stück von der Leber, die man aus dem Leib eines totgeschlagenen Kalbes geschnitten hatte. Wunderlich! Das Beste war der Elsässer. Ich habe die wilden heftigen Weine nicht gern, wenigstens nicht für den Alltag, die mit starken Reizen um sich werfen und berühmte Spezialgeschmäcke haben. Ich liebe am meisten ganz reine, leichte, bescheidene Landweine ohne besondere Namen, man kann viel davon vertragen, und sie schmecken gut und freundlich nach Land und Erde und Himmel und Gehölz. Ein Becher Elsässer und ein Stück gutes Brot, das ist die beste aller Mahlzeiten. Nun aber hatte ich schon eine Portion Leber in mir, aparter Genuß für mich, der selten Fleisch ist, und hatte den zweiten Becher vor mir stehen. Auch das war wunderlich, daß da irgendwo in grünen Tälern von gesunden braven Menschen Reben gebaut wurden und Wein gekeltert wurde, damit hier und dort in der Welt, weit von ihnen entfernt, einige enttäuschte, still schöppelnde Bürger und ratlose Steppenwölfe sich ein wenig Mut und Laune aus ihren Bechern saugen konnten.
Meinetwegen, mochte es wunderlich sein! Es war gut, es half, die Laune kam. Über den Wortbrei des Zeitungsartikels stieg mir nachträglich ein erleichterndes Gelächter auf, und urplötzlich fiel mir die vergessene Melodie jenes Bläserpiano wieder an, wie eine kleine spiegelnde Seifenblase stieg sie in mir hoch, glänzte, spiegelte bunt und klein die ganze Welt und ging sanft wieder auseinander. Wenn es möglich gewesen war, daß diese himmlische kleine Melodie heimlich in meiner Seele wurzelte und eines Tages in mir ihre holde Blume wieder mit allen lieben Farben emportrieb, konnte ich da ganz verloren sein? War ich auch ein verirrtes Tier, das seine Umwelt nicht begriff, so war doch ein Sinn in meinem törichten Leben, etwas in mir gab Antwort, war Empfänger für Anrufe aus fernen hohen Welten, in meinem Gehirn waren tausend Bilder gestapelt:
Giottosche Engelscharen aus einem kleinen blauen Kirchengewölbe in Padua, und neben ihnen gingen Hamlet und die bekränzte Ophelia, schöne Gleichnisse aller Trauer und alles Mißverständnisses in der Welt, da stand im brennenden Ballon der Luftschiffer Gianozzo und stieß ins Horn, trug Attila Schmelzle seinen neuen Hut in der Hand, stieß der Borobudur sein Skulpturengebirg in die Lüfte. Und mochten alle diese schönen Gestalten auch in tausend ändern Herzen leben, es waren noch zehntausend andere, unbekannte Bilder und Klänge da, deren Heimat und sehendes Auge und hörendes Ohr einzig in mir innen lebte. Die alte Hospitalmauer mit dem alten, verwitterten, fleckigen Graugrün, in deren Rissen und Verwitterungen tausend Fresken zu ahnen waren – wer gab ihr Antwort, wer ließ sie in seine Seele ein, wer liebte sie, wer empfand den Zauber ihrer zart hinsterbenden Farben? Die alten Bücher der Mönche, mit den sanft leuchtenden Miniaturen, und die von ihrem Volk vergessenen Bücher der deutschen Dichter vor zweihundert und vor hundert Jahren, alle die abgegriffenen und stockfleckigen Bände, und die Drucke und Handschriften der alten Musiker, die festen, gelblichen Notenblätter mit ihren erstarrten Tonträumen – wer hörte ihre geistvollen, ihre schelmischen und sehnsüchtigen Stimmen, wer trug ein Herz voll von ihrem Geist und ihrem Zauber durch eine andere, ihnen entfremdete Zeit? Wer gedachte noch jener kleinen, zähen Zypresse hoch am Berge über Gubbio, die von einem Steinsturz geknickt und gespalten war und doch das Leben festgehalten und einen neuen, spärlichen Notwipfel getrieben hatte? Wer ward der fleißigen Hausmutter im ersten Stock und ihrer blanken Araukarie gerecht? Wer las nachts überm Rhein die Wolkenschriften der ziehenden Nebel? Es war der Steppenwolf. Und wer suchte über den Trümmern seines Lebens den zerflatternden Sinn, litt das scheinbar Unsinnige, lebte das scheinbar Verrückte, hoffte heimlich im letzten irren Chaos noch Offenbarung und Gottesnähe?
Ich hielt meinen Becher fest, den die Wirtin mir wieder füllen wollte, und stand auf. Ich brauchte keinen Wein mehr. Die goldne Spur war aufgeblitzt, ich war ans Ewige erinnert, an Mozart, an die Sterne. Ich konnte wieder für eine Stunde atmen, konnte leben, durfte dasein, brauchte nicht Qualen zu leiden, mich nicht zu fürchten, mich nicht zu schämen.