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Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis sie aufbrechen konnten. Der seltsame Transportschlitten, den die Jared aus den Teilen eines kleinen Moroni-Gleiters konstruiert hatten, war wie durch ein Wunder fast unbeschädigt geblieben, und mit vereinten Kräften konnten sie die zentnerschwere Bombe und den wesentlich leichteren Taktikcomputer aufladen. Allerdings vertraute Charity der angeschlagenen Steuerungsanlage nicht mehr.
Charity drängte zum Aufbruch. Nach ihrer Erinnerung konnte der Sonnenaufgang im Gebiet von MacDonald in jedem Moment beginnen. Ihre Schutzanzüge waren alt, und nach Jahrzehnten ohne regelmäßige Wartung bargen sie mehr als nur ein kleines Risiko für ihre Träger. Und im Vakuum war es einfacher, einen Anzug zu heizen. Eine Überhitzung dagegen war viel schwieriger zu verhindern, und die Wahrscheinlichkeit, daß sie in der Sonnenhitze Probleme bekommen würden, war hoch. In ihrer momentanen Situation konnte ein Problem nur tödlicher Natur sein. Es gab keine Bagatellen in einer von Menschen und sogar von Moroni verlassenen Gegend.
Der Transportschlitten schwebte einen halben Meter über dem Mondstaub, der unter dem Druck des Feldes geringfügig nachgab. Soweit sie die Erklärungen der Jared verstanden hatte, verteilte das Feld einfach das Gewicht des Schlittens und seiner Ladung auf eine größere Fläche und in die Tiefe hinein. Platz war knapp bemessen, und keiner von ihnen konnte sich auf dem Schlitten von den vergangenen Strapazen erholen oder sich auf die kommenden Strapazen vorbereiten. Mit einer größeren Energiezelle hätte der Schlitten auch fliegen können wie der Gleiter, aus dessen ausgeschlachtetem Wrack er hervorgegangen war, aber das Gewicht einer solchen Zelle hätte seine Kapazität weit überstiegen - und ein Gleiter mit einem Schleppkabel zur Stromversorgung machte wenig Sinn.
Ihr Weg führte sie ziemlich genau an der Furche entlang, die die HOME RUN in den Mondboden gezogen hatte. Damit bewegten sie sich zwar fast parallel zum Massetreiber, aber die Abweichungen von der geplanten Bahn hatten sie weit über das Gelände hinausgetragen, und sie befanden sich in der Nähe der Wendeschleife, wo die leeren Boosterkäfige des Massetreibers umgelenkt und in die Ladehallen dirigiert wurden. Der Anfang der Beschleunigungsstrecke mußte irgendwo dort vor ihnen liegen, und Charity wollte den Weg durch die große Verladerampe, die sich seitlich von ihnen befinden mußten, um jeden Preis vermeiden.
Der Mondstaub wallte bei jedem Schritt um ihre Stiefel herum auf, blieb dann reglos in der Luft hängen, bevor er sich wie in Zeitlupe wieder senkte. Trotz der schweren Anzüge konnten sie sich leicht bewegen, verzögert wie in tiefem Wasser, aber ohne erkennbare Anstrengung. Skudder und Harris zogen mit improvisierten Riemen den Schlitten hinter sich her. Keiner von ihnen wollte riskieren, die Steuerungsanlage des Schlittens zu benutzen, mit dem Risiko, den Schlitten ganz zu verlieren. Es war ein bizarres, beinahe absurdes Bild - zwei Männer stemmten sich in Gurte und zogen einen Schlitten, der nicht auf Kufen über den unwegsamen Boden glitt, sondern in Kniehöhe schwebte, wie von Geisterhand getragen. Zusammen mit den anderen, die neben und vor ihnen dahinstapften, wirkten sie wie eine Polarexpedition, die zur falschen Zeit am falschen Ort war, auf der Suche nach Eis, das es auf diesem Himmelskörper seit Jahrmilliarden nicht mehr gab. Charity und Dubois leuchteten mit den Scheinwerfern den Weg ab, und hin und wieder stocherten sie mit dem Kolben ihrer Waffen im Mondstaub, um sich zu vergewissern, daß der Untergrund stabil war. Henderson, Steiner und Estevez gingen neben dem Schlitten, die entsicherten Gewehre in den Händen. In regelmäßigen Abständen lösten sie einander in den verschiedenen Rollen ab.
Auf diese Weise konnten sie in drei Stunden etwa zwölf Kilometer zurücklegen, bevor die Anstrengung sie langsamer werden ließ. Das Gelände wurde zerklüfteter, immer häufiger schoben sich Felsen wie spitze Zähne aus dem Mondstaub in die Höhe, und Geröll lag an den Hängen, die unmerklich immer mehr Neigung bekamen. Nach anderthalb Kilometern erreichten sie das Ende der Furche, die ihr Schiff hinterlassen hatte.
»Ein ziemliches Stück«, sagte Skudder, der wie Harris inzwischen zum dritten Mal vor dem Schlitten stand und deutlich schwerer atmete als am Beginn des Marsches.
Charity musterte mit leichtem Entsetzen die großen Felsbrocken, die den Anfang der Schleifspur säumten. Die HOME RUN hatte keinen davon erfaßt, zu ihrer aller Glück, denn an diesen großen Felsgebilden wäre die Hülle zerschellt wie eine Eierschale. Trümmerstücke, die sich beim ersten Aufprall gelöst haben mußten, lagen in kleinen und größeren Kratern.
»Wir haben viel Glück gehabt«, meinte Charity nur. »Legen wir eine kleine Rast ein. Wir haben vielleicht die Hälfte geschafft, und von hier an wird es nur noch unübersichtlicher.«
Sie bugsierten den Schlitten an ein vier Meter hohes Bruchstück eines Triebwerks heran und hockten sich in ihren Druckanzügen in die Senke, die die Wucht des Aufpralls gegraben hatte. Das pulverisierte Gestein schwebte wie federleichter Nebel um sie herum und senkte sich erst wieder, als sie eine Weile ruhig gesessen hatten.
Die Nahrungsaufnahme erforderte glücklicherweise mehr Geschicklichkeit als körperliche Anstrengung. Sie mußten kleine Tuben oder Flaschen an eine Öffnung vor dem Helmkinn anschließen. Innen im Helm war ein kleiner mechanischer Greifarm angebracht, dessen einzige Funktion es war, einen Schlauch bis zwischen die Lippen des Trägers zu führen. Preßte man den Behälter außen am Helm zusammen, dann gelangte bei offener Kupplung ein geschmackloser und farbloser Nährstoffbrei in den Mund des Unglücklichen, der in dem Druckanzug steckte.
Charity hing dunklen Gedanken nach, während sie lustlos auf der zweiten Tube herumdrückte, die angeblich Putenfleisch und Senfsoße enthielt. Der pappige Geschmack lenkte ihre Erinnerungen zu einen anderem Teil der Vergangenheit, die vor sechzig Jahren spurlos verschwunden war. Und das wiederum erinnerte sie an ein Versprechen. Nun, dieses Versprechen würde sie halten können.
»Skudder«, sagte sie.
»Ja?« Er drückte an einer eigenen Plastiktube herum, deren Inhalt ihm keine echte Begeisterung entlocken konnte.
»Du wolltest doch wissen, woher der Name MacDonald stammt«, sagte sie. Er nickte in seinem Helm. »Nun«, sagte sie und hob die dritte Tube, die sie in der Hand hielt, »sie waren berühmt für so etwas hier.«
Er verzichtete auf eine Antwort.
»Damals mußte man nicht auf den Mond, um solche Köstlichkeiten zu genießen«, fügte sie mit aufgesetzter Wehmut hinzu. »Damals, vor sechzig Jahren, da ging man einfach auf die andere Straßenseite oder setzte sich ins Auto; und schon war man da. Jeder konnte sich so etwas leisten.«
»Die gute, alte Zeit«, spottete Harris.
»Ja«, sagte sie grinsend. Dann drückte sie noch ein letztes Mal die Tube Putenfleisch in Senfsoße zusammen. Ihr Grinsen verschwand.
Verdammt, sie vermißte es tatsächlich.
»Vielleicht hat die Invasion auch ihre guten Seiten«, murmelte Skudder zwischen zwei Bissen.
Gerade als sie zu einer Antwort ansetzte, bemerkte sie aus den Augenwinkeln ein metallisches Blinken am Horizont.
»Funk aus«, sagte sie und ließ sich auf die Knie fallen. Die anderen starrten sie sekundenlang überrascht an. Wertvolle Zeit verstrich, bevor sie ohne weitere Worte gehorchten. Sie duckten sich nebeneinander in den Krater. Charity spähte aus der Deckung des zertrümmerten Triebwerks heraus die Furche entlang, die sie gekommen waren.
Acht silberne Scheiben bewegten sich auf den Absturzort der HOME RUN zu. Sie kamen aus der Richtung der Verladerampen oder von der dahinterliegenden Grube II. Charity hielt den Atem an und wartete auf die Kursänderung. Die Scheiben flogen einen leichten Bogen, näherten sich dann dem Boden und flogen weiter an der Furche entlang, noch immer dem Absturzort entgegen. Sie atmete erleichtert auf. Ein Mann robbte an ihre Seite. Trotz des abgeschalteten Helmlichts erkannte sie Skudder. Er tippte ihr rechtes Handgelenk an, und sie bemerkte, daß sie noch immer die Tube in der Hand hielt. Wütend verriegelte sie den Anschluß und befreite sich von dem Behälter.