Sie ließ den Helm zu ihm kippen, bis die Visierscheiben aneinanderlagen.
»Neun oder zehn Kilometer«, sagte sie mit gesenkter Stimme.
»Sie haben uns nicht entdeckt«, sagte Skudder mit mehr Sicherheit, als sie empfand. Sie entschloß sich, seinem Instinkt zu vertrauen.
»Fliegen zum Wrack«, sagte sie. »Also sind sie doch hier oben.«
»Ich vermute, daß sie das Wrack gründlich untersuchen werden«, versetzte Skudder. »Wie lange wird es dauern, bis sie bemerken, daß es Überlebende gegeben hat?«
»Keine Ahnung«, sagte sie. »In dem Durcheinander merken sie es nie, oder vielleicht schon nach zehn Minuten. Wir haben Spuren hinterlassen.« Sie stieß einen stummen Fluch aus. »Verdammt, wir sind viel zu sorglos gewesen.«
»Sie müssen uns erst mal finden.«
»Unsere Fußabdrücke werden noch in Millionen Jahre zu sehen sein«, versetzte sie grimmig, »viele kleine Schritte für einen Menschen ...«
»Was?«
»Vergiß es. Ich muß langsam mal auf das achten, was ich so rede.« Die Gleiter näherten sich inzwischen dem Horizont. »Wenn sie außer Sicht sind, packen wir ein und verschwinden.«
»Wohin?«
Sie sah nach hinten, wo die andern kauerten, die kein Wort von ihrer Diskussion mitbekommen konnten. »Zum Massetreiber. In zwei Stunden können wir dort sein, wenn wir ein wenig Glück haben.«
»Wäre ja mal etwas anderes«, meinte Skudder sarkastisch. »Dir ist klar, daß wir genau in ihre Arme laufen werden?«
»Wir haben keine andere Wahl«, bekannte sie offen. »Kein Sauerstoff, keine Deckung. Hier draußen sammeln sie uns ein wie Fallobst. Zwischen den Hallen und Maschinenanlagen können sie uns wenigstens nicht orten, und das Gelände ist unübersichtlich. Wir könnten uns Jahre dort versteckt halten. Und wenn die Schienenbahnen noch funktionieren, können wir in einer halben Stunde tausend Kilometer zwischen sie und uns legen.«
»Wenn man uns nicht am Fahrkartenschalter erwischt«, sagte er mit spürbaren Widerwillen. »Ich fürchte, du hast recht. Uns gehen langsam die Möglichkeiten aus.«
»Nur gut, daß wir gerade Rast gemacht haben«, murmelte sie und blickte zu dem aufragenden Antriebsteil, unter das sie sich geduckt hatten. »Dieser ganze Schrott hat uns wenigstens vor ihren Ortungsgeräten abgeschirmt.«
Eine Vierergruppe senkte sich plötzlich herab und verschwand hinter dem Horizont. Vermutlich waren sie gelandet, während die anderen vier zur Sicherheit ihre Position beibehielten.
»Warum haben die so lange gebraucht?« sagte Charity. »Das frage ich mich schon die ganze Zeit. Selbst wenn sie am anderen Ende von Grube II gewesen wären, hätten sie nur ein paar Minuten gebraucht, bevor sie über uns gewesen wären. Wir hätten keine Chance gehabt. Und sie wußten, daß wir kommen. Wir haben uns laut genug angekündigt.«
»Sie haben uns schließlich abgeschossen«, stimmte Skudder zu.
»Warum also erst jetzt?« Sie runzelte die Stirn. »Oder kommen die gar nicht von der Basis?«
»Wie meinst du das?«
»Die Moroni-Anlagen müssen ja nicht hier sein. Vielleicht liegen wir ganz falsch.« Sie lachte. »Im wahrsten Sinne des Wortes.«
Die zweite Vierergruppe verlor an Höhe und verließ ihre Sicherungsformation. Im nächsten Moment waren alle Gleiter außer Sicht.
Charity schaltete das Funkgerät auf dem militärischen Kanal ein, der nur geringe Leistung hatte. »Los, verschwinden wir«, sagte sie und bedeutete den anderen, ihr zu folgen. »Wenn wir mit heiler Haut hinter die Hügelkette kommen, haben wir sie erst mal abgehängt.«
Sie packten hastig zusammen und setzten den Transportschlitten in Bewegung, wobei jeder sich bemühte, den westlichen Horizont im Auge zu behalten, ohne dabei aufzufallen. Innerhalb von zwanzig Minuten waren sie, in völliger Funkstille und mit vereinten Kräften den Transportschlitten ziehend, bis an die Hügelkette gelangt, die sich auf der anderen Seite als abgetragener Überrest eines ehemals riesigen Einschlagkraters zeigte, der inzwischen nicht mehr war als ein ziemlich langweiliges Plateau, bedeckt mit kleineren Kratern, die einige hundert Millionen Jahre jünger sein mochten. Im Schatten des sanft geschwungenen Kraterrandes stolperten sie auf dieses Plateau hinunter, und diesmal war ihr größtes Problem, ein Abgleiten des Schlittens zu verhindern. Charity gestattete sich ein Gefühl des Triumphes, als sie wohlbehalten im Krater angelangt waren.
So standen sie und rangen nach Luft, als plötzlich die Hügelkuppen in einem hellen Licht schimmerten, daß zunächst nur wenige hochragende Stellen erfaßte, sich dann aber langsam immer mehr ausbreitete. Es war, als zöge sich ein Saum aus weißem, kaltem Feuer über das Mondgestein. Dubois und Harris hatten ihre Waffen in den Händen, bevor sich irgend jemand bewegen konnte.
»Was ist das?« fragte Skudder, als er sich instinktiv hinter einen Felsbrocken geduckt hatte. Die anderen waren seinem Beispiel gefolgt. Er winkte hastig.
»Geh runter«, rief er. Das Licht war immer intensiver geworden. Charity blieb stehen, schutzlos auf der freien Fläche, die behandschuhten Fäuste in die Seite gestemmt. Sie schüttelte den Kopf, während sie von einem ihrer Begleiter zu den anderen sah, die ganz kleine Schar verteilt hinter dem spärlichen Sichtschutz, den Felsen und Staub bieten konnten.
Plötzlich begann sie aus vollem Halse zu lachen. Es war ein befreiendes Lachen, in dem schlagartig die ganze Last der letzten Stunden von ihr fiel, und obwohl es ein wenig hysterisch begann, wurde es immer lauter und kräftiger, je länger es dauerte. Sie lachte Tränen, hielt sich hilflos den Bauch und zeigte mit dem Finger auf ihre völlig entgeisterten Begleiter. Skudder rappelte sich auf, blieb aber auf Distanz, als wäre, was immer sie erwischt hatte, durchaus in der Lage, von Druckanzug zu Druckanzug auch ihn anzustecken. Womit er vollkommen recht hatte. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und stützte sich gegen einen Felsen hinter ihr. Vergessen waren die Moroni, die Jared, die Toten, vergessen war die Bombe.
»Was ist so verdammt komisch«, brüllte Skudder los. Sie versuchte mühsam, die Beherrschung zu wahren, und platzte wieder heraus.
»Keine Panik«, brachte sie schließlich heraus. Ihr Gesicht glättete sich, und sie streckte ihm die Hand entgegen. »Komm her«, sagte sie und unterdrückte einen weiteren Lachanfall. In dem Moment, in dem er zu ihr kam, schimmerte plötzlich auch ihr Helm in diesem Licht, und als er sich hastig umdrehte, sah er die Quelle dieses intensiven Lichtes.
»Jetzt«, sagte Charity mit unüberhörbarem Sarkasmus, »geht für uns die Sonne auf.«
*
Die Bunkerstadt hatte sich in den Wochen von Stones Abwesenheit nachhaltig verändert. Seit das Bombardement durch die Moroni-Streitkräfte beendet war, hielten die Jared auch die Oberfläche besetzt. Stellenweise war der Sand zu Glas geschmolzen, und die freien Flächen markierten die Stellen, an denen hochradioaktive Trümmer in der Luft abgefangener Raketen herabgestürzt waren, aber die Vegetation hatte den größten Teil der Ruinen von Köln bereits zurückerobert. Es war eine seltsam veränderte Vegetation, knorrige, schwarze Gewächse, deren blauschwarze Blätter keine Ähnlichkeit mit irdischen Pflanzen hatten. Es gab auch andere, pilzartige Formen, die Stone irgendwie an das Nest im Dom erinnerten.
Die Bunkerstadt selbst sah einem Nest täuschend ähnlich. Viele der unterirdischen Hallen und Gänge wurden nicht mehr beleuchtet, und das, was Stone in den anderen Räumen gesehen hatte, ließ ihn nicht gerade den Wunsch nach mehr Licht verspüren. Seitdem der Höhepunkt des Krieges zwischen Jared und Moroni überschritten war, waren die Ameisen unter den Jared in der Überzahl, und die Menschen, die in die Gemeinschaft der Jared aufgenommen worden waren, hatten sich in ihren Gewohnheiten ihren nichtmenschlichen Partnern angeglichen.