»Es ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Charity.
»Ganz genau.« Sie tippte sich mit dem Finger an das Helmvisier. Solange sie in der Vakuumröhre waren, wollte keiner von ihnen riskieren, mit einem offenen Anzug von einem Leck überrascht zu werden. Dekompression brachte keinen schönen Tod, und das Ende kam längst nicht so schnell wie der Druckverlust selbst. »Es ergibt keinen Sinn, und wir ziehen den Kopf ein, soweit wir können.«
»Wieviel haben wir noch vor uns?« fragte der Indianer. Sie warf einen Blick zu den Kontrollen neben der Zugangstür. Harris, Henderson und Dubois behielten die Bildschirme im Auge, während Estevez vor den Fenstern am anderen Ende der Kabine stand. Der Blick nach hinten hatte Charity seekrank werden lassen, aber der Frau machte er anscheinend nichts aus. Sie fragte sich, ob es überhaupt irgend etwas gab, das Estevez aus der Ruhe bringen konnte. Die Bombe, die Harris und sie dort hinten abgestellt hatten, vermochte es jedenfalls nicht.
»Zwei Kilometer«, sagte sie dann. »Den Rest könnten wir fast zu Fuß gehen.«
»Kein guter Gedanke.«
»Ja, vermutlich nicht.« Sie dachte an den Transportschlitten, der gerade lange genug durchgehalten hatte, und an den Weg, den sie hinter sich hatten. Dann murmelte sie einen halblauten Fluch. »Ich würde wirklich gerne wissen, wieviel gemeingefährlicher Blödsinn uns auf dem Weg noch begegnet wäre«, fügte sie dann hinzu.
»Deine Neugier wird dich noch mal den Kopf kosten«, versetzte Skudder. »Oder zumindest ein paar Barthaare.«
»Wie bitte?« fragte Harris, der zu ihnen herübersah.
»Eine Redewendung«, erklärte Charity müde. »Neugier war der Katze Tod.«
»Ach so.«
Sie warf einen mißmutigen Blick auf ihn und die anderen Soldaten. »Baseballfans haben anscheinend einen kleinen Wortschatz«, sagte sie boshaft.
»Wahrscheinlich, weil die Schach-Eröffnungen soviel Platz im Kopf beanspruchen«, meinte Skudder leichthin und trat ihr unbemerkt gegen das Schienbein. Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu, hielt aber den Mund, als er sie warnend anblickte. In der Reflexion seines Helmvisiers erkannte sie Dubois, die noch immer zu ihnen herübersah, und unwillkürlich stellten sich ihre Nackenhaare auf. Von einem Augenblick zum anderen wußte sie, daß sie Dubois in Zukunft nicht mehr den Rücken zuwenden würde.
»Paranoia«, sagte sie. »Ich glaube, wir sollten wirklich eine Spielunterbrechung beantragen.«
»Ich sehe keinen Schiedsrichter«, erwiderte Skudder, und das war eine deutliche Warnung.
Im nächsten Moment stand abrupt die Kabine still, und sie stürzten übereinander.
»Verdammt«, stieß Charity hervor, als sie wieder atmen konnte. »Ich hab's gewußt.«
»Großartig«, ächzte Skudder, der das Pech hatte, zwischen ihr und der Frontscheibe eingeklemmt worden zu sein. »Könntest du bitte deinen Ellenbogen aus meinen Eingeweiden ziehen?«
Sie plagte sich wortlos auf. Ihr linkes Knie knickte ein, und nachdem sie es vorsichtig wieder belastet hatte, hatte sie die traurige Gewißheit, daß zu ihren übrigen Blessuren noch eine gründliche Verstauchung hinzugekommen war.
Skudders Gesicht wirkte trotz der getönten Helmscheibe ziemlich farblos.
»Ist irgendwas gebrochen?« erkundigte sie sich erschrocken. Er schüttelte langsam den Kopf. Sie sah sich nach Dubois um, entdeckte sie zwischen zwei Sitzreihen. Harris hing halb bewußtlos an der Konsole, die unter seinem Aufprall die Frontverkleidung verloren hatte. Estevez hatte den weitesten Weg zurückgelegt, über die hinteren drei Sitzreihen hinweg, und die Bombe war ihr ein gutes Stück weit gefolgt. Der einzige, dem anscheinend nichts zugestoßen war, schien Henderson zu sein. Vermutlich hatte er Übung in solchen Dingen.
»Alles in Ordnung?« fragte Charity laut und humpelte an der ersten Sitzreihe vorbei.
»Bei mir schon«, sagte Dubois, die inzwischen wieder auf den Beinen war.
»Kümmern Sie sich um Harris«, sagte Charity und beugte sich über Estevez. Die Augen der Frau waren weit geöffnet, und im ersten Moment dachte sie, Estevez habe sich das Genick gebrochen, aber als Charity sie an der Schulter berührte, blinzelte sie plötzlich und richtete den Blick auf Charitys Gesicht. Es war, als habe man eine Maschine wieder eingeschaltet, die sich sekundenlang selbst blockiert hatte. Unwillkürlich fuhr Charity zurück. Estevez ignorierte ihre Reaktion. Sie kam ohne Hilfe auf die Beine.
»Die Bombe«, sagte sie dann.
Charity begegnete ihrem beunruhigenden Blick und nickte. Sie fühlte sich regelrecht erleichtert, als Estevez sich umdrehte und zu dem Behälter ging, der wie ein großes Geschoß in die Sitzreihe eingeschlagen war.
»Wo sind wir?« fragte Skudder. Er lehnte mit dem Rücken an der Frontscheibe, und seine Stimme klang noch immer ziemlich gepreßt.
»Hundert Meter vor unserer Haltestelle«, antwortete sie grimmig und deutete an ihm vorbei. Vor ihnen in der Röhre leuchtete ein Bahnsteig. Die Ausstiegröhre ragte einen Meter weit in die Vakuumröhre hinein, und das rote Licht an der geschlossenen Türschleuse blinkte regelmäßig.
»Warum haben wir gehalten?« fragte Dubois.
»Keine Ahnung«, sagte Charity unhöflich. »Es war nicht meine Idee.«
»Irgendeine Fangschaltung«, sagte Harris, der sich auf Dubois stützten mußte. »Die Konsole hat nichts angezeigt, also muß es draußen passiert sein.«
»Direkt in die Magnetschienen verdrahtet«, stimmte Charity zu. »Wenn wir schneller gewesen wären, dann würden unsere Überreste da vorne liegen, vom Bahnsteig aus zur Besichtigung freigegeben.«
»Du bist vielleicht paranoid, aber deshalb mußt du dich noch lange nicht irren«, scherzte Skudder mühsam.
»Das ist wirklich sehr witzig«, sagte sie, und der harsche Tonfall in ihrer Stimme überdeckte ihre Sorge. Skudder wirkte ziemlich angeschlagen. Sie trat an die Konsole heran, die erstaunlicherweise noch funktionierte, obwohl sie sich unter Harris' Aufprall verformt hatte.
»Versuchen wir, ob wir die letzten Meter auch noch schaffen«, sagte sie.
»Ich komme mir vor wie in einer riesigen Kanone«, murmelte Henderson, der durch die Frontscheiben in die taghell erleuchtete Vakuumröhre starrte. Der Vergleich war unglaublich ermutigend.
»Halten Sie den Mund«, versetzte Charity knapp.
Die Kabine setzte sich mit einem merklichen Ruck wieder in Bewegung. Der Zylinder schob sich wie eine überdimensionale Konservendose in die Station hinein. Das Licht aus dem luftgefüllten Bereich auf der anderen Seite der großen Panoramascheiben glitt durch die Kabine, deren Innenbeleuchtung bei der Notbremsung zu schwachem Rot gewechselt hatte. Charitys rechte Hand schwebte dicht über dem Notschalter, und sie beobachtete aufmerksam die Geschwindigkeitsanzeige. Die anderen sammelten schweigend die herumliegende Ausrüstung und die Waffen ein. Harris schnallte sich mit Estevez' Hilfe die Bombe auf den Rücken, eine Last, die er nur aufgrund der niedrigen Mondschwerkraft bewältigen konnte, und Skudder nahm den Taktikcomputer.
Der Koppelschlauch der Schleuse passierte das vordere Ende der Kabine. Charity überließ der automatischen Kontrolle das Andockmanöver, aber sie hielt sich bereit, den Vorgang jederzeit zu unterbrechen. Instinktiv überprüfte sie Helm und Anzug. Wenn sich die Schleuse statt auf den Bahnsteig ins Vakuum öffnen sollte, würde die Kabine innerhalb von Sekundenbruchteilen luftleer sein. Ohne Druckanzug hätte keiner von ihnen den Hauch einer Chance. Die Kabine hielt an, und außen am Zylinder scharrten mechanische Kontakte und schlossen sich. Die Lichtanzeige über der Tür wechselte auf Grün.