»Das ist sechzig Jahre her«, sagte Skudder.
»Erinnere mich nicht daran«, versetzte sie knapp. »Diese Gänge sind nicht besonders groß, und sie verlaufen schnurgerade bis zur Zentrale. Niemand kann sich dort verstecken, und die Wände sind massiv. Der ganze Komplex ist ein massiver Block, der innerhalb des Verteilerringes schwingungsfrei aufgehängt ist. Wenn irgend etwas hinter dieser Tür ist, das nicht von den Geschossen zerfetzt wird, dann werden wir es sehen können, sobald es uns sieht. Und im Gegensatz zu uns hat es keine Deckung.«
Skudder sah sich vielsagend auf dem Treppenabsatz um, auf dem sie standen. Von ihrer Position aus konnten sie den größten Teil des Ringabschnittes unter ihnen überblicken, aber zum Zugang hin hatten sie keinen nennenswerten Schutz.
Charity nickte ungeduldig. »Wir werden rechts und links von der Tür stehen müssen«, sagte sie. »An der Wand.«
»Direkt neben der Sprengladung«, sprach Skudder seine Befürchtungen aus.
»Direkt daneben«, gab sie widerwillig zu. »Verdammt, es gefällt mir sowenig wie dir, aber hast du einen besseren Vorschlag?«
»Ich bleibe auf der Rolltreppe«, meldete sich Dubois. »Ich kann von dort aus den Gang einsehen, wenn die Zugangstür aufgesprengt ist, nicht wahr?«
»Sie liegen dort wie auf dem Präsentierteller«, sagte Charity warnend und wunderte sich über sich selbst.
Dubois sah sie nur an.
»Wenn die Tür verstärkt worden ist oder wenn eine zusätzliche Barriere dahinter aufgebaut worden ist, reißt der Rückschlag der Hohlladung Sie die Treppe hinunter«, versuchte Charity es noch mal.
»Ich weiß«, erwiderte Dubois beinahe sanft.
»Na schön«, sagte Charity und war plötzlich auf sich und auf Dubois wütend, die offenbar auf alles eine Antwort hatte. »Ihre Beerdigung, Dubois. Bringen Sie die Ladung an, Harris. Bomben sind doch Ihre Spezialität, oder?«
Harris gehorchte wortlos. Sie fing Skudders Blick ein. Er schüttelte leicht den Kopf, und sie wandte sich ab; sie war noch zorniger als zuvor. Mit mechanischen Bewegungen begann sie damit, noch einmal ihre Waffe zu überprüfen. Sie tauschte ein halbvolles gegen ein volles Magazin aus und suchte sich dann einen Platz neben der Tür. Sie hielt sich ziemlich nah an der Kante und beobachtete Harris, der die Hohlladung montierte, bereit, in Deckung zu gehen, falls sich die Tür plötzlich von allein öffnen sollte. Skudder stellte sich hinter sie. Sie sah sich nicht zu ihm um, aber sie wußte, daß er sie anschaute. Plötzlich spürte sie seine Hand, die durch den schweren Anzugstoff hindurch ihre Schulter drückte. Unwillkürlich versteifte sich ihr Körper, aber dann erkannte sie die Berührung als Ermutigung, und sie entspannte sich ein wenig.
»Danke«, sagte sie leise, ohne sich umzudrehen. Harris sah flüchtig in ihre Richtung und blickte dann wieder auf den flachen Behälter, den er mit einem Unterdruckverschluß an die Tür geheftet hatte. Er setzte einen Zylinder in den Behälter ein, der so dick wie sein Handgelenk war und zwanzig Zentimeter lang.
»Fertig«, sagte er und sah Charity an. Sie warf einen Blick auf Dubois, die sich flach auf den Boden preßte, das Gewehr im Anschlag. Ihre Beine hingen die ersten Stufen der Rolltreppe hinaus. Falls sich die Rolltreppe jetzt in Bewegung setzen sollte, würde die Frau einfach mitgerissen werden. Dann würde sie vermutlich den ganzen Treppenabsatz in Schutt und Asche legen, dachte Charity mißmutig.
»Okay«, sagte sie laut. »Nehmen Sie die andere Seite, Harris, und ziehen Sie den Kopf ein.«
»Verstanden«, sagte er.
»Zwanzig Sekunden.« Er betätigte den kleinen Drehschalter an der Bodenfläche des Zylinders und rollte sich hastig an der Wand ab. Der Schalter begann hastig zu blinken.
Zehn, elf, zwölf, zählte Charity stumm mit und rückte dann von der Tür ab, preßte sich mit dem Rücken an die Wand und gegen Skudder, der hinter ihr kaum noch Platz hatte. Falls sie sich verschätzt hatte, würde sie wenigstens den größten Teil von der Explosion von ihm abhalten können. Sechzehn, dachte sie und legte den Kopf in den Nacken. Ihr Blick richtete sich auf Dubois. Die Frau sah sie an.
»Viel Glück«, sagte sie beinahe gegen ihren eigenen Willen. Dann kam der unvermeidliche dumpfe Schlag, und die ganze Wand bäumte sich hinter ihr auf. Die breitstreuende Hohlladung durchschlug die Tür und schmolz sich einen glühendheißen Weg in den Raum dahinter, füllte ihn über mehrere Meter hinweg mit einer Stichflamme und heißem Gas. Im nächsten Moment feuerte Dubois zwei Granaten durch die entstandene Öffnung. Der Rückschlag der zweifachen Explosion riß die Fetzen der Tür auseinander und ließ Dubois rücklings auf die Rolltreppe fallen, und dann folgte eine Kette von kleineren Explosionen, die den ganzen Komplex zu erschüttern schien.
Die neu entfachte Wut machte Charity einen Moment lang blind. Wieder war es Skudders Hand, die sie in die Gegenwart zurückholte.
Es blieb ruhig. Dubois schob sich die Rolltreppe wieder hinauf und brachte ihre Waffe in Anschlag, aber ihre Schüsse wurden nicht erwidert.
»Wenn die Tür gehalten hätte, hätten uns die Granaten in Stücke gerissen«, sagte Charity, und ihre Stimme war eiskalt.
»Die Granaten oder die Hohlladung«, erwiderte Dubois ungerührt. »Das Risiko mußte ich eingehen.« Sie kam auf die Knie. »Sehen Sie sich's an.«
Charity lag eine bittere Entgegnung auf der Zunge, aber sie hielt den Mund. Sie ging in die Hocke und warf einen Blick in den Gang. Durch Rauchschwaden und Qualm hindurch entdeckte sie die zerschmolzenen Umrisse einer automatischen Kanone. Die Explosionen hatten den gesamten Aufbau von dem Dreibein gerissen.
Harris beugte sich vor. Sein Zieldisplay schimmerte wie eine glühende Spielkarte in seinem Helm.
»Marie hätte keine Chance gehabt, wenn sie erst hingesehen hätte«, sagte er nach einer Weile.
»Und wir hätten keine Chance gehabt, wenn sie das verdammte Loch verfehlt hätte«, erwiderte Charity.
Dubois stand auf und näherte sich der Tür. Neben Charity blieb sie stehen.
»Ich habe nicht verfehlt«, sagte sie. »Können wir jetzt gehen?«
Charity sah ihr und Harris nach. »Ich bin zu alt für solche Sachen«, sagte sie erschöpft und warf Skudder einen Blick zu, der ihm riet, sich jedes Kommentares zu enthalten.
Zu alt, wiederholte sie in Gedanken und erkannte, daß es mehr als eine gedankenlos hingesagte Floskel war. Zu viele Erinnerungen.
»Bist du okay?« fragte Skudder besorgt. Sie lächelte ihn an, dunkel hinter ihrem staubbedeckten Helmvisier. Es war das erste Lächeln, seit dieser Wahnsinn begonnen hatte.
»Nein«, sagte sie ehrlich. »Aber ich kann noch aufrecht gehen. Was kannst du noch verlangen?«
»Nichts«, sagte er und erwiderte ihr Lächeln. »Es tut gut, dein Gesicht zu sehen. Ohne diese Gewitterwolken.«
Sie sagte nichts darauf. Er deutete eine Verbeugung an, mühsam genug mit dem stummen Würfel auf dem Rücken, und ließ ihr mit einer absurd höflichen Geste den Vortritt. Sie wand sich zwischen den glühenden Resten der Tür hindurch und folgte Harris. Die beiden Soldaten hatten die zehn Meter entfernten Reste der Laserkanone erreicht und warteten. Der Gang wirkte, als sei er aus den Fugen geraten. Die Explosion der Energiezelle hatte die Plastikdämmung aus den Wänden gerissen. Ein Teil davon schwelte noch. Charity beglückwünschte sich stumm zu ihrem Druckanzug und seiner geschlossenen Luftversorgung.
»Computergesteuert«, sagte Harris, als sie die Überreste erreicht hatte. »Irgendein automatisches Zielsystem.«
»Genau wie die Kanonen in der Bahnhofshalle«, stimmte Charity zu.
»Aber wie?« fragte Skudder hinter ihr.
»Bewegungssensoren, Schallsensoren, was weiß ich.« Sie fühlte sich müde. »Oder Infrarot. Ich schätze, man hat irgendeine einfache Elektronik an die Waffe angeschlossen und ein simples Programm installiert.« Sie ging in die Hocke und tastete mit dem Handschuh zwischen den heißen Trümmern herum. »Sobald sich irgend etwas verändert, schießt ihr.«