»Zwanzig Kilometer.« Die Ameise wartete ihre Reaktion ab, sprach dann weiter, als sie stumm blieb. »Der Durchmesser hat sich gegenüber vorher fast verdoppelt.«
Charity hatte das undeutliche Gefühl, daß Kias ihr das wahre Ausmaß der Katastrophe verheimlichte, aber was sie gehört hatte, genügte ihr für den Augenblick. Als sie gestartet waren, hatte das Loch einen Durchmesser von ein paar Kilometern gehabt, und die Beben der verformten Erdkruste hatten sie noch in Köln aus dem Schlaf gerissen. Das Universum war aus den Fugen geraten, und anderthalb Lichtsekunden entfernt war nichts davon zu spüren, dachte sie beklommen, und dann hatte sie eine Idee.
»Zu welchen Zeitpunkten sind die seismologischen Aufzeichnungen angefertigt worden?« fragte sie Harris.
»In der Zone um Grube II?« Er blickte zum Würfel hinüber.
»Die ersten Erschütterungen wurde vor drei Monaten registriert«, teilte der Computer nach ein paar Sekunden Wartezeit mit. »Zu diesem Zeitpunkt werden auch deutlich mehr Radarkontakte als früher verzeichnet, mehr als während der gesamten Zeit seit der Invasion.«
»Das war, bevor die Schwarze Festung angegriffen wurde«, sagte Skudder nachdenklich.
»Und wann sind die letzten Daten aufgenommen worden?« fragte Charity.
»Vor anderthalb Wochen«, antwortete der Würfel prompt. »Zu Beginn blieb die Häufigkeit der registrierten Erschütterungen konstant. Es gab eine Unterbrechung von mehreren Tagen genau zu der Zeit, als die Black-Hole-Bombe gezündet wurde. Danach folgen drei Wochen zunehmender Bodenaktivität.«
»Drei Wochen.« Charity sah zu dem Bildschirm hinauf, zu der Jared-Ameise, die geduldig wartete. »Wir haben die Moroni nicht aufspüren können«, erklärte sie, »aber wir haben gewissermaßen ihre Fingerabdrücke entdeckt. Sie haben Material aus den Tagebaugebieten fortgeschafft, und es sieht so aus, als hätten sie dazu einen Transmitter verwendet.«
»Bis vor anderthalb Wochen?« vergewisserte sich Kias.
Charity lachte grimmig. »Das ist der springende Punkt, was? Hier oben gab es einen funktionierenden Transmitter, während die Black-Hole-Bombe alle anderen Zugänge zum Transmitternetz zerstört hat, und er war danach noch in Betrieb.«
»Die Botschaft hätte in dieser Zeit gesendet werden können«, sagte Kias.
»Die Asche ist noch nicht kalt«, kommentierte Skudder spöttisch.
Charity nickte humorlos. »Ich möchte mit Gurk sprechen«, sagte sie. »Er kennt das Transmitternetz ja angeblich wie seine eigene Hosentasche. Vielleicht hat er eine Idee.«
»Ich werde sehen, was sich machen läßt«, sagte Kias. »Es kann einige Zeit in Anspruch nehmen.«
»Wir laufen nicht weg«, sagte Charity. »Irgend etwas Neues über Kyle und die anderen?«
»Captain Laird, die genannten Personen sind seit vier Wochen verschollen.« Kias wirkte ernstlich erstaunt. »Sie waren am Pol. Wie kommen Sie auf den Gedanken, daß diese Personen überlebt haben könnten?«
»Nun, man gibt die Hoffnung nicht auf«, murmelte sie. »Ich schlage vor, wir unterbrechen den Kontakt.«
Kias verschwand drei Sekunden später vom Bildschirm, wortlos in der spartanischen Höflichkeit, die die Jared mit den Moroni gemeinsam hatten.
»Das gibt uns Stoff zum Nachdenken, was?« Skudder starrte noch immer auf den weißen Bildschirm.
»Zumindest haben wir den weiten Weg nicht umsonst gemacht«, warf Dubois ein. Der Gedanke schien sie tatsächlich zu freuen, erkannte Charity.
»Und vielleicht müssen wir den Rückweg nicht zu Fuß machen«, bemerkte Harris.
»Ich werde freiwillig keinen Transmitter mehr betreten«, versetzte Charity knapp. Dann fiel ihr Blick auf den Bildschirm vor Harris, und sie stieß einen anhaltenden Pfiff aus.
»Deshalb die Abfrage über die Startanlagen«, sagte Harris anerkennend. »Drei Startbuchten am kleinen Katapult sind leer, aber in der vierten Startbucht liegt ein Lasttransporter.«
Die Kamera zeigte einen kapselförmigen Schwerlast-Transporter mit den Hoheitszeichen der Space Force in einer zylinderförmigen Startbucht. Der Name war nicht zu entziffern, aber das Transportschiff entstammte derselben Baureihe wie die HOME RUN; bevor sie den Moroni in die Zangen gefallen war. Die gewaltigen Kranausleger an der Decke der Halle waren dazu gedacht, den Transporter auf die Katapultstrecke zu versetzen, deren Abschußröhre unmittelbar vor der Bucht begann.
»Typisch«, sagte Charity halblaut. »Irgendwas hat er immer herumliegen lassen, mein Ex-Mann.«
»Nun, diesmal war es nicht sein Fehler«, entgegnete Harris und tippt mit dem Finger auf das Status-Protokoll auf dem anderen Monitor. »Der Computer sagt, daß die Triebwerke hinüber sind. Das Ding kommt bis in die Umlaufbahn und noch ein Stück darüber hinaus, aber ohne Hilfe kommt es nie wieder herunter.«
Charity zuckte die Achseln. »Nun, es wäre wohl zuviel verlangt gewesen.«
»Glück ist wie Seife«, sagte Harris. »Wenn man es aufgebraucht hat, dann findet man nur noch Dreck.«
Die Bemerkung erinnerte Charity an das Bad, von dem sie geträumt hatte. Sie registrierte seinen vielsagenden Blick.
»Halten Sie lieber den Mund«, sagte sie nur. »Seit wir diese verfluchte Botschaft empfangen haben, habe ich für Rätsel nichts mehr übrig.«
»Nun, wir sind auf der dunklen Seite des Mondes«, sagte Skudder. »Ich wüßte nicht, was wir mit den paar Wortfetzen noch mehr anfangen sollten.«
Charity beugte sich vor und schaltete die Bildschirme wieder auf Harris' Pult um. Die Kameras zeigten das Tagebaugebiet, friedlich und völlig leer im gleißenden Sonnenlicht.
»Sieh genau hin«, sagte sie zu Skudder.
Er tat es. »Und?« sagte er nach einer Weile.
»Blödsinn«, sagte sie. »Dieses ganze Gerede über die dunkle Seite des Mondes ist schlicht und ergreifend Blödsinn.«
»Was ist daran Blödsinn?« wollte Harris wissen.
»Verdammt noch mal, macht die Augen auf und seht hin.« Sie kam auf die Füße, eine zu schwungvolle Bewegung, die in der niedrigen Schwerkraft leicht lächerlich wirkte, und stieß mit ausgestrecktem Zeigefinger in Richtung auf die Bildschirme. »Das da draußen ist Sonnenlicht. Der Mond hat keine dunkle Seite. Ich meine keine Seite, die immer dunkel ist. Von der Erde aus bekommt man die Rückseite nie zu Gesicht, aber sie hat trotzdem Tag und Nacht, genau die der Erde zugewandte Seite. Wir waren draußen, als der Sonnenaufgang kam. Es gibt einfach keinen Unterschied.«
Harris' Gesichtsausdruck wäre eine Eintrittskarte wert gewesen.
»Vielleicht suchen wir in der falschen Richtung«, warf Skudder ein.
»Wie meinst du das?«
»Nun, jedes Ding hat zwei Seiten.«
»Eine Kugel nicht. Verdammt, spiel keine Rätselspiele mit mir«, sagte Charity gereizt.
»Sogar eine Kugel«, erwiderte der Indianer grinsend. »Denk doch mal an die Gruben. Wenn es schon kein hinten und vorn gibt, dann auf jeden Fall oben und unten oder besser außen und ...«
»Innen«, vollendete Charity ironisch. Dann erinnerte sie sich an die paar Worte, die sie entziffert hatten.
»Natürlich«, sagte sie entgeistert. »Ich werde verrückt. Die Innenseite. Die dunkle Seite des Mondes ist INNEN!«
Das große Finale!
Wie Charity in das Innere des Mondes vordringt, lesen Sie im zehnten Band:
DIE DUNKLE SEITE DES MONDES
Charity, die ins 21. Jahrhundert versprengte Raum-pilotin der Space Force, ist am Ende eines langen Weges angekommen. Gegen alle Hoffnung nahm sie den Kampf gegen die außerirdischen Besatzer der Erde auf.
Und sie hat sie aus ihrem Sonnensystem vertrieben - beinahe jedenfalls.