Darrag schluckte. Er konnte doch seine Freunde nicht verraten. Er wollte nie so werden wie die Feiglinge, die mit den Orks zusammenarbeiteten.
»Ich weiß nicht, was du willst!« antwortete er mit gepreßter Stimme. »Es gibt niemanden, dem ich Waffen gegeben habe, seit die Orks in der Stadt sind.«
»In einer Hinsicht hast du recht, Schmied. Du kannst wirklich nicht wissen, was ich will.«
Der Fremde faßte mit der Linken unter sein Wams, während er mit dem Schwert in der Rechten immer noch nach Darrags Kehle zielte. Er zog einen kleinen Siegelring heraus, der golden glänzte, und warf ihn auf den Tisch neben die Puppe.
»Sieh dir das an, Schmied. Ich bin sicher, so etwas hast du noch nicht gesehen, auch wenn du wahrscheinlich schon viel darüber gehört hast.« Darrag griff nach dem Ring und musterte ihn aufmerksam. Er zeigte einen Greifenkopf. Das Symbol der Inquisition! Wer so etwas bei sich trug und nicht zur Inquisition gehörte, wäre des Todes! Wieder musterte er den Ring. Eine sehr feine Arbeit! Eine solche Fälschung schaffte nur ein ausgezeichneter Goldschmied. Immerhin konnte er den Ring aber auch von einem Toten haben.
»Was soll mir das sagen?« fragte der Schmied. »Daß Ihr auch schon einen Inquisitor getötet habt?«
Statt einer Antwort zog der Fremde eine lederne Rolle aus dem Wams, öffnete sie und holte ein gerolltes Pergament heraus.
»Du kennst die Geschichten, die man sich über das Siegelwachs der Kaiser erzählt. Das Wachs, mit dem die Urkunden der Lehensträger gesiegelt werden, und andere Dokumente, die in den falschen Händen den Wert verlieren sollen?«
Darrag hatte davon gehört. Es war ein dunkelrotes Siegelwachs, das angeblich auf magische Weise seine Farbe änderte und schwarz wurde, wenn es in die falschen Hände geriet.
»Siehst du dieses Dokument?« Der Fremde starrte ihn ernst an. »Ich kann nicht lesen«, antwortete Darrag ärgerlich.
»Du sollst es auch nicht lesen, du sturer Hornochse.« Der Fremde lächelte. »Sieh dir das Siegel an!«
Es war von einem tiefen Rot und zeigte einen Fuchskopf.
»Jetzt nimm du das Dokument, Darrag. Sei vorsichtig und sieh dir genau das Siegel an!«
Unsicher griff der Schmied nach dem Dokument. Das Wachs änderte die Farbe. Darrag erbleichte. Unsicher legte er es auf den Tisch. Er hatte noch nie einen Zauber wirken sehen. Noch immer war das Siegelwachs schwarz.
»Und nun schau noch einmal genau her!« Der Fremde nahm das Pergament, und wieder veränderte das Siegel seine Farbe. Im Nu wurde es dunkelrot. Langsam rollte er das Schreiben zusammen, schob es in die Lederhülle und verbarg es wieder unter dem Wams.
»Gut«, murmelte Darrag, »du bist also ein Mann des Prinzen. Und was willst du von meiner Frau und meinen Kindern? Sie haben niemandem etwas getan. Wir waren immer auf Seiten des Kaiserreichs. Ihr seid ungerecht, wenn Ihr ihnen etwas zu leide tut.«
»Niemand will etwas von ihnen, Schmied. Wahrscheinlich sind sie noch damit beschäftigt, Kohl einzukaufen. Ich sah die drei vorhin aus dem Haus kommen und zum Markt gehen. Meine Geschichte war erfunden. Ich mußte wissen, ob du deine Freunde verraten würdest. Du hast diese Prüfung bestanden, doch solltest du lernen, dein Temperament besser im Zaum zu halten. Sag mir jetzt, auf wen man in dieser Stadt noch im Kampf gegen die Orks rechnen kann! Schon morgen Nacht will ich die Schwarzpelze aus ihrer Zitadelle werfen, doch dazu brauche ich noch Verbündete. Du sollst mir helfen, denn dir traue ich jetzt. Und entschuldige, wenn ich mich erst jetzt vorstelle. Ich bin Marcian, der neue Inquisitor für die Grafschaft Greifenfurt, und trage auch den Rang eines Obristen. Man hat mich geschickt, um diese Stadt von Orks zu befreien. Und ich brauche Männer wie dich. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen, wenn ich deine Loyalität zunächst so grausam erproben mußte. - Bevor ich es vergesse: In wessen Auftrag ich hier bin, bleibt zunächst unser Geheimnis. Du sollst der einzige sein, der weiß, daß ich ein Inquisitor bin.«
Marcian reichte dem Schmied die Hand. Darrag zögerte, dann griff er zu und drückte die Hand fester, als nötig gewesen wäre. Der Inquisitor verzog keine Miene. Lancorian fluchte vor sich hin. Eine Schande war es, den exzellenten Wein mit Gift zu versetzen. Er hätte niemals gedacht, daß er so tief sinken würde. Patriotische Gefühle hatte er dabei nicht. Bisher hatte er es nie nötig gehabt, die Welt in Freunde und Feinde zu unterteilen. Es gab nur Leute, die er mochte, und andere, die ihm gleichgültig waren. Er war nie gut in Intrigenspielen gewesen. Und jetzt hatte er auch noch den Eindruck, daß Marcian ihm nicht die volle Wahrheit sagte. Warum war er so versessen darauf, sich mit den Orks anzulegen? Wenn der Sieg der Kaiserlichen so nahe war, warum konnte er dann nicht die paar Wochen warten, bis die Armee des Prinzen vor den Toren der Stadt stand? Warum jetzt einen Aufstand riskieren? Jedenfalls hatte Marcian sein Ziel erreicht. Gerade jetzt mußte er in einem verborgenen Keller vor den Rebellen stehen, um ihnen seine Pläne darzulegen. Lancorian schmunzelte. Wenn er an die Greifenfurter Bürger dachte, konnte er sich nicht vorstellen, daß sein Freund viele Gleichgesinnte um sich geschart hatte. Insgeheim stellte er sich dicke Händler und Tuchmacher vor, für die die Revolte nicht mehr war als ihr liebstes Stammtischthema. Der Erfolg des Unternehmens würde davon abhängen, daß sein Schlafgift wirkte und daß Lysandra mit ihren Freischärlern wie versprochen um Mitternacht vor dem Andergaster Tor auftauchte. Zweifelnd blickte der Magier über seinen Arbeitstisch. Ein Schlafgift war in der ganzen Stadt nicht zu bekommen. Vielleicht wollten ihm die Heiler und Apotheker aber auch deshalb keines verkaufen, weil sie insgeheim unterstellten, daß es bei seiner Arbeit in der Fuchshöhle eingesetzt würde und daß sie es vielleicht sogar am eigenen Leib zu spüren bekämen. Der Gedanke an die Bürger und ihre Doppelmoral ließ Lancorian einen Moment vor Wut erschaudern. Dann blickte er wieder über die Zutaten zum Schlaftrunk. Zwei Alraunenwurzeln, Ilmenblätter, einige schwarze Gänsedaunen und ein wenig Boronwein. Laut Rezeptur hätte eine der Alraunenwurzeln drei mal sieben Tage im Boronwein liegen sollen. Lancorian zuckte mit den Schultern. Das klappte nicht mehr. Da hätte Marcian sich schon ein wenig eher an ihn wenden müssen. Er würde es mit drei mal sieben Stunden probieren. Schließlich mußte der Trunk morgen nacht fertig sein.
Er legte die Ilmenblätter und sieben Gänsedaunen in eine kupferne Pfanne, um sie über kleiner Flamme zu rösten. In der Akademie war er als Alchemist nie sonderlich gut gewesen. Seitdem hatte er sich mit diesem Gebiet fast gar nicht mehr beschäftigt. Hoffentlich ging die Sache gut! Es machte ihn nervös, wenn er daran dachte, daß vielleicht Menschenleben vom Erfolg seiner Versuche abhingen.
Die Daunenfedern waren mittlerweile zerfallen und die zerriebenen Ilmenblätter zu schwarzen Krümeln verbrannt. Vorsichtig füllte er das Ganze in einen bronzenen Mörser und zerstieß es zu feinem schwarzen Pulver. Morgen abend würde er alle Ingredienzen zusammengeben und einen starken Schlafzauber auf den Trank legen. Sollte sich das Ganze dann zu einem zähflüssigen Sirup verdicken, dann war sein Zauber geglückt. Mit einem schweren Almadaner Wein vermischt würde der Schlaftrunk schon wirken. Der Wein alleine hatte es schließlich schon in sich.
Selbstzufrieden schmunzelte Zerwas in sich hinein. Er hatte die Gestalt eines kräftigen jungen Mannes angenommen, der ihn vor langer Zeit einmal für eine Nacht beherbergt hatte. Mit kaltem Lächeln erinnerte sich Zerwas an den erstaunten Blick des Holzfällers, als er starb. Man sollte sich in der Einsamkeit der Wälder halt besser überlegen, wem man Tür und Tor öffnete. Hier in der Stadt war es anders. In den letzten Woche hatte er nur noch wenig gemordet, obwohl die Besatzung der Orks im Vergleich zu früheren Zeiten wesentlich bessere Möglichkeiten bot. Als noch Priester in der Stadt waren, hatte er vorsichtiger sein müssen. Deshalb war er auch jetzt hier in diesem Keller. Schon gestern spürte Zerwas, daß sich etwas änderte. Plötzlich war jemand in der Stadt, der auch ihm gefährlich werden konnte. Darrag, der sich für seinen Freund hielt, hatte ihn über dieses Treffen der Verschwörer informiert. Hier zu sein bei dieser Versammlung war wichtig für ihn. Er durfte auf keinen Fall eine so grundlegende Veränderung versäumen. Es gab nun zwei Möglichkeiten, seine Macht zu steigern. Er konnte die Verschwörer an die Orks verraten. Statt die Orks zu überwältigen, würden sie dann in eine Falle laufen. Das gäbe eine blutige Nacht für Greifenfurt. Und genau das war der Punkt. Es würde eine blutige Nacht für Greifenfurt. Sollte er den Aufrührern helfen, bestanden gute Aussichten, die Besatzer aus der Stadt zu werfen. Aber nur vorübergehend. Wenn die Karten für den Prinzen so gut stünden, wie dieser Mann mit den weißen Schläfen hier vor den Verschwörern behauptete, dann wäre es nicht nötig, den Orks eine wichtige Nachschubbasis zu nehmen. Die kaiserlichen Armeen würden die Schwarzpelze einfach überrennen. Wahrscheinlicher war, daß diese Rebellion das Ziel hatte, Kräfte der Orks im Hinterland zu binden und so die Armee zu schwächen, die gegen den Prinzen kämpfte. Wenn dem so war, würden die Orks bald wieder vor den Toren der Stadt stehen. Es würden noch katastrophalere Zustände herrschen als jetzt, und vor allem würde sehr viel mehr Blut fließen. Die Vorstellung vom Leid einer ganzen Stadt erregte Zerwas. Sie würden büßen, was man ihm einst angetan hatte. Er würde zum Rachegott, der diese Stadt in Elend und Vernichtung stürzte. Er wollte die Einwohner leiden sehen. Lange leiden! Genauso, wie er damals im Angesicht der Greifenfurter lange gelitten hatte. Nun würde er zuschauen, wie diese Stadt zugrunde ging.