So sehr Marcian auch über den Sinn des Unternehmens nachdachte, es blieb ihm rätselhaft. Aus einer der vier Hütten am Rande des Platzes trug der Nachtwind einen lauten Seufzer zu ihm. Er hatte die Sklaven tagsüber beobachtet, wohl vierzig ausgemergelte Frauen und Männer. Auch wenn man hörte, daß es ausnahmslos gefangene Kämpfer waren, würden sie so schnell kein Schwert mehr führen. Die Sklaven in eine gute körperliche Verfassung zu bringen würde eine ganze Weile dauern. Marcian fuhr herum und duckte sich noch tiefer in den Schatten. Schritte näherten sich. Er konnte die große gedrungene Gestalt des IngerimmGeweihten ausmachen. Mit einem leisen Pfiff gab er sich ihm zu erkennen.
Wenige Augenblicke später waren alle versammelt. Nur die Elfen und der Zwerg fehlten. Er hatte ihnen dringend davon abgeraten, in die Stadt zu kommen. So gut konnte keine Verkleidung sein, daß die Orks nicht gemerkt hätten, wen sie da vor sich haben. Sie sollten morgen um Mitternacht versuchen, über die Außenmauer in die Garnison einzudringen und heimlich das Tor öffnen. Wieder dachte der Inquisitor verärgert an Zerwas. Hoffentlich würde er nicht auffallen und alles verderben. Doch jetzt galt es, sich auf wichtigere Dinge zu konzentrieren. Mit leiser Stimme sprach er mit seinen Leuten noch einmal seinen Plan durch. Sie sollten alle gemeinsam in der Fuchshöhle gegen die Offiziere vorgehen. Sollte es Schwierigkeiten geben, brauchte er hier Männer und Frauen, denen er vertrauen konnte. Sobald dies geregelt war, würden sie sich in mehrere Gruppen aufteilen.
Die Stadttore mußten schnell in ihre Gewalt gebracht werden, und sobald Lysandra mit ihren Leuten eindrang, würden sie sich die Garnison vornehmen.
Auf Fackelzüge und Aufrufe, die die Bürger aus den Betten holten, würde er verzichten. Damit würde man nur das Überraschungsmoment für den Angriff auf die Garnison verspielen, und militärisch waren bewaffnete Bürger fast ohne Wert. Nein, er würde lieber auf die wenigen Männer, mit denen er gesprochen hatte, und auf die kampferprobten Freischärler vertrauen, die Lysandra vor die Tore der Stadt führte. Als alles besprochen war, trennten sich die Verschwörer wieder. Unauffällig verließen sie den Platz in die verschiedenen Richtungen. Marcian war erleichtert, daß es alle bis Greifenfurt geschafft hatten. Das war ein gutes Omen. In vierundzwanzig Stunden würde sich erweisen, ob die Götter auf seiner Seite waren. Manchmal kamen dem Inquisitor Zweifel, ob er das Richtige tat. Doch nun würde er erst einmal bei Lancorian und einem hübschen Mädchen Ablenkung suchen.
Marican brauchte Ruhe. Fast glaubte er, ein Fieber habe von ihm Besitz ergriffen, als er zur Fuchshöhle zurückkehrte. Lancorian war nicht zu sehen. Wahrscheinlich stand er wieder auf der verborgenen Wendeltreppe, um die Gäste der Mädchen zu beobachten und seine Zauber zu wirken.
Außer dem Inquisitor hielt sich kein weiterer Gast mehr in der Schankstube auf. Einige Mädchen saßen gelangweilt an einem Tisch und warteten auf späte Freier. Neugierig blickten sie zu Marcian hinüber, der Wein bestellt hatte.
Die ersten Becher stürzte er wie Wasser in sich hinein. Marcian wollte sich schnell betrinken, um seiner üblen Stimmung zu entgehen. Er war nervös wegen der nächsten Nacht. Er mußte zu vielen vertrauen. Sollte nur einer der Eingeweihten den Plan zum Aufstand an die Orks verraten, würden sie alle in die Falle laufen, und wer das Pech hatte zu überleben, würde zum Opfer für den Blutgott Tairach.
Seit dem Treffen der Verschwörer fühlte Marcian sich elend. So als würde eine unbekannte Kraft ihm den Lebenswillen und die Zuversicht stehlen. Manchmal fragte er sich sogar selbst, ob der Aufstand sinnvoll sei. Er würde auf jeden Fall etliche Greifenfurter das Leben kosten, und sollte Prinz Brin nicht schnell genug mit seinem Heer erscheinen, konnte der Aufstand sogar die Vernichtung der Stadt und all ihrer Einwohner bedeuten. Daran, daß die Stadt mehr als nur Nachschubbasis für die Orks war, zweifelte Marcian nicht mehr, seit er die tiefe Grube auf dem Platz der Sonne gesehen hatte. So viel Energie würden die Schwarzpelze nur aufwenden, wenn es Großes zu gewinnen gab. Aber was? Mit verschleiertem Blick starrte der Inquisitor zum Tisch der Mädchen hinüber. Der Wein wirkte bereits. Er fühlte sich freier. Auch freier von all den Vorschriften, die der Großinquisitor ihm einzubleuen versucht hatte. Träge musterte er die Mädchen, die mittlerweile gemerkt hatten, daß er herüberstarrte und sich aufreizend in Pose setzten. Eine Blonde stand auf und kam zu ihm herüber. Sie strich ihm übers Haar.
»Na, mein großer Krieger, willst du nicht aufhören, so wild zu stieren, und mich statt dessen dein Feuer aufnehmen lassen?«
Der Inquisitor schätzte Anzüglichkeiten dieser Art nicht. Lallend schob er sie beiseite. Er wollte Cindira, die dunkelhaarige Schönheit aus dem Süden, die ihn schon in der letzten Nacht beglückte. Glücklich hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt. Genaugenommen seit dem Tag, an dem er seine Geliebte auf dem Scheiterhaufen sah und nicht die Kraft und den Mut fand, ihren Tod zu verhindern. Sein Ruhm und die Inquisition hatten ihn verblendet. Auf Befehl des Barons legte er damals selbst die Fackel an den Scheiterhaufen. Niemals würde er die Schreie seiner Geliebten vergessen, als die Flammen nach ihr griffen, und ihr Betteln um einen schnelleren Tod klang ihm noch in den Ohren. Der Henker hatte ihr vor der Hinrichtung eine zauberkräftige Wurzel in den Rachen geschoben, so daß sie nicht schnell durch die Gnade eines Erstickungstodes erlöst wurde, sondern langsam verbrannte. Man hatte Marcian Vorhaltungen gemacht, wie er sich als Inquisitor auf eine Hexe hatte einlassen können. Seine Gunst beim Baron hatte er verspielt, und man schickte ihn weit fort. Für Jahre war er in Al'Anfa im tiefsten Süden des Kontinents. Er versuchte sich in allen Lastern, die diese sündige Stadt zu bieten hatte. Seine Tarnung war perfekt. Niemand hätte in dem vermeintlichen, reichen Kaufmannssohn, der Nacht für Nacht in den Bordellen und Spielhöllen der Stadt zubrachte, einen Inquisitor vermutet. Marcian hatte die Kunst des Intrigenspiels gelernt. Er kannte den Piraten El Harkir und konnte sich brüsten, ihm zu seinem Plan geraten zu haben, den alanfanischen Hochadmiral Paligan von dessen Flaggschiff zu entführen.
Es war ein Gedankenspiel von ihm gewesen, eine Idee, die er im Rausch dahergelallt hatte. Damals glaubte er sogar, einen Krieg verhindern zu können. Für ihn war es nicht mehr als das aberwitzige Gerede einer durchzechten Nacht. Doch El Harkir hatte diesen Wahn in die Tat umgesetzt, tollkühn im Hafen das Flaggschiff geentert und den Admiral mitten aus seiner Flotte entführt.
Statt so den Krieg zu verhindern, wie Marcian im Suff geglaubt hatte, hatte er die Kampfhandlung geschürt. Vielleicht war es ja sein Schicksal, dachte der Inquisitor, daß alles, was er im Guten begann, sich zu einem schrecklichen Drama verselbständigte. Als der Krieg ausgebrochen war, hatte er sich für Wochen in einer Rauschkrauthölle im Hafen verkrochen. Er konnte sich nur vage an diese Zeit erinnern. Erst von dem Moment an, als Dorban, sein Leibdiener, ihn dort gefunden hatte und nach Gareth zurückbrachte, konnte er sich wieder klarer erinnern. Der Großinquisitor Baron Dexter Nemrod hatte ihn dazu beglückwünscht, auf diese Weise den Krieg mit verursacht zu haben. Indem sich das Sultanat und Al'Anfa gegenseitig zerfleischten, war die Machtposition des Kaiserreichs nur gefestigt worden.
Fünf Jahre war das nun her. In dieser Zeit hatte er seinen Körper mit endlosen Übungen gestählt. Hatte das Gift der Drogen aus seiner Seele gespült, doch seine Trauer, seine Melancholie hatte er nicht besiegen können. Sein Leben war verpfuscht. Er fühlte sich so niedergeschlagen wie damals in Al'Anfa, und die dunkelhaarige Cindira erinnerte ihn an seine liebste Gespielin aus dieser Zeit. Sie konnte zwar keine neue Liebe in ihm entfachen, doch verstand sie es meisterhaft, ihn vergessen zu lassen.