Vor dem Tor erklangen gedämpfte Rufe. Marcian schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte durch die Schießscharte. Dutzende Schatten näherten sich vom Rand der Felder. Einige Reiter waren dabei und gut hundert Kämpfer zu Fuß, soweit sich das bei der Dunkelheit überblikken ließ. Marcian wandte sich um und stieg die Treppe hinunter. Im Torbogen stand Darrag und verteilte Wurfanker und Seile an die Freischärler. Neben ihm hatte Lysandra ihr Pferd gezügelt und scherzte mit einigen ihrer Leute, die das Tor passierten. Sie sah aus wie die Inkarnation Rondras. So hatte sich Marcian die Kriegsgöttin immer vorgestellt. Jeder Zoll eine Kriegerin. Lysandra trug einen bronzenen Muskelpanzer sowie polierte Arm- und Beinschienen, auf denen sich rot das Licht der Fackeln spiegelte, dazu einen prächtigen Helm mit einem Kamm aus weißem Pferdehaar. Wo sie sich diese Rüstung wohl beschafft hatte? Sie sah nicht so aus, als hätte sie ein Jahr in einem Versteck in der Wildnis gelegen. Und wenn, dann mußte Lysandra viel Zeit mit Waffenputzen verbracht haben. Marcians eigene Rüstung lag sorgfältig versteckt in einem hohlen Baum ein paar Meilen vor der Stadt. Es wäre unmöglich gewesen, sie unauffällig im Gepäck eines Augenarztes unterzubringen, und so hatte er sich am Morgen, bevor er in die Stadt ritt, von ihr getrennt.
Wieder blickte Marcian bewundernd zu Lysandra. Vor ein paar Nächten, als er die Amazone zum ersten Mal getroffen hatte, trug sie schlichte Lederkleidung. Jetzt war allein schon ihr schwarzer Umhang mit dem aufgestickten weißen Löwen einer Fürstin würdig. Sie würde den Männern und Frauen Mut machen. Und Mut würden sie brauchen, wenn es Zerwas und den Agenten nicht gelungen war, die Tore der Garnison zu erobern. Ein Sturm über die Mauern würde blutig. Doch der Inquisitor hatte keinen Zweifel, daß die Amazone auch in diesem Fall eine der ersten sein würde, die auf den Mauern der Festung stünde. Sie sah wie die Heldinnen in den Sagen der Bänkelsänger aus.
Stöhnend erhob sich Zerwas. Es bereitete ihm jedesmal unsägliche Schmerzen, wenn er seine Gestalt veränderte. Wie ein Dämon hatte er mit den gewaltigen Fledermausflügeln ausgesehen, und noch immer stand ihm das Bild des Turmwächters vor Augen. Die Orks galten als hartgesottene Kämpfer, doch dem Kerl hatte die Angst regelrecht die Kehle zugeschnürt, als er auf den Zinnen des Bergfrieds gelandet war. Der Wächter war nicht einmal mehr in der Lage gewesen, sein Schwert zu ziehen, bevor er ihm die Kehle herausriß. Zerwas wischte sich mit dem Arm über den Mund. Das Blut der Orks brachte ihm zwar genauso neue Kraft wie das eines Menschen, aber es war einfach nicht so schmackhaft. Irgendwie bitter, mit einem leicht metallischen Beigeschmack.
Argwöhnisch betrachtete er seine Hände. Seine Gestalt war jetzt wieder vollständig menschlich, und er war nackt. Sein großes Schwert hatte er sich mit einem breiten ledernen Gurt vor die Brust gebunden. Trotzdem war es beim Fliegen sehr hinderlich gewesen. Jetzt schnallte er sich die Waffe über den Rücken. Um die Taille hatte er sich ein langes Seil gewickelt. Sorgfältig knüpfte Zerwas eine Schlinge und ließ das Seil die Mauer des Turms hinuntergleiten. Die anderen sollten denken, er sei durch den Fluß geschwommen. Das würde auch erklären, warum er nackt war. Vorhin, als das Licht des Madamais für einen Augenblick durch die Wolken gebrochen war, hatte er drei Gestalten auf dem anderen Flußufer gesehen. Das mußten die anderen sein, von denen Marcian bei dem Treffen der Verschwörer gestern nacht erzählt hatte. Zerwas war sich sicher, daß er ihre Hilfe nicht brauchen würde. Es wäre ihm lieber gewesen, die Tore der Festung im Alleingang zu öffnen. Zerwas hob sein Schwert vom Boden und trennte dem Toten den Kopf ab. Der Griff der Klinge verursachte ein angenehmes Kribbeln in seiner Handfläche. Er spürte, wie es den Arm heraufkroch und langsam von seinem Körper Besitz ergriff. Er war unbesiegbar!
Mit einem Ruck öffnete er die Bodenluke, die von der Plattform ins Innere des mächtigen Turms führte. Langsam schlich er die lange, gewundene Treppe hinab und durchsuchte jeden Raum. Die Quartiere der Ork-Offiziere waren leer. Außer dem Wächter auf der Plattform gab es im ganzen Turm kein lebendes Wesen. Erst in den Verliesen, tief unter der Erde fand Zerwas einige angekettete Sklaven. Sie schliefen. Sollten sie bleiben, wo sie waren. Würde er sie jetzt befreien, wären ihm diese ausgemergelten Gestalten nur hinderlich, auch wenn sie alle einmal Krieger gewesen waren. Die Sklaverei hatte ihren Kampfesmut schon lange gebrochen.
Zerwas stieg aus den Kellergewölben wieder nach oben. Nur eine Pforte führte aus dem gewaltigen Turm hinaus. Eine kleine Tür mit schweren Eisenbeschlägen sicherte den Eingang. Daneben lehnte ein Balken, mit dem sie von innen versperrt werden konnte. Die Pforte war unverschlossen. Die Orks fühlten sich in der Festung völlig sicher. Seit sie vor einem Jahr Greifenfurt eroberten, hatten die Bürger keinen nennenswerten Widerstand geleistet.
Vorsichtig öffnete Zerwas die Pforte und blickte über den Innenhof der Burg. Niemand war zu sehen. Er stieß die Tür ganz auf und schaute sich noch einmal um. Dann nahm er den schweren Balken. Er würde ihn auf die andere Seite des Hofs zu den Stallungen bringen. Sollte es beim Angriff doch ein paar Orks gelingen, sich in den Turm zu flüchten, würden sie eine böse Überraschung erleben, wenn sie versuchten, die Pforte von innen zu verriegeln. Er schob das große Schwert wieder in den Ledergurt und band es sich über den Rücken. Dann bückte der Vampir sich nach dem Balken. Das verdammte Ding war elendig schwer. Schmerzhaft verkrampften sich seine Rückenmuskeln, als er den Türbalken anhob. Einen Augenblick konzentrierte sich Zerwas auf die Kräfte des Schwertes. Wieder spürte er, wie das Prickeln durch seinen Körper floß, und plötzlich war der Balken in seinen Armen nicht schwerer als ein dürrer Ast.
Die drahtigen kleinen Orkpferde schnaubten unruhig und schabten mit den Füßen über den Boden, als Zerwas in den Stall kam. Tiere hatten Angst vor ihm. Sie schienen sein wahres Wesen zu erkennen. Aus dem Torhaus, das den Durchgang zwischen der inneren Burganlage und dem großen, vorgelagerten Hof sicherte, drang Licht. Das Grölen der Wächter war bis zu den Ställen zu hören. Im Schatten der Mauer schlich der Vampir bis zu einer steinernen Treppe, die zum Wehrgang führte. Um in das Torhaus zu gelangen, mußte er durch den Turm, der den westlichen Eckpunkt der oberen Burganlage sicherte. Die Mauern stießen hier in einem stumpfen Winkel zusammen. In den früheren Tagen waren auch in den Türmen Mannschaftsquartiere untergebracht gewesen. Wollte er sicher sein, daß ihm keine Orks in den Rücken fielen, mußte er den Turm durchsuchen. Nein, er würde sie nicht in den Betten töten. Da er im Grunde keine Feinde fürchten mußte, konnte er es auch darauf ankommen lassen, daß ihm die Turmbesatzung in den Rücken fiele, wenn der Kampf mit den Torwächtern lang und lautstark würde. Weiter im Süden war an der Mauer ein metallisches Geräusch zu hören. Zerwas beugte sich über die Brüstung. Obwohl er im Dunklen besser sah als tagsüber, brauchte er eine Weile, bis er in der Finsternis etwas erkennen konnte. Es waren die anderen, die versuchten, in die Garnison einzudringen. Sie hatten einen Wurfanker über die Mauer geworfen und kamen nun einer nach dem anderen über die Brüstung geklettert. Sie würden sich um das zur Stadt hin gelegene Haupttor kümmern. Zerwas schmunzelte. Er sollte ein wenig Lärm machen und die Aufmerksamkeit der Verteidiger auf sich lenken. Den anderen würde es dann leichter fallen, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie waren schließlich nur Sterbliche. Vorsichtig drückte der Vampir die Pforte des Turms auf und lauschte auf Geräusche aus dem Inneren. Das gleichmäßige Atmen mehrerer Orks war zu hören. Vorsichtig schlich er durch die Tür. Eine Wendeltreppe verband die verschiedenen Ebenen des Turms miteinander. Sowohl über ihm als auch unter ihm schienen Orkkrieger untergebracht zu sein. Langsam schlich er zur anderen Seite der Turmkammer und öffnete die Tür. Nur noch wenige Schritte trennten ihn vom Torhaus. Plötzlich hörte er über sich einen schweren Seufzer und dann Schritte! Einer der Orks war wach geworden. Langsam kamen die Schritte die Treppe herunter. Nervös blickte sich Zerwas um. Jetzt wollte er noch keinen Kampf. Zunächst mußte er das Tor sichern. Er drückte sich in eine der großen Schießscharten in der Turmwand. Der Ork kam so dicht an ihm vorbei, daß er ihn mit ausgestreckter Hand hätte berühren können. Er war nackt und wirkte schlaftrunken. Mit unsicheren Schritten wankte er durch die Tür, die zum Torhaus führte. Doch er ging nicht zu seinen Kameraden. Sollte der Krieger vielleicht doch etwas gemerkt haben? Vorsichtig schlich Zerwas zur Tür. Der Ork stand auf den Zinnen der Mauer und pinkelte in hohem Bogen in den Fluß. Die Gelegenheit war günstig! Zerwas schlich durch die Tür und geduckt unter den Zinnen entlang. In dem Moment, wo er ihn von hinten greifen wollte, drehte sich der Ork um. Entsetzt blickte er in das Gesicht des Vampirs, der seine mörderischen Zähne entblößte. Zerwas preßte ihm die Hand auf den Mund und zerrte den Ork von der Mauer. Er strampelte verzweifelt mit den Beinen und versuchte sich zu befreien. Zerwas drückte ihm seine Finger in die Augen. Immer verzweifelter wurden die Befreiungsversuche des Orks. Dann erschlafften seine Glieder. Blut floß ihm aus den Augen. Zerwas beugte sich über seinen Hals und schlug ihm die Zähne in die Schlagader. Er wollte wenigstens einen Teil des Blutes haben. In den letzten Monaten hatte er sich sehr zurückhalten müssen, um kein Aufsehen in der Stadt zu erregen. Es wäre eine Schande, jetzt nicht zuzulangen. Sobald er mit den anderen Seite an Seite kämpfte, hätte er keine Gelegenheit mehr, seine Triebe auszuleben.