Marcian hatte schon am Nachmittag nach dem Sieg die Gemächer des Sharraz Garthai im Bergfried bezogen. Was wohl aus dem Ork werden mochte? Der Inquisitor konnte sich nicht vorstellen, daß man dem Verweser der neuen Provinz den Verlust der wichtigsten Stadt verzeihen würde. Auf der anderen Seite hatte auch der Schwarze Marschall erst vor wenigen Wochen eine wichtige Schlacht verloren, und den Kopf hatte ihn das nicht gekostet. Noch heute morgen erzählte er den Bürgern, daß es nur noch wenige Tage, im schlechtesten Fall vielleicht zwei Wochen, dauern würde, bis der Prinz mit seiner Armee vor den Toren der Stadt stünde. Er wußte es natürlich besser. Der Schwarze Marschall hatte sich längst von der Niederlage erholt, und seine Truppen waren immer noch stark genug, um der Armee des Prinzen die Stirn zu bieten. Die Kaiserlichen würden Glück und einen großen Sieg brauchen, um bis nach Greifenfurt durchzubrechen. Diesen Sieg mußte es spätestens bis Anfang des Sommers geben, denn sonst würden die Bauern und auch viele Adlige die Armee des Prinzen verlassen, um zu Hause die Ernten einzubringen. Nur mit den Berufssoldaten aus den Garnisonen war die Armee zu klein, um einen Angriff auf die Orks zu wagen. War nicht zum Monat Praios eine Entscheidung gefallen, konnte es sein, daß Greifenfurt erst im nächsten Frühling befreit würde. In diesem Fall wären Marcian und alle Bürger in der Stadt verloren. Ohne die Freischärler Lysandras hatte er kaum brauchbare Kämpfer. Die Frage war auch, wie lange er sie in der Stadt behalten konnte. Die Amazone hätte am liebsten schon heute nachmittag Greifenfurt wieder verlassen. Sie schien die Gefahr zu ahnen, der sie und ihre Leute hier ausgesetzt waren. Würde Greifenfurt belagert, gäbe es kein Entkommen mehr. Auch wenn er ihre Grausamkeit nicht mochte, mußte Marcian schon zugeben, daß ihm Lysandras Fürsorge für die Kämpfer an ihrer Seite gefiel. Von den eigenen Leuten wurde sie geradezu vergöttert. Der Inquisitor mußte sie hier in der Stadt behalten! Sie gehörte zu denjenigen, zu denen die Leute auch in hoffnungsloser Lage noch aufschauten. Ihr würde man bis zuletzt glauben, daß es noch die Möglichkeit der Rettung gab. Er hingegen würde sich mit der Zeit unbeliebt machen. Er mußte alle unangenehmen Aufgaben übernehmen. Mußte für Recht und Ordnung sorgen, mußte falsche Versprechungen machen und die Lebensmittel der Händler enteignen, falls es zu einer Belagerung kam. Es würde nicht lange dauern, bis er kaum weniger verhaßt sein würde als die Orks. Aber das war für einen Inquisitor nichts Neues. In diesem Amt hatte man keine Freunde. Wieder dachte Marcian an Lysandra. Sie mußte in der Stadt bleiben! Noch vorhin auf dem Fest hatte sie gesagt, daß sie morgen am späten Nachmittag mit ihren Leuten die Stadt verlassen wollte. Gutes Zureden nutzte nicht. Also mußte sie so krank werden, daß sie einen Arzt brauchte. Dann konnten sie nicht in die Wälder zurück. Der Inquisitor hatte auch Gifte unter seinen vermeintlichen Heilsalben versteckt, die er zur Tarnung als Augenarzt mit in die Stadt brachte. Für den Anfang wäre es vielleicht gut, Lysandra mit einem schweren Brechdurchfall und Fieber ans Bett zu fesseln. Morgen wollte er sie zum Frühstück im Palas der Burg treffen. Das war die Gelegenheit! Es würde auf jeden Fall vor dem Aufbruch wirken. Vielleicht würden sogar noch mehr Freischärler aus den Wäldern kommen, wenn erst einmal bekannt war, daß die Amazone auf Dauer ihr Lager in der Stadt aufgeschlagen hatte.
Der Vampir schlenderte über die Stadtmauer. In ein oder zwei Stunden würde es wieder Tag werden. Nur wenige Wachen waren eingeteilt. Nach dem Kampf um das Torhaus der Garnison wurde er von allen Soldaten mit Respekt behandelt. Man grüßte ihn freundlich, klopfte ihm auf die Schulter und redete hinter vorgehaltener Hand, daß er wohl über magische Kräfte verfügen müsse, da er sich so schnell von seinen Wunden erholt habe. Zerwas lächelte bitter. Wäre das nur so einfach! Seine Wunde in der Brust heilte nicht, und zu einem Medicus oder zu einem Zauberer konnte er damit nicht gehen, ohne sich zu verraten. Selbst die Kraft seines Schwertes hatte hier ihre Grenzen. Er fühlte sich immer noch schwach und würde keinen ernsthaften Kampf mehr bestehen, solange nicht etwas geschah. Er dachte wieder an die Bäckerstochter. Schon früher hatte er den Eindruck, daß sie ihm anders als anderen Männern nachschaute. Manchmal hatte er sie auch auf seinen Spaziergängen in den frühen Morgenstunden getroffen und ein wenig mit ihr geplaudert. Sie trug dann frisches Brot zu den Häusern der reichen Bürger.
Sein Weg hatte den Vampir in der Nähe des Tors gebracht. Dort lag auch das Haus des Bäckers. In der Backstube brannte bereits Licht, während es in allen Häusern ringsherum noch dunkel war. Auf den Straßen war kein Mensch zu sehen, und selbst die Wachen am Tor waren nicht mehr sonderlich aufmerksam.
Zerwas überlegte. Es war besser, wenn Lucilla glaubte, sie hätte ihn getroffen. Der Vampir versteckte sich in einer Gasse und beobachtete die Tür der Backstube. Er brauchte nicht lange zu warten, bis das blonde Mädchen mit einem großen Korb voller Brot auf dem Rücken aufbrach, um die Kunden ihres Vaters zu beliefern. Unauffällig folgte er ihr, hielt sich im Schatten der Häuser und überholte sie in einer Seitenstraße, um scheinbar zufällig ihren Weg zu kreuzen.
Kaum, daß sie ihn sah, rief sie: »Meister Zerwas, ich bin froh, Euch auf den Beinen zu sehen.« Mit schnellen Schritten kam sie auf ihn zu. »Ihr glaubt gar nicht, was man sich für Geschichten über Euch erzählt. Ihr gehört zu den größten Helden der Stadt, und jedermann wundert sich über Euer plötzliches Verschwinden.«
»Nun wie Ihr seht, bin ich noch hier«, entgegnete der Vampir mit gewinnendem Lächeln. »Was erzählt man sich denn über mich?«
»Manche behaupten, daß Ihr ein Streiter der Götter seid. Daß es Eure Aufgabe war, uns in höchster Not zu helfen, und daß Ihr deshalb auch wieder verschwinden mußtet, als die Garnison erobert war.«
Zerwas blickte ihr tief in die Augen. »Sehe ich aus wie ein Unsterblicher?«
Das Mädchen kicherte. »Natürlich nicht, das ist ja auch nur das Geschwätz der Dienstmägde. Andere erzählen, daß Ihr so schwer verletzt worden seid, daß Euer Leben verwirkt sei und Ihr Euch an einen abgelegenen Ort zum Sterben zurückgezogen hättet. Ich habe mir große Sorgen um Euch gemacht. Gestern mittag war ich bei Eurem Turm und habe lange geklopft, doch nichts rührte sich.«
»Nun, ich werde wohl spazieren gewesen sein, so wie jetzt. Haltet Ihr mich eigentlich auch für einen Helden?«
»O ja. Nachdem alles vorbei war, ist mein Vater in der Garnison gewesen, um zu schauen, was es dort zu sehen gab. Er hat mir von den vielen toten Orks beim oberen Tor erzählt, und daß Ihr fast alle allein erschlagen habt. Jeder in der Stadt hält Euch für einen Helden.«
»Und würdet Ihr einem Helden einen kleinen Gefallen tun?«
Das Mädchen schaute Zerwas verwundert an. Dann errötete sie. »Was wollt Ihr denn?« fragte Lucilla keck.
»Wenn Ihr mir einen Kuß geben würdet, dann wäre das mein schönster Siegeslorbeer.«
Die Bäckerstochter errötete noch mehr und wich verlegen einen Schritt zurück. »Ihr wißt doch, daß ich dem Sohn des Seilers versprochen bin. Mein Vater hat die Heirat schon kurz nach meiner Geburt ausgemacht.« »Gewiß, das ist mir bekannt, doch soweit ich weiß, hat ein Kuß noch keine Jungfrau entehrt. Ihr hättet die Macht, mich für einen Augenblick den Schmerz meiner Wunden vergessen zu lassen. Und wenn Ihr erlaubt, würde ich ein Pfand von Euch in meinem nächsten Kampf tragen. Wißt Ihr eigentlich, daß Ihr ein wunderhübsches Mädchen seid? Für Euch zu sterben, wäre der schönste Tod, der einen Helden treffen könnte. Für einen Kuß von Euch würde ich alle Dämonen der Niederhöllen fordern.« Zerwas machte einen Schritt auf das Mädchen zu und blickte sie schmachtend an.