Lucilla wich nicht weiter zurück.
»Laßt uns in eine dunkle Gasse gehen«, erwiderte die Bäckerstochter. Zerwas folgte ihr ein Stück. Dann fragte er: »Vielleicht sollten wir zur Südmauer in den Rondratempel gehen. Er ist verlassen, seit die Orks die Stadt besetzt haben.«
Lucilla blickte ihn zweifelnd an. »Glaubt Ihr nicht, daß die Göttin uns zürnen könnte?«
»Sicher nicht. Wir brauchen ja auch nicht das Heiligtum zu betreten. Schon der Hof vor dem Tempel ist von der Straße her nicht mehr einzusehen.«
»Worauf wollt Ihr hinaus? Mein Vater würde mich in Schimpf und Schande aus dem Haus jagen, wenn ich meine Jungfräulichkeit verliere.«
»Glaubt Ihr nicht, daß Euer Vater lieber einen Helden zum Schwiegersohn hat als den Bengel, den ein einfacher Seiler in die Welt gesetzt hat. Macht Euch keine Sorgen, ich werde mit ihm reden, und Ihr sollt eine Morgengabe von mir erhalten, wie sie diese Stadt schon seit Generationen nicht mehr gesehen hat«, wieder lächelte der Vampir. »Wißt Ihr, Lucilla, seit ich Euch das erste Mal morgens so allein auf der Straße gesehen habe, geht Ihr mir nicht mehr aus dem Sinn.« Das war nicht einmal gelogen, dachte Zerwas. »Ich verzehre mich nach Euch. Ihr habt in mir ein Feuer entfacht, wie ich es noch nicht kannte.«
Lucilla lächelte verlegen. Sie schritten durch das Tor, das den Rondratempel von der Straße abschirmte. Alles war ruhig. Es würde noch mehr als eine Stunde dauern, bis die Sonne aufging. Zerwas blickte sich um. »Niemand kann uns sehen. Bitte erfüllt mir meinen Wunsch, und noch heute nachmittag werde ich mit Eurem Vater über unsere Hochzeit sprechen.«
Lucilla beugte sich vor. Schüchtern berührte sie seine Lippen. Zerwas griff in ihr langes, blondes Haar und beugte ihren schlanken Körper zurück. Sie mochte vielleicht gerade sechzehn Jahre sein und stand noch auf der Schwelle zwischen Mädchen und Frau. Sie duftete köstlich. Unverbraucht, unschuldig. Zerwas war sich sicher, daß sie noch nicht die wahren Freuden der Liebe kennengelernt hatte. Fester preßte er ihren jungfräulichen Körper an sich. Lucilla stöhnte. Ein bislang unbekanntes Gefühl schien in ihr zu erwachen. Sie war so voller Jugend und Kraft. Zerwas überschüttete sie mit Küssen. Vergrub seinen Kopf in ihrem köstlich duftenden Haar. Seine Zunge streichelte ihren Hals. Wieder stöhnte das Mädchen.
Der Vampir spürte, wie er sich verwandelte. War er eben noch erregt, so beherrschte ihn jetzt allein der Gedanke an ihr warmes Blut. Wieder liebkoste er ihren Hals. Heftiger jetzt als beim ersten Mal. Seine scharfen Zähne ritzten ihre Haut. Ein Tropfen Blut benetzte seine Lippen. Eine tierische Gier übermannte ihn. Er brauchte mehr. Ihr Blut bedeutete sein Leben! Er biß zu. Erschrocken gab das Mädchen einen spitzen Laut von sich. Doch dann ließ sie sich in seine Arme zurücksinken. Er wußte, daß seine Bisse keine Schmerzen bereiteten, wenn man sich nicht wehrte. Sie würde langsam entschlafen.
Der Vampir wischte sich mit der Hand über den Mund. Lucillas Blut war köstlich gewesen. So wie nur das Blut einer Jungfrau sein konnte. Mit einem Anflug von Bedauern blickte er auf den leblosen Körper zu seinen Füßen. Nie mehr würde sie die Freuden einer Liebesnacht erfahren. Der Sohn des Seilers mußte sich nach einer neuen Braut umschauen. Nun galt es, die verräterischen Spuren an ihrem Hals zu beseitigen. Zerwas griff nach dem Messer an seinem Gürtel. Es war mühselig, auf diese Weise ihr Haupt vom Körper zu trennen, und es kostete viel Kraft, das Messer durch ihre Nackenwirbel zu treiben. Schließlich gab der Knochen mit einem trockenen Knacken nach, und das Haupt des Mädchens rollte beiseite. Noch immer sah sie schön aus. Ihr Gesicht war wie in Trance verzaubert. Zerwas haßte sich dafür, ein so wunderbares Wesen vernichtet zu haben. Vielleicht hätte sie ihn wirklich lieben können? Doch das war nicht sein Weg. Er mußte nun darüber nachdenken, wie er den Tod des Mädchens den Orks anlasten konnte. Er würde sie skalpieren! Die Zholochai, einer der mächtigsten Stämme der Schwarzpelze, verfuhren so mit erschlagenen Gegnern. Vielleicht würde man glauben, daß ein einzelner Ork nachts über die Stadtmauer gekommen sei, um so seine Mannbarkeit unter Beweis zu stellen. Jedenfalls würde man niemandem, außer vielleicht Lysandras Freischärlern, eine solche Tat zutrauen.
Zerwas beugte sich über Lucillas Haupt und setzte sein Messer an ihrer Schläfe an. Das Mädchen starrte ihn mit toten blauen Augen an. Er kam sich sehr schäbig vor. Das nächste Mal würde er niemanden mehr töten, den er kannte. Sein Messer durchschnitt ihre Kopfhaut. Mit einem letzten Ruck trennte er ihr das Haupthaar vom Schädel und blickte schaudernd auf die schreckliche Wunde. Er mußte nun gehen. Keiner durfte ihn hier sehen. Das Haar des Mädchens versteckte er unter seinem Wams. Er würde es in seinem Turm im Kamin verbrennen. Schon jetzt spürte er, wie sich die Wunde in seiner Brust schloß. Das Opfer des Mädchens war nicht vergebens gewesen.
Vorsichtig schlich er durch die dunklen Gassen. Mit dem ersten Hahnenschrei erreichte er den verfallenen Türm, in dem er schon vor einem halben Jahr sein Quartier bezogen hatte. Derselbe Platz, den er schon einmal vor mehr als dreihundert Jahren bewohnt hatte.
4
Marcian schreckte aus seiner düsteren Stimmung hoch. Aus der Stadt erklang Jubel. Horner wurden geblasen. Er ging zum Turmfenster, doch war durch die schmalen Schießscharten nicht genau zu sehen, was vor sich ging. Die Straßen waren voller Menschen, und alle bewegten sich auf das Andergaster Tor zu. Eilig schritt der Inquisitor zur Treppe, um auf die Plattform des Turms zu gelangen. Was mochte da vor sich gehen?
Noch bevor er oben angekommen war, hörte er den Turmwächter schon »Hurra!« schreien. Der Mann, einer von Lysandras wettergegerbten Freischärlern, fiel ihm schier um den Hals, als er durch die Bodenluke auf die Plattform trat.
»Sie sind da! Sie sind da! Der Krieg ist zu Ende.« Der Mann umarmte ihn, als seien sie Brüder. Freudentränen standen ihm in den Augen. Marcian begriff nicht, was vor sich ging. Er befreite sich von der Umarmung und schritt zu den Zinnen. Vor dem Andergaster Tor hatten über hundert Reiter in schimmernden Panzern Aufstellung genommen. Von weitem konnte Marcian kaiserliche Banner erkennen. Sollte das Prinz Brins Vorhut sein? Zwei Wochen war es nun schon her, seit die Greifenfurter die Stadt befreit hatten. Zwei Wochen, in denen sie keine Nachricht aus dem Kaiserreich erreicht hatte und in denen die Zweifel der Bürger stetig größer wurden, ob sie das Richtige getan hatten. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Auch wenn sich kein Ork vor den Toren der Stadt blicken ließ, waren sie doch fast vollständig abgeschnitten gewesen. Marcian konnte im Moment keinen Kämpfer entbehren, und so hatte er darauf verzichtet, Reiter loszuschicken, um die Botschaft von der Rückeroberung Greifenfurts in den nahgelegenen Dörfern zu verbreiten. Es war auch keiner mehr zur Stadt gekommen, abgesehen von einigen wenigen Flüchtlingen. Von denen wußte er, daß die Orks alle Straßen zur Stadt gesperrt hielten.
Und jetzt standen kaiserliche Ritter vor den Toren! Ob es wohl noch eine weitere Schlacht wie auf den Silkwiesen gegeben hatte? War der Schwarze Marschall endgültig geschlagen worden, und waren die Truppen vor dem Tor die Vorhut des Prinzen? Die Reiter formierten sich zu einer Kolonne und kamen in die Stadt. In wenigen Augenblicken würden sie den Hof der Garnison erreichen. Es war an der Zeit, ihnen entgegen zu gehen.