Oberst Alrik von Blautann kommandierte die drei Kürassierbanner, die Greifenfurt erreicht hatten. Ein junger, schneidiger Offizier und seit der Schlacht auf den Silkwiesen, als er mit einer tollkühnen Attacke das Leben des Prinzen rettete, einer der Günstlinge des Garether Hofs. Mit klirrenden Sporen und in voller Rüstung kam er durch den Empfangssaal des Palas' auf Marcian zu. In einigem Abstand folgten seine Offiziere.
»Ich grüße Euch, Oberst von Blautann und vom Berg!« begann der Inquisitor formell das Gespräch. »Ich nehme an, Ihr seid die Vorhut des Prinzen. Bis wann ist mit Entsatz zu rechnen?«
»Die Vorhut des Prinzen sind wir, doch ich fürchte, mit dem Entsatz müßt Ihr noch ein wenig warten«, erwiderte der junge Oberst. »Kann ich offen sprechen?«
Marcian gab den Wachen einen Wink, und die Männer verließen den Saal. »Was ist los? Kommt Ihr mit geheimer Order?«
Der Oberst starrte auf die Kacheln am Boden des Saals. »Ich habe Nachrichten, die nicht jeder hören sollte. Wir sind keineswegs als Entsatz hier. Im Gegenteil, wir sind froh, die schützenden Mauern der Stadt noch erreicht zu haben. Gestern im Morgengrauen haben wir einen Angriff auf das Lager des Schwarzen Marschalls geritten und sind in einen Hinterhalt geraten. Entweder haben seine Späher frühzeitig meine Reiter entdeckt, oder wir sind verraten worden. Jedenfalls waren wir plötzlich von Hunderten bis an die Zähne bewaffneten Orks eingekreist, als wir das Lager angriffen. Ein Durchbruch nach Süden, zur Armee des Prinzen war nicht mehr möglich. Also haben wir es in westlicher Richtung versucht, um uns nach Greifenfurt durchzuschlagen oder um weiter im Norden in einem der Wälder Zuflucht zu finden. Seitdem war uns der Marschall persönlich mit seiner Leibgarde auf den Fersen. Ich habe fast ein Drittel meiner Männer verloren. Erst als die Stadt in Sichtweite kam, drehte er mit den Zholochai ab.«
Marcian rieb sich das Kinn. »Das sind in der Tat schlechte Nachrichten. Was ist mit den Truppen des Prinzen?«
»Er steht mit der Armee am Nordrand des Reichsforstes. Mit Glück könnte er in zwei oder drei Tagesmärschen hier sein. Aber ich fürchte, daß es mit dem Entsatz noch etwas dauern könnte. Die Orks haben sich organisiert und leisten verbissen Widerstand. Ich glaube nicht, daß wir deshalb bald mit dem Prinzen rechnen können.«
Marcian spielte nervös an seinem Schwertknauf. »Und was wird aus Euch und Euren Männern, Oberst?«
»Wir würden gerne von Greifenfurt aus weiter gegen die Orks kämpfen. Etliche meiner Reiter brauchen allerdings zunächst die Hilfe eines Medicus'.«
»Gut«, erwiderte Marcian. »Ihr sollt Quartiere hier in der Garnison bekommen. Hier gibt es angemessene Unterkunft und vor allem haben wir genug Ställe, um die Pferde unterzubringen. Die Geschichte von der Falle, in die ihr geritten seid, sollte in der Stadt allerdings nicht bekannt werden. Die Moral der Bürger ist nicht allzu gut. Sie rechnen täglich damit, daß der Prinz vor den Toren erscheint und daß dann für sie der Krieg zu Ende ist. Wenn die Nachricht von eurer Niederlage und den wiedererstarkten Orks die Runde macht, könnte es Unruhen in der Stadt geben.«
»Habt Ihr die Lage nicht unter Kontrolle?« Der Oberst blickte Marcian mit seinen blauen Augen an, als könnte er kein Wässerchen trüben. Dennoch schwang unüberhörbar ein provozierender Ton in der Frage mit.
»Ich habe hier keinerlei reguläre Truppen, nicht einmal eine Stadtgarde. Die Kämpfer, auf die ich zurückgreifen kann, sind undisziplinierte Freischärler, ausgemergelte Sklaven und Bürger, die nicht einmal wissen, wie man ein Schwert richtig hält. Mit diesen Truppen habe ich die Garnison gestürmt und die Orks aus der Stadt geworfen. Nur leider glauben seit dem Tag alle, der Krieg sei bald vorbei. Noch Fragen?« Die letzten Worte hatte Marcian mit schneidender Schärfe gesprochen.
»Gab es seit der Befreiung der Stadt noch Schwierigkeiten mit den Orks?«
Der junge Oberst wollte ihn wohl aus der Reserve locken. Auf dieses Spiel würde sich Marcian nicht einlassen. »Wir sind vom Rest der Welt abgeschnitten. Alle Straßen nach Greifenfurt werden von den Orks kontrolliert. Doch sie wagen sich nicht in Sichtweite der Mauern. Nur einmal, zwei Tage nach dem Sturm auf die Garnison, muß ein vereinzelter Krieger in die Stadt eingedrungen sein. Er hat die Tochter des Bäckers vom Andergaster Tor getötet. Wir fanden sie morgens enthauptet und skalpiert. Von dem Ork fehlte jede Spur. Seitdem sind die Nachtwachen auf den Mauern verdoppelt, und es hat keine weiteren Übergriffe gegeben.«
»Habt Ihr außer uns noch Reiter in der Stadt?« wollte der junge Oberst wissen.
»Nein. Ich bin froh, gerade genug Kämpfer zu haben, um die Mauern zu bemannen. Worauf wollt Ihr hinaus, Oberst?« Marcian blickte den Offizier finster an.
Einen Augenblick zögerte er, doch dann brach es regelrecht aus ihm heraus: »Vielleicht wäre es an der Zeit, den Krieg unter die Orks zu tragen. Warum sollen wir ihnen immer die Initiative überlassen? Ich bin sicher, daß die Truppenkonzentration in der Nähe der Stadt nicht stark genug ist. Warum sollten wir die Orks nicht angreifen und die Bauern aus der Region in die Stadt bringen, um über mehr Kämpfer zu verfügen. Ich bin sicher, die meisten Männer und Frauen, die ein Schwert halten können, wären froh, wenn sie gegen die Orks kämpfen könnten. Sie brauchen nur Anführer. Sie müssen sehen, daß wir die Schwarzpelze besiegen können. Dann werden sie schon von ganz allein zu unseren Fahnen eilen. Draußen auf dem Hof stehen 80 unverwundete Reiter, die nur darauf warten, die Scharte von gestern wieder auswetzen zu können. Das sind die besten Kavalleristen des Prinzen. Ich glaube nicht, daß es hier in der Nähe irgendwelche Truppen gibt, die uns gewachsen sind. Wir sollten ...«
Marcian unterbrach den Oberst. »Ihr solltet über das, was Ihr sagt, noch einmal nachdenken. Es ist wenig mehr als eine Stunde her, daß Ihr und Eure Männer noch auf der Flucht waren. Ihr haltet es wohl für völlig ausgeschlossen, daß man vor den Mauern noch auf Euch warten könnte? Nichts für ungut, Oberst, doch seid Ihr noch ein sehr junger Offizier, und nichts liegt mir ferner, als Euren Mut in Frage zu stellen, aber für den Moment halte ich Euren Plan für alles andere als gut. Schont Eure Männer ein paar Tage, und dann werden wir weitersehen.«
Der Ritter setzte zu einer Entgegnung an, doch bevor er etwas sagen konnte, fuhr Marcian fort. »Falls Ihr nun mit mir darüber diskutieren wollt, daß auch Ihr Oberst seid und demzufolge nicht meiner Befehlsgewalt untersteht, so bedenkt, daß ich das höhere Dienstalter habe. Außerdem bin ich vom Prinzen und vom Großinquisitor als Befehlshaber dieser Stadt eingesetzt, was heißt, daß mir alle Offiziere in diesen Mauern unterstellt sind. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
Ein zerknirschtes »Ja« kam als Antwort. Der Oberst und seine Offiziere wichen Marcians Blick aus. Er durfte nicht zulassen, daß sie seine Autorität in Frage stellten.
»Meine Herren, wir sind hier nicht auf dem Jahrmarkt! Wie heißt die korrekte Antwort gegenüber einem Vorgesetzten?« Der Inquisitor hatte einen beißenden Ton angeschlagen.
Blautann und seine Männer nahmen Haltung an und schmetterten wie aus einer Kehle: »Jawohl, Herr Oberst!«
»Gut so.« Nur mit Mühe konnte Marcian sich das Grinsen verkneifen. »Wegtreten! Die Wachen vor der Tür werden Euch die Quartiere zeigen. Ich würde mich freuen, Euch um Sonnenuntergang zu einem gemeinsamen Nachtmahl begrüßen zu können.«
»Jawohl, Herr Oberst!« tönte es wieder durch den Saal. Dann machten die Ritter auf der Stelle kehrt und marschierten im Gleichschritt zur Tür hinaus. Es war lange her, daß richtige Soldaten vor ihm Haltung angenommen hatten. Ein wenig wehmütig dachte Marcian an seine Tage als junger Offizier in der Garether Kaserne. Er war sicher, daß die jungen Burschen vor der Tür nun über ihn alten Schinder fluchen würden. Der Inquisitor schmunzelte. Die Ritter sollten sich um die Ausbildung der Bürger und Freischärler zu richtigen Soldaten kümmern. Er war es leid, sich mit diesen Witzfiguren auf dem Exzerzierplatz der Burg herumzuschlagen. Er hatte wichtigere Dinge zu tun, als Dummköpfen den Schwertkampf beizubringen. Die Worte des jungen Obristen gingen ihm immer noch durch den Kopf. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, die Stadt zu verlassen und den Orks einen Besuch abzustatten. Der Moral der Bürger würden kleine Kommandounternehmen mit Sicherheit gut tun. Und die Gefahr, auf ernsthaften Widerstand zu stoßen, war wirklich nicht sehr groß. Marcian würde mit den Rittern heute abend darüber sprechen. Doch nun mußte er bei Lysandra vorbeischauen. Die Arme war durch ihre zweiwöchige Krankheit ziemlich gereizt. Sie hatte mit ihren Frauen und Männern die alte Unterkunft der Stadtwache nahe dem Andergaster Tor bezogen. Marcian würde ihr kein Gift mehr ins Wasser mischen. Er brauchte sie wieder einsatzfähig. Niemand kannte das Gelände rund um die Stadt so gut wie sie und ihre Freischärler. Sie sollten die Attacken der Ritter vorbereiten und sie als Späher begleiten.