Lysandra hatte es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls zum Nachtmahl mit den Offizieren im Palas der Burg zu erscheinen . Wie in der Nacht des Angriffs auf die Garnison hatte sie wieder ihre prächtige Rüstung angelegt, und nur wer sie sehr genau kannte, konnte ihr ihre Schwäche anmerken. Fast zwei Wochen hatte sie im Bett gelegen und kaum die Kraft gehabt aufzustehen. Kein Heiler der Stadt hatte ihr helfen können. Marcian war sehr besorgt um sie gewesen und hatte sie täglich besucht. Als keine Medizin half, hatte er sogar seinen Freund, den Magier Lancorian zu ihr gebracht. Doch seinen Künsten waren in ihrem Fall auch Grenzen gesetzt. Er hatte ihr nur leichte Linderung verschaffen können. Heilen konnte er sie nicht. Es war das erste Mal, daß sie seit der Krankheit etwas anderes als Milchbrei aß. Das Wildbret, an dem sich die Offiziere gütlich taten, war freilich nicht das Richtige für sie. Auch wenn sie gerne endlich wieder Fleisch gegessen hätte, begnügte sie sich vorerst mit hellem Brot, etwas Bratensoße, Obst und verdünntem Wein.
Gut, daß sie die Kraft hatte, wieder unter Menschen zu kommen. Ihr hatte nicht gefallen, daß ihre Leute in der Stadt geblieben waren, nur weil sie krank war. Und jetzt planten die Offiziere an diesem Tisch, mit ihren Männern gegen die Orks zu ziehen. Es mochte ja sein, daß jeder für sich ein guter Kämpfer war, aber mit ihren Vorstellungen von Rittertum würden sie es draußen in der Wildnis nicht weit bringen. Die Strategie ihrer Freischärler sah keine glänzenden Kavallerieattacken vor. Das würde viel zu viele Krieger das Leben kosten. Lysandra wußte genau, daß sie deshalb von ihren Kämpfern so vergöttert wurde, weil sie kein unnötiges Risiko einging, und immer wenn es gefährlich wurde, selbst in vorderster Reihe stand. Diese Ritter dachten anders. Ihre Leute betrachteten sie wahrscheinlich lediglich als bewaffnete Bauern. Wertlose Figuren im Kriegsspiel der Edlen, die man bedenkenlos in den Tod schicken konnte. Ihr Leben zählte nichts. Doch sie würde nicht zulassen, daß man so mit ihren Leuten umging!
»Nun, Lysandra, meint Ihr, Ihr könnt Euch wieder auf einem Pferd halten? Marcian hat mir erzählt, was für ein Mißgeschick euch heimgesucht hat.« Oberst von Blautann machte während der Worte eine grüßende Geste in ihre Richtung.
»Mich auf einem Pferd zu halten ist noch das geringste unserer Probleme. Offen gestanden halte ich nicht viel davon, einfach ins Blaue zu reiten. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir dieses Wortspiel.«
Der Ritter runzelte die Stirn. Mit der Zunge schien er nicht so geschickt zu sein wie mit dem Schwert, dachte Lysandra. Nun, das bedeutete zumindest, daß er kein Höfling sein konnte.
»Was meint Ihr ›mit ins Blaue reiten‹, gute Frau?« Der junge Oberst versuchte herablassend zu klingen, doch konnte er seinen Zorn nicht ganz verbergen. Die Amazone blickte zu Marcian hinüber. Er hatte sich in seinem Eichensessel zurückgelehnt und beobachtete mit einem amüsierten Lächeln ihre Auseinandersetzung.
»Nun nicht, daß ich der Reiterschar, die Ihr in die Stadt geführt habt, nichts zutrauen würde. Doch wie gefährlich ist das beste Schwert in den Händen eines Knaben?«
Der Oberst sprang auf: »Das nehmt Ihr zurück!«
»Was?« fragte Lysandra provozierend gelassen. »Etwa, daß man Eurer Reiterschar durchaus etwas zutrauen kann?«
»Ihr wißt genau, was ich meine.« Die Stimme des jungen Offiziers überschlug sich vor Wut. »Wenn Ihr Euch nicht auf der Stelle entschuldigt, verlange ich Satisfaktion.«
»Glaubt nicht, daß ich dulden werde, daß sich meine Offiziere gegenseitig an die Gurgel gehen!« Marcian hatte sich erhoben. »Setzt Euch wieder! Ich erinnere Euch daran, daß Greifenfurt unter Kriegsrecht steht, und deshalb Duellanten mit der Todesstrafe zu rechnen haben. Einen Verstoß gegen die Disziplin in dieser Stadt werde ich nicht dulden. Schon gar nicht unter Anführern. Muß ich Euch wirklich daran erinnern, daß Ihr Vorbilder sein solltet. Und was dich angeht, Lysandra, unterlaß deine Zweideutigkeiten und sag, was du meinst.«
»Ich meine, daß es vollkommen sinnlos ist, einfach aus der Stadt zu reiten und zu hoffen, daß uns schon ein paar Orks in die Arme laufen werden. Ein solches Unternehmen sollte sorgfältig vorbereitet werden. Ich möchte weder den Erfolg noch das Leben meiner Leute in die Hände des Zufalls legen. Ich bin der Meinung, daß einige meiner besten Leute die Stadt verlassen sollten, um auf ihre Art nach einem lohnenden Ziel zu suchen. Tollkühne Todeskommandos, wie Ihr gestern früh eines geleitet habt, Oberst, möchte ich nicht verantworten. Ich bin sicher, hättet Ihr Euer Ziel vernünftig ausgespäht, würden eine Menge Eurer Männer jetzt noch leben.« Mit Genugtuung beobachtete Lysandra, wie sich die Hände des jungen Ritters bei diesen Worten in die Stuhllehnen krampften.
»Was wißt Ihr schon von Heldenmut und Ritterlichkeit? Soweit ich vernommen habe, gehört es zu Eurer Art von Kriegsführung, Feinde feige von hinten zu erschießen und Gefangene langsam zu Tode zu foltern.« Es war nicht zu übersehen, daß Oberst von Blautann kurz davor war, die Fassung zu verlieren. Trotzdem konnte Lysandra das nicht unerwidert lassen.
»Wenn Ihr so gut über mich informiert seid, guter Ritter, dann wißt Ihr ja sicher auch, daß ich das, woran ihr schon nach wenigen Wochen gescheitert seid, über ein Jahr geschafft habe. Mir haben die Orks in dieser Zeit nicht ein einziges Mal so sehr im Nacken gesessen wie Euch und Euren Reitern heute früh. Freilich war ich nie so ritterlich, mit unterlegenen Kräften mitten in das Lager des Schwarzen Marschalls zu galoppieren, doch mir scheint, daß mancher Ritter des Prinzen nicht recht zwischen Aberwitz und Heldentum zu unterscheiden weiß. Wollte man dem Ritterstand Böses, könnte man natürlich auch unterstellen, daß mancher feine Herr nur allzu gern das Leben seiner Leute opfert, um schnell zu Rang und Namen zu gelangen, ja vielleicht sogar der Held in einem der Lieder der fahrenden Sänger zu werden.«
»Jetzt reicht es, Lysandra!« Marcian hatte seinen bronzenen Pokal zu Boden geschleudert. »Wenn du so überlegen bist, dann solltest du auch begriffen haben, daß es Gift ist, wenn sich die Streiter einer Partei untereinander wie die Kampfhähne aufführen.«
»Laßt es gut sein, Kommandant«, warf der junge Ritter ein. »Eine Wegelagerin kann mich nicht beleidigen. Und ob ihr Schwert so scharf ist wie ihre Zunge, soll sie mir zeigen, wenn wir gemeinsam gegen die Orks reiten.«
»Dazu wird es nur kommen, wenn meine Leute die Örtlichkeiten ausspähen und mein Wort bei der Planung der Angriffe das gleiche Gewicht hat wie das dieses Grünschnabels.«
»Anders war es nie vorgesehen«, beschwichtigte Marcian die Amazone. »Entschuldigt, wenn ich diese Tafel nun aufhebe, doch ich habe heute abend noch andere Verpflichtungen und bin offen gestanden der Streitereien müde. Lysandra, ich wäre dir dankbar, wenn du schon in dieser Nacht Spione aussenden könntest, denn ich habe das Gefühl, daß uns ohnehin nicht mehr viel Zeit bleiben wird, bis die Orks vor unseren Toren stehen.«
Lysandra erhob sich als letzte und beobachtete, wie die anderen gingen. Erst dann machte sie sich auf den Weg zu ihren Quartieren, denn der Sieger verließ das Schlachtfeld stets als letzter.