Obwohl er mehr als fünfhundert Krieger befehligte, war Sharraz Garthai nervös. Der Schwarze Marschall hatte ihm vergeben, daß er mit Greifenfurt die wichtigste Stadt der Provinz Finsterkamm verloren hatte. Mehr als zwanzig Tage lag es nun schon zurück, daß er Greifenfurt verlassen hatte. Nun sollte er mit seinen Kriegern sicherstellen, daß die Übergriffe aus der Stadt aufhörten. In den letzten Tagen waren immer wieder Angriffe auf Vorposten der Orks durchgeführt worden. Flüchtlinge aus der ganzen Provinz retteten sich in den Schutz der Stadtmauern, brachten das Vieh von den Feldern und verbrannten ihre Ernte. Mit der Revolte in der Stadt hatte der Widerstand in der ganzen Provinz an Kraft gewonnen. Gab es früher nur die Freischärler in den Wäldern, so bewaffneten sich jetzt schon die Bauern und fielen über die Besatzer her. Die Gerüchte, daß bald Prinz Brin mit seinen Truppen käme, taten das ihre, um die Lage noch zu verschlechtern.
Sharraz Garthai lächelte grimmig. Vorgestern war der Anführer der Menschen bei einem Scharmützel verletzt worden. Es hätte nicht viel gefehlt, und er wäre von den Pferden seiner eigenen Leibgarde zertrampelt worden. Jedenfalls waren die Armeen der Menschen am Vormarsch gehindert.
»Was lächelst du?« erklang es hinter Sharraz. Der Ork drehte sich um. Hinter ihm ritt Gamba, der Druide. Der Marschall hatte ihm diesen Menschen als Berater mitgegeben. Vielleicht sollte er auch über ihn wachen. Sharraz mochte ihn nicht, diesen weißhaarigen Mann mit dem wettergegerbten, harten Gesicht. Er war mit Federn und Amuletten geschmückt und trug trotz der Hitze einen Umhang aus Bärenfell. Auch seine Männer hatten Angst vor ihm, doch bei Sadrak Whasoi, dem Marschall, und auch bei Uigar Kai, dem Obersten der Schamanen, genoß dieser Mensch grenzenloses Vertrauen.
»Nun, versuchst du, deine Gedanken vor mir zu verhüllen?« Der ironische Ton des Druiden war nicht zu überhören.
»Nein!« antwortete Sharraz hastig. »Ich dachte daran, wie sehr die Menschen sich irren, wenn sie glauben, daß sie mit ihrem Aufstand Erfolg haben werden.«
»Und wenn sie sich nicht irren?«
Sharraz zügelte sein Pferd und blickte sich verwundert zu dem Druiden um. »Wie meinst du das, Gamba?«
»Nun, diese Rebellen in Greifenfurt haben eine Reihe leichter Siege errungen. Sie halten sich vielleicht schon für unbesiegbar. Vor allen Dingen glauben sie fest daran, daß bald der Prinz mit seiner Armee vor der Stadt stehen wird. Mich würde es nicht wundern, wenn sie in diesem Glauben noch weitere große Taten vollbringen würden, denn Glaube ist die Grundlage für Wunder.« Gamba blickte ihn ernst an.
»Wir sind fünfhundert. Wie sollen uns die Menschen besiegen? Sie haben weniger als fünfhundert Kämpfer, und wir haben in diesem Krieg noch nie eine Schlacht verloren, wenn wir auf gleichstarke menschliche Gegner gestoßen sind.«
»Und auf den Hochmut folgt der Fall!« entgegnete Gamba knapp. Für eine Weile herrschte Schweigen zwischen den beiden Reitern. In der Hitze wirbelte die Kolonne eine große Staubwolke auf der Kaiserstraße auf, der sie Richtung Orkenwall folgten. Nur wenige Meilen trennten sie noch von dem kleinen Ort, in dessen Nähe die Armee des Reiches vor einem Jahr von den Orks vernichtend geschlagen worden war.
»Ich habe noch nie eine Stadt gestürmt«, unterbrach Sharraz das Schweigen. »Diese Art von Schlacht ist völlig neu für mich. Hast du einen Plan, wie wir kämpfen sollen. Am liebsten wäre mir, wenn wir einfach vor den Toren von Greifenfurt lagern und warten könnten, bis der Hunger sie heraustreibt. Hast du eine bessere Strategie?« »Wenn sie glauben, daß sie uns nicht besiegen können, haben wir Greifenfurt schon halb erobert. Dazu gehört auch, daß wir Dinge tun, die sie nicht verstehen. Deshalb bin ich dafür, daß wir noch nicht bis vor die Tore der Stadt ziehen, sondern unser Heerlager in Orkenwall aufschlagen. Das werden sie nicht erwarten. Vielleicht werden sie sogar so unvorsichtig und versuchen, uns anzugreifen. In einer offenen Feldschlacht werden wir ihnen auf jeden Fall überlegen sein. Weißt du, Sharraz, bei den Menschen ist es so, daß der Krieg in den Köpfen entschieden wird. Sie sind keine geborenen Krieger wie ihr Orks. Sie haben Angst, wenn sie in die Schlacht ziehen. Angst, ihr Leben zu verlieren. Die meisten, die uns als Kämpfer gegenüberstehen werden, sind gar keine richtigen Soldaten. Es sind Bauern, die ihr Feld bestellen wollen, oder Bürger, deren Herz an irgend einem kleinen Laden in der Stadt hängt. Sie sind nicht aus Überzeugung im Krieg. Sie kämpfen, weil sie glauben, es ihrem Prinzen schuldig zu sein. Aber was denkst du, werden sie tun, wenn sie hören, daß ihr Prinz gar nicht kommen wird? Wenn sie hören, daß Brin tot ist. Vielleicht kämpfen sie auch dann noch weiter, doch in ihren Herzen haben sie die Schlacht dann schon längst verloren gegeben.«
Sharraz schaute den Druiden lange an: »Ihr seid sehr kompliziert, ihr Menschen. Aber was wäre, wenn nur du so kompliziert bist? Was ist, wenn du dich irrst?«
»Du glaubst, ich kenne meine eigenen Leute nicht?« Gamba wirkte verblüfft. Mit einer solchen Unterstellung hatte er nicht gerechnet. »Wie kommst du darauf?«
»Ich frage mich schon eine Weile, warum du, ein Mensch, auf unserer Seite stehst? Kann man jemandem vertrauen, der sein eigenes Volk verrät? Ich würde jedenfalls niemals einem Ork trauen, der seinen Stamm verrät. Ich durchschaue dich nicht, Gamba. Ich gestehe dir sogar, daß du mir unheimlich bist, weil du Mächte kontrollierst, die sich meinem Verständnis entziehen. Und den meisten meiner Männer geht es genauso.« »Warum duldest du mich dann überhaupt an deiner Seite?« fragte der Druide.
»Weil mir der Schwarze Marschall befohlen hat, dich mitzunehmen und auf deinen Rat zu hören. Vielleicht bist du so etwas wie eine Prüfung für mich. Vielleicht sollst du auch mein Henker sein, wenn ich noch einmal versage. Es wäre besser für die Moral der Truppe, wenn du mich hinrichten würdest.«
»Vielleicht hast du mit einer deiner Vermutungen recht.« Gamba grinste Sharraz unverschämt an und genoß offensichtlich seine Stellung. Eine Weile ritten sie wieder schweigend nebeneinander her. Dann fragte der Druide: »Was glaubst du eigentlich, wozu wir die Gefangenen mitnehmen?«
Der Ork zuckte mit den Schultern. »Wohl, um sie während der Namenlosen Tage Tairach zu opfern. Schließlich ist dann seine Macht am größten. Vielleicht wird es uns mit seiner Hilfe gelingen, die Stadt zu stürmen.«
»Du denkst schon wieder viel zu einfach, Sharraz.« Erneut setzte Gamba sein freches Grinsen auf.
»Aber wie weise kannst du sein, wenn du es laufend darauf anlegst, mir deine Klugheit zu demonstrieren?«
»Was für eine gute Entgegnung, Ork! Vielleicht wird es doch noch amüsant, sich mit dir zu streiten. - Nun, ich habe diese Baronin mitgenommen, um sie entkommen zu lassen.«
Sharraz klappte der Unterkiefer herunter. Das war das Verrückteste, was er je gehört hatte. Diese Frau war eine große Kriegerin. Sie hatte an der Seite des Prinzen gekämpft und etliche Orks erschlagen, bis man sie vorgestern in dem Scharmützel gefangen nahm, in dem der Prinz verletzt wurde. Sie war das ideale Opfer für den Blutgott. Ein Kämpfer, für den man einen hohen Preis hatte zahlen müssen. Eine Heldin. Tairach würde seine Freude an ihr haben. Dem Druiden antwortete er: »Du bist verrückt!«
»Schlimmer, Sharraz, ich habe Phantasie! Ist dir aufgefallen, wie niedergeschlagen die Frau ist? Ich bin in ihre Gedanken eingedrungen. Das letzte, was sie in dem Gefecht vorgestern gesehen hat, war, wie der Prinz verletzt vom Pferd stürzte und von unseren Kriegern umringt wurde. Dann traf sie selber ein Schlag, der ihr das Bewußtsein raubte. Diese Frau glaubt, daß ihr Herrscher tot ist. Deshalb hat sie sich auch selbst aufgegeben. Sie kann für uns zu einer tödlicheren Waffe werden als eine Herde wildgewordener Oger. Ich werde sie ein wenig foltern, und dann muß die Baronin uns über Nacht entkommen. Ich glaube, eine Gelegenheit zur Flucht würde sie trotz allem noch ergreifen. Sie soll nach Greifenfurt reiten und dort die falsche Botschaft verbreiten, der Prinz sei gefallen. Darin wird sie besser als der beste Agent sein. Selbst wenn man ihr einen Wahrheitstrunk gibt, oder ein Zauberer in ihre Gedanken eindringt, wird es immer nur dasselbe Resultat erbringen. Jeder Spion würde dabei entlarvt. Sie nicht, denn für unsere Baronin ist diese Lüge die Wahrheit, und sie wird auch die anderen überzeugen.«