Betroffen schauten sich Marcian und seine Offiziere an. Sie alle kannten Brins selbstlosen Mut; seine Angewohnheit, mit viel zuwenig Wachen auszureiten, und die Art, wie er stets in der ersten Reihe kämpfte, ohne dabei Rücksicht auf sein Leben zu nehmen. So hatte er die Herzen seiner Soldaten erobert, denn jeder wußte, daß der Prinz niemals einen Mann oder eine Frau in eine Gefahr schickte, der er sich nicht auch selbst ausliefern würde. Die Geschichte der Baronin klang glaubwürdig. »Und was geschah dann mit Euch?« unterbrach Marcian das Schweigen.
Die Kriegerin setzte einen Becher mit Wein ab, um ihre Erzählung wieder aufzunehmen. »Als ich erwachte, saß ein in Felle gehüllter Mann neben mir. Ich lag in einem Lederzelt, umgeben von Räucherpfannen, in denen Kräuter brannten. Zunächst glaubte ich, vielleicht von einem Jäger, der mich im Wald gefunden hatte, gepflegt zu werden. Doch dann bemerkte ich, daß auch Orks im Zelt waren. Der Mann an meiner Seite war ein Verräter. Er versuchte, mir Milch zu trinken zu geben, und erklärte mir, daß ich fast einen Tag und eine Nacht ohne Bewußtsein gewesen sei. Mein Kopf schmerzte höllisch. Nach seinen Worten war ich die einzige Überlebende des Gefechtes auf der Lichtung.«
Für einen Moment hielt die Baronin inne. Tränen rannen ihr über die geschundenen Wangen, als sie stockend weiter erzählte: »Er sagte, der Prinz sei tot. Man hätte seinen Kopf abgetrennt und nach Khezzara ins Orkland geschickt, wo er in Zukunft den heiligsten Altar des Tairach schmücken werde.«
Wieder brach die Baronin ihren Bericht ab. Lange suchte sie nach Worten. »Am nächsten Morgen wurde ich dann auf einen Karren verladen, weil ich noch zu schwach zum Gehen war. Wie sie mir schon in der Nacht gesagt hatten, sollte ich ...«
»Wer hat was in der Nacht zu Euch gesagt?« unterbrach sie Marcian. »Was verschweigt Ihr uns?«
Die Baronin blickte zu Boden. Wütend stellte sich Lysandra vor sie. »Kannst du dir wirklich nicht denken, was in der Nacht geschehen ist? Kannst du ihr nicht wenigstens ein bißchen Würde lassen? Du bist so kalt wie Stahl. Gefällt es dir vielleicht, dich am Leiden anderer zu weiden? Frag noch einmal nach dieser Nacht, du seelenloses Monstrum, und du wirst mit dem Stahl meines Schwertes Bekanntschaft machen!« Marcian schaute sich um, doch die anderen wichen seinem Blick aus. »Ich entschuldige mich bei Euch, Baronin Ira. Ich glaube, Lysandra hat recht. Was in dieser Nacht geschehen ist, ist nicht wichtig für uns. Bitte fahrt mit Eurem Bericht fort.«
»Am nächsten Morgen ist ein Ork Namens Sharraz Garthai mit fünfhundert Kriegern Richtung Greifenfurt aufgebrochen. Ihn begleiten der Druide Gamba und etliche Schamanen. Sie sollen die Stadt für den Schwarzen Marschall zurückerobern. Mich hatten sie mitgenommen, um mich während der Namenlosen Tage Tairach zu opfern. Gestern erreichten sie Orkenwall und haben dort ihr Lager aufgeschlagen. So wie ich es verstanden habe, wollen sie dort zunächst auch bleiben. Am Abend kamen sie, um mich an einen Pfahl zu fesseln. Sie gaben mir Kräuter, um meine Widerstandskraft zu erhöhen, und begannen dann mit dem Ritual, um mich langsam zu Tode zu foltern. Es sollte wohl die ganzen fünf Tage dauern. Sie haben mir Hunderte von Messerstichen versetzt, mich geschlagen und mit glühenden Eisen verbrannt. Ich dachte, ich würde wahnsinnig vor Schmerzen. In der Nacht des zweiten Tages waren die Lederriemen, mit denen man mich an den Pfahl gefesselt hatte, so von meinem Blut aufgeweicht, daß ich sie abstreifen konnte. Es gelang mir, mich zu den Pferden zu schleichen, als die Orks in ekstatischen Tänzen ihrem Gott huldigten. Dort mußte ich eine Wache töten und bin dann auf dem schnellsten Weg hierher geritten.« Die letzten Sätze von Iras Bericht hatte auch Lancorian mitgehört, der inzwischen eingetroffen war. Er bat Marcian, die erschöpfte Kriegerin in einen Nebenraum bringen zu lassen, um dort in Ruhe ihre Wunden behandeln zu können.
Als die Baronin herausgetragen wurde, wandte sich Marcian an die anderen: »Selbst wenn die Nachricht vom Tod des Prinzen stimmt, wovon ich immer noch nicht überzeugt bin, ist eines gewiß: Dieses Gerücht darf sich auf keinen Fall in der Stadt verbreiten. Die Bürger würden in Panik geraten.«
»Damit hast du sicherlich recht, nur wie sollen wir diese Nachricht auf Dauer geheimhalten. Vielleicht kommen noch andere mit der Botschaft zu uns. Vielleicht ist sie schon längst in der Grafschaft rund, und wir sind die letzten, die davon erfahren?« Zerwas strich sich über seinen kurzgeschorenen Kinnbart: »Ich glaube fast, es ist besser, den Bürgern die Wahrheit zu sagen.«
»Ich bin dagegen!« entgegnete Oberst von Blautann. »Die Rebellion würde in sich zusammenbrechen.«
»Vielleicht würde es aber auch den Kampfeswillen anstacheln«, meldete sich Lysandra zu Wort. »Der Prinz war sehr beliebt. Wir sollten Rache für seinen Tod nehmen. Ein Angriff auf die Orks, die mit ihren Ritualen beschäftigt sind, könnte sogar Erfolg versprechen.«
»Nein!« Marcian hieb mit der Faust auf den Tisch. »Das alles ist eine Falle. Was meint ihr, warum sie ihr Lager in Orkenwall aufgeschlagen haben und nicht vor den Toren der Stadt? Wir müßten vierzig Meilen durch offenes Gelände marschieren, um sie anzugreifen. Da wir viele Fußtruppen mitnehmen müßten, brauchten wir zwei Tage, um bis Orkenwall zu kommen. In der Zeit hätte man uns längst bemerkt, und wir würden die Orks nicht mehr überraschen können. An Reitern, die die Strecke schneller schaffen, können wir höchstens zweihundert zusammenbringen. Das heißt wiederum, wir wären hoffnungslos unterlegen. Ein Angriff verbietet sich von selbst. Ich kann mir allerdings denken, daß die Orks wirklich glauben, daß wir durch die Nachricht vom Tod des Prinzen so kopflos werden, daß wir tatsächlich einen solchen Rachefeldzug versuchen, oder wir uns ergeben, weil der Aufstand sinnlos geworden scheint.«
In diesem Moment kehrte Lancorian in den Saal zurück. Er machte ein ernstes Gesicht. »Eines ist sicher«, verkündete der Magier, »die Baronin belügt uns nicht. So schwer verletzt, wie sie ist, war es ein leichtes, ihr meinen Willen aufzuzwingen. Und sie bleibt dabei. Sie hat den Prinzen sterben sehen.« Lancorian schilderte noch einmal die Szene, wie sie die Baronin den Offizieren erst eben erzählt hatte. »Uns bleibt nur eine kleine Hoffnung. Sie hat nicht gesehen, wie den Prinzen der tödliche Axthieb getroffen hat. Vielleicht ist er doch davongekommen. Nur so, wie sie die Lage schildert, ist die Wahrscheinlichkeit nicht groß. Auch daß die Orks sie gefangennehmen konnten, spricht dafür, daß sie die Lichtung als Sieger verlassen haben.«
Bedrücktes Schweigen herrschte unter den Offizieren. Die schwüle Sommerluft sowie die Hitze und der Rauch der Fackeln an den Wänden machten jeden Atemzug zur Qual. Im Osten war das Donnergrollen eines Gewitters zu hören. Blitze zuckten über die Graslandschaft vor der Stadt, doch der erfrischende Regen blieb aus.
»Ich habe mich entschieden«, unterbrach Marcian die Stille. »Wir müssen den Bürgern sagen, was geschehen ist.«
Marcian hatte einen trockenen Hals, und seine Beine wollten ihm den Dienst versagen. Er haßte es, vor großen Menschenmengen zu reden. Lieber würde er jetzt in die Schlacht reiten. Er stand am Fenster eines der hohen Kaufmannshäuser und blickte über den Platz der Sonnen. Das gewaltige Loch, das die Orks hier ausgehoben hatten, war verschwunden. Die Bürger hatten es mit vereinten Kräften in weniger als einer Woche zugeschüttet. Auch die Sklavenbaracken waren abgerissen worden. Der Platz war nun voller Menschen. Eine unüberschaubare Masse von Gesichtern schaute erwartungsvoll zu ihm herauf. Die Greifenfurter wußten, daß er eine wichtige Rede zu halten hatte, doch worum es ging, ahnten sie nicht. Das Gerücht von der Reiterin, die sich in der letzten Nacht zum Andergaster Tor gerettet hatte, hatte noch nicht die Runde gemacht. Marcian schritt noch einmal ins Zimmer zurück und griff nach der Zinnkaraffe mit Wein. Ein letzter Schluck. Der Wein würde vielleicht ein wenig seine Zunge lösen. Die Hand, mit der er den Pokal zum Mund führte, war naß von Schweiß. Nun mußte er beginnen. Vom Platz war schon ein unruhiges Raunen zu hören. Entschlossen schritt er zum Fenster, blickte noch einmal über die Menge, die sich auch in allen angrenzenden Straßen und Gassen drängelte. Er hob die Hand, und das Gemurmel verstummte.