Nervös herrschte Sharraz ihn an: »Was soll das? Was hat das alles zu bedeuten? Was gaffst du mich so an? - Rede!«
Doch statt zu antworten, stellte Gamba eine Gegenfrage: »Was hast du Altijar gesagt?«
Ruckartig richtete der Ork sich auf. »Ich habe ihn nicht aus dem Zirkel befreit, ganz so, wie du es mir aufgetragen hast. Was ist los? Was ist mit diesem Pfeil?«
»Ich hätte es wissen müssen«, murmelte Gamba vor sich hin. Dann blickte er wieder zum Ork. »Manchmal ist es leichter, nichts zu wissen, Sharraz. Ich werde dir nicht sagen, welcher Schatten von nun an über deinem Leben liegt. Du kannst deinem Schicksal nicht mehr entgehen, und die einzige Erleichterung, die ich dir noch verschaffen kann, ist Unwissenheit. Frage mich nicht mehr, was mit dir geschehen wird! Geh nun und sorge dafür, daß morgen vor Sonnenaufgang alle Reiter zum Aufbruch bereit sind. Wir werden Greifenfurt besuchen und uns holen, was Tairach versprochen war.«
Der Klang von Hörnern und Alarmrufe schreckten die Offiziere aus ihrer nachmittäglichen Besprechung auf. Gerade hatte man eifrig darüber debattiert, wie die wenigen Geschütze der Stadt aufzustellen seien, um sie möglichst wirkungsvoll gegen den bevorstehenden Angriff der Orks einzusetzen. Als man gerade nach den Waffen griff, um auf die Mauern zu eilen, erreichte ein Bote den Saal. Atemlos verkündete er, daß mehr als hundert Orks vor den Toren stünden und man forderte, den Oberbefehlshaber der Stadt zu sprechen.
Marcian blickte in die Runde und erklärte mit erzwungenem Lächeln: »Gut, laßt uns gehen! Es wäre doch unhöflich, unsere pelzigen Freunde warten zu lassen.« Mit energischem Schritt verließ er den Saal. Auf dem Hof der Burg warteten bereits gesattelte Pferde. »Wo stehen die Orks?« fragte er die Frau, die sein Pferd hielt. »Vor der Ostmauer. Leider halten sie sich außer Reichweite unserer Bogenschützen.«
Marcian riß sein Pferd herum, gab dem Tier die Sporen und jagte, dicht gefolgt von den anderen, vom Hof der Burg. In der Stadt herrschte Aufregung, ja beinahe Panik. Alles schien auf den Beinen zu sein und sich zur östlichen Stadtmauer zu bewegen. Jedem war klar, daß nun über das weitere Schicksal der Stadt entschieden wurde. Immer dichter wurden die Menschenmassen, die die Straßen blockierten und das Fortkommen mit den Pferden beinahe unmöglich machten. Ängstliche Blicke streiften Marcian. Die Bürger, die ihn gestern noch auf ihren Schultern getragen hatten, schien der Mut bereits wieder verlasen zu haben. Nur wenige wichen seinen Blicken nicht aus.
Innerlich fluchte der Inquisitor und trieb sein Pferd immer rücksichtsloser durch die Menge. Die halbe Stadt würde Zeuge sein, wie er mit den Orks verhandelte. Er mußte auf der Hut sein. Würde ihm nun ein Fehler unterlaufen, konnte alles vorbei sein.
Endlich erreichte er die Stadtmauer, sprang vom Pferd und hastete über ausgetretene steinerne Stufen zum Wehrgang hinauf. Soweit er blicken konnte, drängelten sich Soldaten und Bürger auf der Mauer. Gut zweihundert Schritt entfernt warteten die Orks. Eine langgezogene Reihe von mehr als hundert Reitern auf struppigen kleinen Ponys. Hinter ihm raunte Oberst von Blautann: »Das ist eine günstige Gelegenheit, wenn wir nun unsere Reiter versammeln, können wir sie alle erwischen.« Ruckartig drehte Marcian sich um: »Wir sollten erst hören, was sie zu sagen haben. Außerdem könnte das eine Falle sein. Keine Meile von hier wird die Ebene zu Hügelland. Wenn ich der Anführer der Orks wäre, hätte ich dort mein Fußvolk versteckt und würde nur darauf warten, mit den Reitern als Köder eine Ausfalltruppe in die Falle zu lokken.«
»Marcian hat recht«, mischte sich Lysandra ein. »So wie die Dinge stehen, können wir uns keinen Fehler leisten. Eine Niederlage direkt unter den Augen der Bürger ist das letzte, was wir brauchen können. Lassen wir den Orks lieber den Triumph, uns erfolgreich provoziert zu haben, falls es doch keinen Hinterhalt gibt, als daß wir uns in ein aussichtsloses Gefecht stürzen.«
Drei Reiter lösten sich aus der Kette der wartenden Orks. Der vordere hatte ein zerfetztes weißes Hemd an einen Speer gebunden. Ihm folgten ein massiger Krieger und ein Mensch auf einem Rappen.
»Das sind Sharraz Garthai und der Druide Gamba«, flüsterte die Baronin, die sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten konnte und von Lysandra gestützt wurde.
Als sie bis auf Rufweite herangekommen waren, hielten die Reiter an. Der Druide erhob seine Stimme. »Ist euer Anführer nun endlich aus seinem Loch gekrochen?«
Marcian stieg auf die Zinnen der Brüstung und gab den Bogenschützen auf der Mauer ein Zeichen, ihre Waffen zu senken. Der Wind griff nach seinem Umhang, so daß er fast wie eine rote Flamme um seine Schultern spielte. Mit fester Stimme fragte der Inquisitor: »Was willst du, Verräter?«
»Zunächst möchte ich dein Wort, daß ihr die weiße Fahne des Parlamentärs achtet und uns sicheres Geleit versprecht.«
»So sei es!« antwortete Marcian knapp.
»Gut. Hiermit fordere ich euch auf, die Stadt zu räumen. Allen Kriegern verspreche ich freies Geleit bis zur kaiserlichen Armee. Alle Bewaffneten, die nicht bis morgen früh die Stadt verlassen, haben ihr Leben verwirkt. Allen Bürgern versprechen wir, daß ihnen kein Leid geschehen wird, denn Sharraz Garthai ist sehr wohl bekannt, daß sie am Aufstand keinen Anteil hatten.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Marcian konnte aus den Augenwinkeln beobachten, wie kleine Grüppchen miteinander diskutierten. Die Worte des Verräters hatten ihre Wirkung nicht verfehlt. Marcian mußte etwas entgegnen: »Diese Stadt gehört zum Reich. Sie war in ihrer ruhmreichen Geschichte schon immer ein Bollwerk gegen die Orks, und nun, da, wie jeder weiß, ihr Orks wie Hasen vor den Soldaten der kaiserlichen Armee flieht, wird sich Greifenfurt mit Sicherheit nicht ergeben!« Gamba schmunzelte. Genau mit dieser Reaktion hatte er gerechnet. Und nun würde er alle Zuversicht der Bürger vernichten. »Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum euer Anführer nur noch vom Reich und nicht mehr vom so beliebten, so vorbildlichen Prinzen spricht?« Gamba schrie diese Worte hinaus, so daß sie jeder auf der Mauer hören konnte. Dann machte er eine wohl berechnete Pause. Im Geiste labte er sich an der Verwirrung, die er nun beinahe mit den Händen zu spüren glaubte. Da fiel ihm Marcian ins Wort. »Solltest du auf den Anschlag auf das Leben des Prinzen anspielen, so weiß jeder in der Stadt darüber Bescheid. Und schon gestern haben wir entschieden, auch wenn Brin tot sein sollte, werden wir ihn ehren, indem wir uns nicht ergeben.« Für einen Moment verschlug es Gamba die Sprache. Sharraz schaute finster zu ihm herüber. Er hatte diesen Mann im roten Umhang unterschätzt. Das sollte ihm nicht wieder geschehen! Gamba hätte im Traum nicht daran gedacht, daß der Anführer der Greifenfurter Rebellen es riskieren würde, die Geschichte um den vermeintlichen Tod des Prinzen den Bürgern preiszugeben. Nun gut, er hatte eine Waffe in seinem Kampf damit unerwartet verloren. Doch er verfügte durchaus noch über andere Mittel.
»Euer Mut ehrt euch, auch wenn ihr damit euer Leben verspielt. Doch alle, die Zweifel im Herzen tragen, mögen mir nun gut zuhören! Wer immer die Stadt verlassen will, wird am ersten Tag des Monats Praios von uns freies Geleit bekommen. Wer sich nach Sonnenuntergang dieses Tages noch in den Mauern Greifenfurts aufhält, dessen Schicksal ist besiegelt. Und nun fordern wir, was uns gehört! Eine Kriegerin hat sich zu euch geflüchtet. Sie ist Tairach versprochen. Ich verlange sie zurück! Gebt ihr sie nicht heraus, werdet ihr den Zorn des Blutgottes auf eure Häupter ziehen!«
»Daß ihr ein Verräter seid, ist nicht zu übersehen, doch wir hier werden unseresgleichen nicht verraten«, antwortete Marcian stolz.
»Ich weiß, daß es eure Pflicht ist, mir so zu antworten, doch bedenkt, es gibt keinen Priester der Zwölfgötter mehr in der Stadt, der für euer Heil beten könnte oder euch vor dem Zorn Tairachs behüten würde. Es wäre nicht das erste Mal, daß der Blutgott sich holt, was ihm gehört.« Marcian blickte zu der Baronin hinüber. Nein, er würde sie den Orks nicht übergeben. Das wäre ehrlos. »Spar dir deinen faulen Atem! Wir werden keinen aus unseren Reihen opfern. Und deine Götter, die den Rausch träumen von Schamanen entsprungen sind, fürchten wir nicht.« »Wenn es so ist, dann laßt doch die Götter ein Urteil fällen!« Gamba richtete sich in den Steigbügeln auf. Dann zog er einen schwarzen Pfeil aus dem Köcher an seinem Sattel. Die ganze Nacht hatte er daran gearbeitet und ihn mit kunstvollen Runen beschriftet, um zum Schluß einen Fetzen vom Hemd der Kriegerin eng um den Schaft zu wickeln. Der Pfeil trug den Namen der Baronin. Sharraz reichte dem Druiden einen kunstvoll geschwungenen Hornbogen.