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Die Bogenschützen auf der Stadtmauer hoben ihre Waffen. Was sollte diese bedrohliche Geste? Wollte ein einzelner Bogenschütze die ganze Stadt fordern? Marcian gemahnte seine Männer zur Ruhe. Dann war wieder Gambas Stimme zu hören: »Seht diesen Pfeil!« Er hob das Geschoß hoch über seinen Kopf. »Er soll über unseren Streit entscheiden. Ich werde ihn nun in den Himmel schießen. Sollten eure Götter auf eurer Seite stehen, so wird er mit Sicherheit in den Wolken verschwinden oder zumindest wieder vor meine Füße fallen, wie es jeder Pfeil tun muß, der senkrecht in den Himmel geschossen wird. Doch hat euer Verhalten den Zorn Tairachs geweckt, so wird er ihn lenken und seine Rache nehmen, denn niemand, der einmal am Opferpfahl für den Blutgott gestanden hat, kann ihm entkommen. Nehmt ihr diesen Vorschlag an? Wenn ihr an die Macht eurer Götter glaubt, kann euch schließlich nichts passieren!«

Marcian blickte zur Baronin. »Ich würde dieses Angebot nicht annehmen!«

»Und alle Bürger müßten glauben, daß wir das Vertrauen in die Götter verloren haben. Nein! Einen so schlechten Dienst werde ich unserer Sache nicht erweisen. Laßt mich los, Lysandra.« Unsicheren Schrittes trat die Kriegerin an die Brüstung. Dann kletterte sie auf die Zinnen, um sich, leicht schwankend, neben Marcian zu stellen.

»Sieh her, Gamba, ich habe überlebt, was du und die Tairachpriester mir angetan haben! Ich vertraue auf meine Götter, auch wenn du sie dann forderst, wenn die Macht des Bösen am stärksten ist. Schieß deinen Pfeil in den Himmel! Ich habe keine Angst vor dir oder den Göttern der Orks, denen ich schon einmal entkommen bin.«

Ein Raunen lief durch die Menge auf der Stadtmauer. Greifenfurt hatte eine neue Heldin. Ein Blitz zuckte vom Himmel. Das konnte ein Zeichen des Praios sein, denn jeder wußte, daß der oberste der Zwölfgötter Frevler mit einem tödlichen Blitz verfolgte. Mit Getöse zog das Donnergrollen über die Köpfe der wartenden Menge hinweg. Seit die Namenlosen Tage begonnen hatten, verschlechterte sich das Wetter immer mehr. Es war drückend heiß geworden, und mehrere Gewitter hatten sich über der Stadt entladen. Jetzt war der Himmel pechschwarz, und die Türme der Stadt schienen fast bis an den niedrigen Himmel zu reichen.

Gamba legte den Pfeil auf die Sehne und spannte den Bogen bis zum Zerreißen. Seine Hände waren feucht. Er war sich darüber im klaren, daß er mit seinen Reden die Zwölfgötter gereizt haben mußte, doch er vertraute darauf, daß sie an diesem Tag nicht die Macht haben würden, ihn dafür zu strafen. Noch einen Moment zauderte er, dann ließ er den Pfeil von der Sehne schnellen. Mit sirrendem Geräusch stieg er fast senkrecht in den Himmel. Wieder blitzte es, als das schwarze Geschoß in den niedrigen Gewitterwolken verschwand.

Einige auf der Mauer begannen zu beten. Ein Loblied auf Praios, den Gott der Gerechtigkeit. Immer mehr Stimmen fielen in den Gesang ein. Die Baronin kniete auf den Zinnen nieder, breitete ihre Arme aus, blickte zum Himmel und stimmte in das Gebet mit ein. Andere schlugen verstohlen ein Schutzzeichen gegen das Böse, da sie einem Gebet allein an diesem finsteren Tag nicht vertrauten.

Auch die Orks wirkten nervös. Viele Reiter hatten Schwierigkeiten, ihre unruhigen Ponys im Zaum zu halten. Ein böiger Wind jagte von Norden über die Ebene.

Da ertönte ein einzelner Schrei von der Stadtmauer. Eine Frau zeigte auf den Himmel. Andere fielen in ihr Schreien ein, und im nächsten Augenblick griff die Baronin nach ihrer Kehle. Ein schwarzer Pfeil steckte zitternd in ihrem Hals. Ein breiter Strom von Blut ergoß sich über den Brustpanzer, den Marcian ihr geschenkt hatte. Dann kippte sie vornüber und stürzte von der Mauer herab.

Triumphierend erhob Gamba seine Stimme. »So wie Tairach diese Frevlerin bestraft hat, so wird er auch diese Stadt bestrafen, wenn ihr uns nicht die Tore öffnet. Der Blutgott hat über euren Sonnengott den Sieg davongetragen. Euer Praios konnte seine Streiterin nicht beschützen, und ebensowenig wird er diese Stadt beschützen können, wenn unser Zorn euch trifft.« Damit rissen der Druide, Sharraz Garthai und der Fahnenträger ihre Reittiere herum und ritten zurück zu ihren jubelnden Leuten.

»Haltet die Bögen unten!« übertönte Marcians Stimme das Chaos auf der Stadtmauer. Gerade hatte er beobachten müssen, wie einige von Lysandras Freischärlern ihre Waffen spannten, um den Parlamentären in den Rücken zu schießen . »Laßt uns die Götter nicht kränken, indem wir so ehrlos ihren Schicksalsspruch in Frage stellen. Lysandra, achte auf deine Männer!«

Die letzten Worte gingen in dem unbeschreiblichen Lärm auf der Mauer unter. Manche warfen sich zu Boden und beteten. Andere schrien lauthals, daß alles verloren sei und man den Orks die Tore öffnen solle. Die meisten drängten in wilder Panik von der Mauer, um in ihren eigenen Wänden Schutz zu suchen. Marcian mußte mitansehen, wie ein alter Mann in dem Gedrängel von der Mauer stürzte, und auch in den engen Gassen mochte es noch Tote geben, wenn er der Flucht nicht Einhalt gebieten konnte. Nur wenige Schritt von ihm entfernt stand eine Frau mit einem Horn am Gürtel. Sie gehörte zu den Freischärlern. Er drängelte sich zu ihr hinüber.

»Gib mir dein Horn!« schrie der Inquisitor, um den Lärm der kreischenden Menge zu übertönen. Die Frau starrte ihn fassungslos an, und er riß ihr das schöne messingbeschlagene Horn vom Gürtel und setzte es an die Lippen. Der dumpfe Ton übertönte das Geschrei vor der Mauer. Noch einmal stieß Marcian ins Horn. Es war nun ein wenig ruhiger geworden. Einige hatten sich umgedreht und blickten zu ihm hinauf, doch die meisten versuchten immer noch, in blinder Panik zu fliehen. Die wenigen, die stehenblieben, wurden zum Hindernis für die, die nichts anderes im Sinn hatten, als so schnell wie möglich von der Mauer und dem Ort des Gottesgerichtes wegzukommen.

Mittlerweile hatten einige handfeste Schlägereien begonnen. Da erhob der Inquisitor die Stimme: »Männer und Frauen von Greifenfurt! Es mag so scheinen, als hätten uns die Götter verlassen, doch morgen sind die Namenlosen Tage vorbei, und Praios wird uns wieder schützen!« »Und wenn die Götter der Orks wirklich mächtiger sind als die Zwölf?« erhob sich eine Frauenstimme aus der Menge.

»Gestern haben wir hören müssen, daß der Prinz tot ist, und heute haben uns sogar die Götter schon verlassen.

Nenn uns einen Grund, warum wir noch kämpfen sollten?« schrie ein bärtiger Mann.

Marcian schwieg. Er wußte nicht, womit er den Menschen noch Mut machen sollte. Da stellte sich Zerwas neben ihn. Ein Schauder durchlief den Inquisitor. Der Henker hatte eine schwarze Rüstung mit kostbaren goldenen Verzierungen angelegt. Es war das erste Mal, daß Marcian ihn in dieser Rüstung sah. Zerwas breitete die Arme aus, und es wurde ruhiger. Alle hingen an seinen Lippen.

»Die Götter sind gegen euch, weil ihr sie verraten habt. Ihr habt geduldet, daß die Orks den Praios-Tempel eurer Stadt niedergerissen haben. Ihr habt zugeschaut, wie dem Blutgott Menschen geopfert wurden, und keiner von euch hat seine Hand erhoben, als die Schwarzpelze die Geweihten aus ihren Tempeln zerrten, um sie in die Sklaverei zu verschleppen. Das war der Dienst, den ihr den Zwölfgöttern geleistet habt. Und ihr erwartet noch, daß sie ihre schützende Hand über euch halten? Wenn ihr nicht für jetzt und alle Zeiten ein gottloses Leben führen wollt, dann erweist ihnen einen Dienst. Zeigt ihnen, daß ihr noch an sie glaubt! Wehrt euch gegen die Orks! Jetzt haben die Götter euch nur ihre Gunst entzogen. Doch öffnet den Orks die Tore, und Greifenfurt wird eine verdammte Stadt sein! Legt Zeugnis ab für euren Glauben! Wehrt euch gegen die Orks, und ihr werdet die Gunst der Zwölfe wiedererlangen können. Die Entscheidung liegt bei euch.«