Die Menge war nun ganz ruhig geworden, und Marcian richtete noch einmal das Wort an sie: »Geht nach Hause und denkt über das nach, was ihr gehört habt! Wer gehen will, soll gehen! Ich werde niemanden aufhalten, der die Stadt verläßt, denn wer die Angst in seinem Herzen trägt und ihr keinen Einhalt gebieten kann, den können auch wir nicht gebrauchen.«
Langsam leerte sich die Stadt vor der Mauer. Durch viele kleine Gassen verstreute sich die Menge. Vom Jubel des Vortages gab es keine Spur mehr. Marcian war sicher, daß morgen viele gehen würden.
Zerwas blickte ärgerlich zu ihm herüber. »Ihr versteht es, den Menschen Mut zu machen! Mußtet ihr die Feiglinge auffordern, ihre Sachen zu packen?«
»Offengestanden, Henker, glaube ich nicht, daß sie uns eine große Hilfe wären. Wenn die Stadt angegriffen wird, muß ich mich auf die, die noch hier sind, verlassen können.«
Dicke Regentropfen fielen vom Himmel. Marcian schlang seinen Umhang enger um die Schultern und schritt die steinerne Treppe an der Mauerseite hinab. Dort warteten immer noch einige Männer mit den Pferden der Offiziere. Er würde vor die Stadt reiten und den Leichnam der Baronin holen. Sie hatte sich tapfer ihrem Schicksal gestellt und sollte nicht zum Fraß der Wölfe und Raben werden.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen, sagte Lysandra hinter ihm: »Ich komme mit dir.« Schweigend ritten sie durch die engen Gassen der Stadt. Wie in Sturzbächen ergoß sich das Regenwasser von den steilen Giebeln über die Amazone und den Inquisitor. Ohne ein Wort öffneten die Wachen die schweren Torflügel, als sie am Andergaster Tor ankamen. An der Mauer entlang ritten sie bis zu der Stelle, wo die Baronin von den Zinnen gestürzt war. Sie lag in einer Pfütze, das Gesicht mit starrem Blick zum Himmel gerichtet, so als könne sie es selbst im Tod nicht fassen, daß die Götter es zugelassen hatten, daß dieser verfluchte Pfeil sie traf.
Marcian drückte ihr sanft die Augen zu. Dann bemerkte er Lysandras Blick. »Das ist kein normaler Pfeil«, erklärte die Amazone. Noch immer ragte der gefiederte Schaft aus dem Hals der Toten. Marcian griff danach und versuchte, ihn herauszuziehen.
»Das ist sinnlos«, kommentierte Lysandra seinen Versuch. »Die Pfeilspitze hat Widerhaken. Du wirst ihr regelrecht die Kehle zerfetzen, wenn du versuchst, den Pfeil auf diese Art herauszubekommen. Du mußt ihn durch die Wunde drücken, so daß er in ihrem Nacken wieder herauskommt.«
Die Amazone kniete sich neben ihm nieder und drückte mit dem Handballen gegen den Pfeilschaft, um ihn noch tiefer in den Hals zu treiben. Dann drehte sie den Leichnam herum. Wenige Fingerbreit ragte die blutverschmierte Spitze aus dem Nacken. Lysandra griff danach und zog unter sichtlicher Mühe den Pfeil heraus. Dann wusch sie in der Pfütze das Blut von ihm und musterte das Resultat. »Siehst du diese weißen Runen auf dem Schaft? Ich sage dir, dieser Verräter hat ein falsches Spiel mit uns getrieben. Das war kein Gottesurteil! Laß Lancorian den Pfeil untersuchen!«
Der Inquisitor musterte das Geschoß, sagte aber nichts. Dann steckte er den Pfeil in seine Satteltasche. Wieder drehte er sich zur toten Baronin um. Ihm tat leid, wie er sie an dem Abend behandelt hatte, als sie in die Stadt gekommen waren. Nun war es zu spät, sie um Verzeihung zu bitten. Das letzte, was er noch für sie tun konnte, war, ihr ein ehrenvolles Begräbnis zu bereiten. Sie sollte unter dem Altarstein im RondraTempel ruhen.
Gemeinsam mit Lysandra legte er die Tote über den Rücken seines Pferdes. Als sie die Baronin aufhoben, begann die Wunde noch einmal zu bluten und besudelte Marcians Umhang. Ein böses Omen! Gaben ihm die Götter die Schuld an ihrem Tod? Lysandra schien davon nichts bemerkt zu haben. Jedenfalls sagte sie nichts. Der Inquisitor nahm sein Pferd am Zügel, und sie machten sich auf den Rückweg durch den Regen.
Das neue Jahr begann mit strahlendem Sonnenschein. Ein Morgen, der dem Sonnengott Praios, dem der erste Monat des Jahres zugeordnet war, alle Ehre machte. Nichts erinnerte mehr an die düsteren Gewitterwolken, die in den letzten Tagen über der Stadt gehangen hatten, und doch wirkten die unheilvollen Auswirkungen vom Auftritt der Orks am Vortag weiter. Auf den Straßen drängten sich Bürger und Flüchtlinge, die ihre Habe zusammentrugen, um Maultiere und Wagen zu bepacken. Kinder schrien; allenthalben blockierten Säcke oder gar Möbel, die man kurzentschlossen wieder von überladenen Wagen geworfen hatte, die Gassen und Straßen, und überall ertönte der Lärm lauter Streitereien zwischen Nachbarn, die sich jetzt gegenseitig Feiglinge oder Selbstmörder schimpften.
Das vermeintliche Gottesurteil vom Vortag hatte die Stadt in zwei Lager gespalten, und schon als mit den ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages die beiden Stadttore geöffnet wurden, hatten die ersten Flüchtlinge Greifenfurt verlassen. Von den Orks war weit und breit nichts zu sehen, und die Wagen nahmen ihren Weg auf der Kaiserstraße entweder Richtung Andergast im Westen oder nach Wehrheim im Osten.
Schon vor Sonnenaufgang hatte Marcian Oberst Blautann mit seinen Kürassieren ausgeschickt, um zu überprüfen, wie sicher die Straßen waren. Insgeheim hoffte er darauf, daß die Orks die Flüchtlinge ausplünderten und ihr Wort vom Vortag nicht hielten. Dann würden es sich viele Bürger im letzten Moment noch einmal anders überlegen, doch bislang hatte er keine Meldung von den Reitern erhalten. Es war nun schon Mittag. Der Inquisitor hatte sich in sein kühles Turmzimmer im Bergfried zurückgezogen und überdachte noch einmal die Ereignisse der letzten Tage, als es klopfte.
»Wer da?« rief er unwirsch zur Tür. Ohne die Frage zu beantworten, trat Lancorian ein. Er sah müde und übernächtigt aus. Sein langes, blondes Haar hing in Strähnen vom Kopf, und dunkle Ringe rahmten seine Augen.
»Schlechte Nachrichten«, murmelte der Magier. Er hielt den Pfeil hoch, der die Baronin am Vortag getötet hatte. »Dieser Pfeil ist mit einem Zauber belegt. Um welche Art Magie es sich handelt, ist mir schleierhaft. Ich bin zwar alles andere als ein Experte im Analysieren magischer Artefakte, doch soviel ist sicher, dieser Pfeil ist anders als alles, was mir bislang in die Finger geraten ist. Jeder magische Gegenstand ist von einer unsichtbaren Aura astraler Kraftlinien umgeben. Sie bilden ein kompliziertes Netz, aus dessen Form und Aufbau man Rückschlüsse auf den Zauber ziehen kann, mit dem er belegt ist. Doch das hier ist mir völlig fremd. Eine gute Nachricht gibt es allerdings auch. Ich konnte herausfinden, was die Schriftzeichen auf dem Schaft des Pfeils bedeuten. Hier steht ›Baronin Ira von Seewiesen‹.« Der Zauberer schaute Marcian gespannt an.
Der Inquisitor zog die Stirn in Falten. »Willst du mir damit sagen, daß dieser Pfeil allein dazu diente, sie zu töten.«
»Ich fürchte, wenn ein solcher Pfeil einmal abgeschossen ist, findet er immer den, dessen Namen er trägt, egal, ob der Schütze nun auf sein Opfer zielt oder wie gestern einfach den Pfeil in den Himmel schießt, um ein Gottesurteil zu inszenieren. Dafür spricht auch dieser kleine Stoffetzen, der um den Schaft gewickelt ist.« Lancorian zeigte Marcian einen blutgetränkten Leinenstreifen, der unmittelbar unter der Pfeilspitze einige Male um den Schaft gewickelt war. Der Stoff saß sehr straff und fiel erst bei näherer Betrachtung auf.
»Ich denke, dieser Streifen stammt vom Hemd der Baronin oder irgend einem anderen Wäschestück«, erklärte der Magier. »Wenn meine Vermutungen stimmen, spielt er eine entscheidende Rolle, um diesen Pfeil einsatzfähig zu machen. Man braucht etwas, das derjenige, dem man schaden will, an seinem Körper getragen hat. Etwas, das ein wenig von der Aura des potentiellen Opfers in sich aufgenommen hat. Nur so kann man die Brücke für den Zauber schlagen.«