Marcian wirkte leicht irritiert.
»Man könnte auch einen Vergleich zu einem Bluthund ziehen. Um sein Opfer aufzuspüren, muß man ihn auf die Fährte führen oder besser noch, an einem Kleidungsstück desjenigen schnuppern lassen, den es zu finden gilt«, dozierte Lancorian, der trotz seiner Müdigkeit mehr und mehr in Redelaune kam.
Dem Inquisitor lief ein Schauer über den Rücken. Im Geiste sah er einen schwarzen Pfeil, der seinen Namen trug. »Wie viele von diesen Pfeilen können die Orks wohl haben?«
Der Zauberer zuckte mit den Achseln. »Viele können es eigentlich nicht sein. Solche Artefakte herzustellen ist gefährlich und kostet viel Kraft. Es mag vielleicht fünf oder sechs von diesen Pfeilen geben.«
»Das würde ja schon völlig reichen. Dieser Schwarzmagier, Hexer, Druide oder was immer er sein mag, den wir gestern an der Seite von Sharraz Garthai gesehen haben, braucht auch nur wenige Pfeile. Was glaubst du, was passiert, wenn es hier einen Anführer nach dem anderen erwischt. Wenn Lysandra, ich, du und noch ein paar andere von schwarzen Pfeilen getroffen werden, die scheinbar aus dem Himmel kommen? Ein paar solcher Unglücksfälle und die Greifenfurter öffnen freiwillig ihre Stadttore. Die Orks brauchen uns gar nicht zu belagern. Jetzt wird mir auch klar, warum sie in Orkenwall und nicht vor unseren Stadttoren stehen. Ein Angriff ist erst gar nicht geplant. Sie werden hier ohne einen Schwertstreich als Sieger einziehen.« Marcian sah den Magier hilfesuchend an. »Gibt es irgendein Mittel, mit dem man sich gegen die Pfeile schützen kann?«
»Nicht, daß ich wüßte«, antwortete Lancorian. »Vielleicht könnte man etwas tun, wenn man genau wüßte, welcher Art von Zauber auf den Pfeilen liegt, aber so wie die Dinge im Moment stehen, weiß ich nicht weiter.«
Marcian erhob sich aus dem großen Lehnstuhl, in dem er gesessen hatte, und ging zu dem Fenster, das auf die Stadt hinauswies. Er verschränkte die Hände hinter dem Rücken und dachte nach. Sie mußten einen Weg finden, an diese Pfeile zu kommen. Aber wie?
Marcian wußte nicht, wie lange er nach draußen gestarrt hatte, als er ein Räuspern in seinem Rücken hörte. Der Inquisitor drehte sich um. »Mit Verlaub, ich bin müde. Ich habe die ganze Nacht und den Vormittag in meinem Arbeitszimmer versucht, dem Geheimnis dieser Pfeile auf die Spur zu kommen. Jetzt würde ich gerne schlafen.« Es schien, als würde Lancorian noch etwas verschweigen. Er wirkte bedrückt.
»Entschuldige, ich war so in Gedanken, daß ich dich für einen Augenblick vergessen hatte. Geh nur, Lancorian, aber bitte sei heute abend zur Versammlung der Offiziere anwesend. Wir müssen gemeinsam überlegen, was zu tun ist. Ich allein weiß im Moment keinen Rat.« Als der Magier schon fast zur Tür hinaus war, eilte ihm Marcian nach. »Warte noch einen Augenblick! Dich bedrückt doch etwas. Was verschweigst du mir?«
Lancorian zögerte. »Heute morgen hat es Streit in meinem Haus gegeben. Die Mädchen wollen gehen. Sie haben einen Karren gepackt und vor einer Stunde die Stadt verlassen. Sie sagten, daß sie nicht in die Hände der Orks fallen wollen, wenn die Stadt gestürmt wird. Selbst das Geschäft als Troß-Huren der kaiserlichen Armee sei ihnen lieber als solche Aussichten.«
Marcian war merklich blasser geworden, als der Magier fortfuhr. »Mach dir keine Sorgen! Cindira ist geblieben, obwohl sie in den letzten Tagen schlecht von dir und deiner Heimlichtuerei redet. Wenn du mich fragst, machst du einen Fehler.«
»Ich frage dich aber nicht!« herrschte ihn der Inquisitor an. »Wenn die Dinge so liegen, haben wir uns wohl nichts mehr zu sagen.« Der Magier drehte sich auf dem Absatz um und stieg die Wendeltreppe des Bergfrieds hinab.
Marcian ging an das Fenster zurück und beobachtete, wie der Magier Augenblicke später den staubigen Burghof passierte. Es tat ihm leid, ihn so angefahren zu haben. Daß sein Verhältnis zu Cindira schwierig war, wußte er selbst. Erst letzte Nacht hatten sie lange gestritten. Das Mädchen verlangte, daß er sich offen zu ihr bekennen solle. Der Inquisitor versuchte, die Sorgen zu verdrängen und sich mit dringenderen Problemen zu beschäftigen.
So wie es aussah, würde jeder dritte Greifenfurter die Stadt verlassen. Mehr als tausend Bürger packten ihre Sachen oder waren schon unterwegs. Von den zwölfhundert Flüchtlingen, die in den letzten Wochen in den Mauern der Stadt Schutz gesucht hatten, würde auch die Hälfte gehen. Damit würden die Lebensmittelreserven der Stadt zwar deutlich länger reichen, doch nun fehlten auch viele kampffähige Männer und Frauen, und es würde schwieriger, die Stadt zu halten. Der Inquisitor hatte das Gefühl, auf verlorenem Posten zu stehen. Vielleicht sollte er Zerwas aufsuchen? Gestern hatte er mit seiner Rede das Blatt gewendet. Vielleicht wußte er auch diesmal einen Ausweg, auch wenn Marcian es haßte, ausgerechnet bei ihm Rat suchen zu müssen.
Schon mehrmals hatte Marcian vergeblich gegen die schwere Eichentür geklopft. Entweder war Zerwas nicht da, oder er wollte ihm nicht öffnen. Noch einmal musterte der Inquisitor die Turmruine, in der der Henker hauste. Einen ungewöhnlichen Geschmack hatte Zerwas! Sein Heim war früher einmal Teil der Stadtmauer gewesen. Irgendwann mußte es dann ausgebrannt sein. Noch immer wiesen die massiven grauen Steine die Zeichen eines verzehrenden Feuers auf. Vor allem dort, wo der Turm in geborstenen Mauerresten endete, waren die Steine selbst heute noch schwarz vor Feuer. Der hölzerne Dachstuhl mußte damals eingestürzt sein, und einen Teil des oberen Mauerrands hatte er mit in die Tiefe gerissen.
Marcian hatte noch nie die Wohnung des Henkers betreten. Vom Hörensagen wußte er, daß sich Zerwas, nachdem er vor mehr als einem halben Jahr in Greifenfurt aufgetaucht war, die Ruine vom Magistrat gekauft hatte und er das Erdgeschoß wiederherstellen ließ. Er hatte den Auftrag gegeben, statt eines Turmdachs auf drei Schritt Höhe ein provisorisches Dach aus schweren Balken und Holzschindeln Inzwischen die Mauerreste zu ziehen.
Wieder klopfte Marcian. Diesmal noch energischer. Er hielt inne. Hatte sich die Tür bewegt? Marcian drückte gegen das Holz. Tatsächlich, die Tür war von innen nicht verschlossen. Neugierig öffnete er. Wahrscheinlich war die Tür nicht richtig ins Schloß geschnappt, als Zerwas gegangen war. Nun, Marcian würde es sich gemütlich machen und auf den Henker warten.
Als Marcian eintrat, verschlug es ihm schier die Sprache. Was Zerwas sich hier eingerichtet hatte, war ein regelrechter Palast. Wo mochte er diese erlesenen Kostbarkeiten während der orkischen Besatzungszeit nur herbekommen haben? Prächtige Teppiche aus der Khom und elegante Möbel aus den edelsten Hölzern füllten den Raum. Es duftete nach Rosenholz und Weihrauch. Vor einem kleinen Boronschrein brannten Räucherstäbchen, wie man sie im Süden Aventuriens benutzte. Auf dem elegant geschnitzten Tisch in der Mitte des Raums lagen mehrere Bücher. ›Das Arcanum‹, ›Almanach der Wandlungen‹ und ›Das große Buch der Abschwörungen‹ waren die auffälligsten Titel. Literatur, die man eher auf dem Tisch eines Magiers als bei einem Henker erwartet hätte.
Verwundert blickte sich Marcian weiter um. Was mochte dieser Mann getan haben? Eine solche Pracht hatte er hier nicht erwartet. Zerwas mußte reich sein. Doch wie konnte ein Henker zu einem Vermögen kommen? Der Inquisitor konnte sich nicht vorstellen, daß man in Mengbilla einen Scharfrichter um so vieles besser bezahlte als im Kaiserreich. An den Wänden hingen auf Haken einige kostbare Waffen. Die prächtige Rüstung, die Zerwas am Vortag getragen hatte, war nirgends zu sehen. Auch der mächtige Zweihänder, den er immer mit sich führte, fehlte. Hinter dem Bett mit seinem dunkelblauen Himmel führte eine Stiege nach oben. Neugierig erklomm Marcian die Stufen, stemmte eine Falltür hoch und befand sich auf dem leicht angeschrägten Dach. Hier waren die Mauern des Turms noch immer pechschwarz. Das Ganze wirkte fast wie ein großer Kamin. Nur die steinernen Stufen, die sich an der Wand des Turms in Spiralen nach oben wanden, hatten die Feuersbrunst überstanden. Jetzt führten sie ins Nichts.