Marcian stieg wieder in den prächtigen Wohnraum hinab. Dort setzte er sich auf einen hohen Lehnstuhl aus Ebenholz und blätterte in den Büchern, die auf dem Tisch lagen.
Nach einiger Zeit ließen den Inquisitor Schritte auf dem Dach erschrekken. Nur wenig Licht drang noch durch die schmalen, hochgelegenen Fenster in den Raum. Es mußte schon fast Abend sein. Jetzt wurde die Klappe zum Dach geöffnet. Wie konnte jemand von dort oben kommen? Als er dort gewesen war, hatte er niemanden gesehen! Und ein anderer Weg führte nicht auf das Dach! Instinktiv griff Marcian nach seinem Schwert.
Schwere Schritte kamen die hölzerne Stiege herab. Marcian sprang auf und sah Zerwas, der nicht minder überrascht wirkte als der Inquisitor. Der Henker faßte sich als erster wieder und fragte süffisant: »Was verschafft mir die Ehre dieses unangekündigten Besuchs?« »Ich wollte mit dir reden. Aber wo kommst du her?« Zerwas musterte sein Gegenüber mißtrauisch. »Das ist doch wohl unschwer zu sehen. Vom Dach natürlich!«
»Das wundert mich. Ich war auf dem Dach und habe dich nirgends gesehen.«
Der Henker lächelte herablassend. »Spionierst du mir nach?«
»Nein!« Marcian blickte ihn fest an. »Trotzdem wüßte ich gerne, wo du herkommst. Man erzählt sich in der Stadt so allerlei über dich. Bist du vielleicht doch ein Magier? Kannst du fliegen?«
Zerwas machte eine wegwerfende Geste. »Weder das eine noch das andere. Bist du bei deinen Beobachtungen vielleicht auch die Treppe hinaufgestiegen?«
»Nein. Warum diese Frage?«
»Ist dir aufgefallen, daß es auf halber Höhe eine Türöffnung gibt?« »Ja, ich erinnere mich.« Marcian fragte sich, worauf der Henker hinauswollte.
»Diese Tür führt auf eine schmale Terrasse. Dort habe ich gesessen und die Sonne genossen. Du siehst, wie Geschichten über mich entstehen. Wärest du nicht ein aufgeweckter Offizier, sondern irgendein Bürger, würde noch heute abend das Gerücht die Runde machen, Zerwas könnte fliegen.«
Marcian gab sich zum Schein mit der Antwort zufrieden. Insgeheim war er sich aber völlig sicher, daß er den Henker durch den Türbogen gesehen hätte, wenn er wirklich auf der Terrasse gewesen wäre. Außerdem erinnerte er sich an eine Geschichte, die Darrag ihm über die empfindliche Haut von Zerwas erzählt hatte. Nein, was immer dieser Mann getan haben mochte, ein Sonnenbad hatte er bestimmt nicht genommen! Doch Marcian stellte keine weiteren Fragen. Statt dessen berichtete er dem Henker von den schwarzen Pfeilen und fragte ihn um Rat.
Zerwas strich sich über den kurzgeschorenen Kinnbart und grübelte. »Offen gestanden bin ich mir nicht sicher, was zu tun ist. Das beste wäre, sich die Pfeile zu holen, doch glaube ich kaum, daß das einem unserer Männer gelingen könnte. Man müßte unauffällig ins Orklager eindringen und sie stehlen, doch nüchtern betrachtet ist das nichts anderes als eine besonders makabre Art von Selbstmord. Auf der anderen Seite ist unsere Situation aber wohl auch nicht ganz so verzweifelt, wie sie vielleicht im ersten Moment scheinen mag. Schließlich genügt es den Orks ja nicht, allein unsere Namen zu wissen, sie müssen auch noch irgend etwas aus unserem Besitz haben, was sich obendrein leicht an einen Pfeil befestigen läßt. Also ein Haar, einen Stoff streifen oder ein Lederriemchen. Sicher sind die Pfeile nicht ungefährlich, aber sie sind auch bei weitem nicht so leicht einzusetzen, wie es auf den ersten Blick scheinen mag.«
»Du hast recht«, entgegnete Marcian kühl und fuhr nach einer Pause fort: »Du scheinst für einen Henker ungewöhnlich gut in Sachen Magie bewandert zu sein. Auch die Lektüre auf deinem Tisch ist nicht das, was man im Haus eines Scharfrichters erwarten würde.«
Zerwas warf einen flüchtigen Blick zu den Büchern und antwortete mit einem Achselzucken: »Daß ich mich für Magie interessiere, verhehle ich ja gar nicht. Nur leider befähigt einen das Interesse allein noch nicht zum Zaubern. Und habt nicht auch Ihr in diesen Büchern gelesen, als ich hereinkam?«
Marcian entgegnete darauf nichts, er wurde aber das Gefühl nicht los, daß Zerwas ein Geheimnis umgab. Statt Antworten hatte ihm dieser Besuch nur neue Fragen gebracht. Er würde seine Agenten auf ihn ansetzen. Es wurde ohnehin höchste Zeit, sie wieder zu beschäftigen, denn abgesehen von einigen Überfällen auf die Orks, bei denen sie im Gefolge von Oberst Blautann mitgeritten waren, hatten sie seit der Rebellion in der Stadt und der Erstürmung des vorderen Garnisonstores keine ernsthafte Aufgabe mehr gehabt. Sollten sie Zerwas beschatten! Der Inquisitor wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte er sich noch einmal um. »Fast hätte ich es vergessen! Du kommst doch gleich zur Versammlung?«
»Sicher!« Zerwas lachte verschmitzt. »Schließlich hat Greifenfurt im Moment auch nicht allzu viel Unterhaltung zu bieten. Das Bier wird immer teurer, und Gerüchten zufolge sind Lancorian heute fast alle Nutten abgehauen.«
Worauf spielte der Kerl damit an? Wußte er von ihm und Cindira? Sie war immer heimlich in die Garnison gekommen, und nur drei Wächter waren eingeweiht. Schließlich würde es seinem Ruf als Stadtkommandant schaden, wenn die biederen Bürger wüßten, daß er sich regelmäßig mit einer Hure traf. Cindira hatte dafür allerdings kein Verständnis. Marcian schloß die schwere Tür zum Turm energischer als nötig gewesen wäre, und schon im nächsten Moment ärgerte er sich darüber. Zerwas konnte keine Beweise haben, aber diese Reaktion würde seine Vermutungen bekräftigen.
Zerwas setzte sich auf den Stuhl, auf dem eben noch Marcian gesessen hatte, und blätterte in den Büchern. Er suchte nach verräterischen Notizen, die er während seiner Studien gemacht haben konnte. Doch er hatte Glück. Diese Bände schienen nichts zu enthalten, woraus der Stadtkommandant auf seine Herkunft oder sein Geheimnis hätte schließen können. Dennoch ärgerte ihn die Neugier und das Mißtrauen. Vielleicht sollte er sich überlegen, wie Marcian zu beseitigen war. Die ganze Art, in der er hier eingedrungen war, und seine Fragen mißfielen dem Vampir. Er griff nach seinem Schwert, das er auf den Tisch gelegt hatte, und streichelte die tödliche Klinge. Noch immer war es ihm nicht gelungen zu ergründen, was ›Seulaslintan‹ eigentlich war. Diese Frage, die jedem anderen absurd vorkommen mußte, beschäftigte den Vampir schon seit Jahrhunderten. Er dachte an jene Nacht in den Bergen, in der er das Schwert gefunden hatte. Damals suchte er mit seinen Freunden in einer Burgruine im Finsterkamm vor einem Unwetter Zuflucht. Nur wenige Wochen war es her, daß er sich mit seinem Vater zerstritten hatte. Er wollte, daß er Schmied würde. Schließlich habe er in seiner Kindheit und Jugend auch nichts anderes gelernt. Doch ihm reichte es nicht, Schwerter für andere zu schmieden. Er wollte selbst endlich eine Waffe führen und hatte auch schnell einige leichtfertige Glücksritter gefunden, denen er sich anschließen konnte. Doch die Nacht in der Ruine beendete seine Karriere als Abenteurer, noch bevor sie begonnen hatte. Ihre Pferde brachten sie damals zum Schutz vor dem Schneesturm im verfallenen Palas unter, und Beorgol, der Thorwaler, fand eine verborgene Treppe zu den Kellergewölben. Auf der Flucht vor der schneidenden Kälte stiegen sie hinab und richteten dort unten ihren Lagerplatz ein. Als ihnen nach einer Weile wärmer wurde, untersuchten sie die Gewölbe, fanden leerstehende Vorratskammern, das Verlies, eine geplünderte Schatzkammer und schließlich die Gruft. In steinernen Sarkophagen und Nischen in den Wänden lagen die Herren dieser Burg bestattet.
Zerwas erinnerte sich noch genau, daß sie sich damals beobachtet fühlten und daß die Auelfe Ilanesse vorschlug, den Plunder doch liegen zu lassen und wieder zum Feuer zu gehen. Doch keiner hörte auf sie. Der Zwerg war der erste, der eine Grabplatte hochstemmte, um nach den Schätzen der Toten zu suchen. Zerwas selbst hatte sich an dem Leichnam in einer rostigen Rüstung zu schaffen gemacht, der unmittelbar hinter der Eingangstür in der Gruft gelegen hatte. Es war eine Frau, von Pfeilen durchbohrt. Im Sterben war sie auf ihr mächtiges, schwarzes Schwert gestürzt. Oder hatte sie es unter ihrem toten Körper verstecken wollen?