Als er nach der Waffe griff, ließ ein kalter Windstoß alle Fackeln verlöschen, die sie mitgeführt hatten. Und dann kam das, was sie bis dahin nur beobachtet hatte, und die Nacht wurde zu einem Alptraum.
Als er wieder zu Sinnen kam, stand er allein im Schnee, das blutverschmierte, schwarze Schwert in seiner Hand. Von seinen Freunden hatte es keiner nach draußen geschafft. Als er sich ein Pferd holen wollte, fand er die Tiere bestialisch niedergemetzelt. Ohne sich nach seinen Kameraden umzuschauen, floh er.
Tage später erreichte er halb erfroren Greifenfurt. Ein alter Mann, der auf einem Schlitten Holz in die Stadt brachte, hatte ihn mehr tot als lebendig im Schnee gefunden und mitgenommen.
Als er wieder zu Kräften kam, war auch seine Barschaft erschöpft. Sein Wirt hatte bereits einen Teil seiner Ausrüstung beschlagnahmt, und es sah schlecht für ihn aus, bis er hörte, daß man in der Stadt einen Henker suchte. Es galt, eine Kindesmörderin hinzurichten, und Zerwas meldete sich.
Das Töten verschaffte ihm eine ungewöhnliche Befriedigung. Er benutzte seine neue Waffe als Richtschwert. Zunächst hatte es deshalb Widerstand durch den Magistrat gegeben, doch schließlich verebbten die Einwände, und er blieb länger als nur den Winter. Viel länger! Nur selten verließ er die Mauern der Stadt. Sein Durst nach Abenteuern war gestillt, und außerdem erlebte er an sich selbst ein Abenteuer, wie er es sich in seinen kühnsten Träumen nicht hätte vorstellen können. Er entwickelte Fähigkeiten, wie man sie Magiebegabten zuschrieb, und er fand Gefallen an Menschenblut.
Diese grausige Entdeckung machte er an einem Sommertag bei der Hinrichtung eines Raubmörders. Als er ihm den Kopf vom Rumpf trennte, spritzte ihm Blut ins Gesicht. Es lief ihm über die Lippen, und wollüstige Schauder ließen ihn erbeben. Zerwas fühlte sich kräftiger als je zuvor. Damals ahnte er nicht, welche Konsequenzen sich daraus ergeben sollten. Bis er sich zum Vampir entwickelt hatte, dauerte es noch Jahre. Und doch war er sich nie sicher, ob er sich so nennen sollte, denn er war ganz anders als ein gewöhnlicher Vampir. Das Licht des Praios zum Beispiel war ihm unangenehm, aber es brachte ihn nicht um. Allerdings entsprachen die Kreaturen, die aus ihren Gräbern auferstanden, wenn er seine Opfer nicht enthauptete, vollkommen dem allgemeinen Bild von Vampiren. Seine Veränderung mußte mit diesem Schwert in Verbindung stehen. Daß es ›Seulaslintan‹ hieß, wußte er aus einem Traum, so wie er auch manch anderes über die Waffe in bedrückenden Alpträumen erfahren hatte. Ein Traum, der immer wiederkehrte, machte ihn besonders froh, daß er nicht in die Kellergewölbe der Burg zurückgegangen war. So konnte er sich sagen, daß dieser Alp nicht mehr als ein Hirngespinst war. Ein bösartiges Trugbild. Jedenfalls erleichterte es ihn, sich keine Gewißheit über das Schicksal seiner Gefährten verschafft zu haben.
Zerwas versuchte, die trüben Gedanken zu verdrängen. Er hatte schon oft vergebens mit seinem Schicksal gehadert. Würde er sich jetzt nicht ablenken, käme als nächstes die Erinnerung an seine Hinrichtung vor dreihundert Jahren. Die grausame Marter durch die Praios-Geweihten und das Gesicht seiner großen Liebe würden ihn wieder tagelang verfolgen. Selbst zum Festmahl der Offiziere zu gehen wäre noch besser, als weiter hier zu sitzen und in melancholische Stimmung zu geraten. Einen Moment überlegte der Henker, ob er seine Rüstung holen sollte. Dann verwarf er den Gedanken. Für das Essen wäre sie nur unbequem. Draußen war es schon dunkel, als er sich auf den Weg machte. Er erwartete einen langweiligen Abend. Das Wesentliche hatte ihm Marcian bereits erzählt. Am unangenehmsten war ihm die Völlerei, zu der es mit gewisser Regelmäßigkeit bei diesen Offiziersversammlungen kam. Sicher waren die Speisen erlesen, die auf getragen wurden, doch aus dieser Art von Nahrung machte Zerwas sich nicht mehr viel. Allein der Wein vermochte noch seinen Gaumen zu erfreuen.
Es war wieder ruhig in der Stadt. Alle Flüchtlinge waren fort. Wieder fluchte der Vampir über Marcian. Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, den Feiglingen zu erlauben, die Stadt zu verlassen. Es mochte der Tag kommen, an dem sie jedes Schwert brauchen würden.
Zerwas passierte das Tor der Festung. Die Wachen grüßten ihn respektvoll, und er schritt über den Hof auf den hell erleuchteten Palast zu. Als der Vampir den großen Saal betrat, erstattete Oberst von Blautann soeben Bericht. » ... Auf größere Gruppen von Orks sind wir nicht gestoßen. Ich glaube, daß außer den Reitern, die wir gestern gesehen haben, noch keine Truppen in der Nähe der Stadt sind. Des öfteren konnten wir beobachten, wie die feigen Flüchtlinge von Orks angehalten wurden. Nach kurzem Gespräch ließ man sie aber immer passieren. Die Orks haben nicht einmal versucht, sie zu bestehlen. Wir haben uns dabei immer im Hintergrund gehalten und ganz nach Befehl jede Konfrontation mit den Orks vermieden.« Der Tonfall des Obristen war merklich kühler geworden. Er blickte zu Marcian hinüber, bevor er mit seinem Bericht fortfuhr. »Einmal haben wir eine der Flüchtlingsgruppen angehalten, um in Erfahrung zu bringen, was die Orks wollten. Ihr werdet es kaum glauben.« Von Blautann machte eine kleine Pause und blickte feixend in die Runde, als Marcian das Wort an sich riß: »Sie haben nach unseren Namen gefragt, richtig?« Dem jungen Obristen klappte der Unterkiefer herunter. Er brauchte einen Augenblick, um seine Fassung wiederzufinden.
»Wie könnt ihr das wissen? Ich meine, das ist doch absolut ungewöhnlich. Mit so etwas kann man bei Orks doch nicht rechnen. Das sind doch nur primitive Krieger.«
Marcian richtete sich auf und klärte die Versammlung der Offiziere über die schwarzen Pfeile auf. Als er mit seinem Bericht zu Ende war, herrschte ein allgemeines Durcheinander. Alle redeten drauflos, und viele blickten zwischendurch immer wieder verstohlen zu den Fenstern und zur Tür, ganz so, als erwarteten sie, daß jeden Moment ein Pfeil hereingeflogen käme, um ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Marcian ließ sich Zeit, um die verschiedenen Reaktionen seiner Befehlshaber zu beobachten. An ihrem Verhalten ließ sich abschätzen, wer später im Kampf die Nerven verlieren würde und wem er auch dann noch vertrauen konnte, wenn die Lage verzweifelt war. Schließlich hieb er mit der Faust auf den Tisch. Schlagartig wurde es still im Saal.
»Es besteht kein Anlaß zur Panik. Solange die Orks nicht etwas aus eurem persönlichen Besitz in Händen haben, nutzen ihnen die Pfeile wenig.«
Lancorian mischte sich ein. »Fühlt euch aber nicht zu sicher! Es gibt Zauber, mit denen sich ein Magier zum Beispiel in eine harmlose Taube verwandeln kann, um in eurem Quartier einen Stoffetzen oder auch nur ein einzelnes Haar zu suchen. Haltet Türen und Fenster fest verschlossen, wenn ihr nicht in euren Räumen seid. Ich weiß nicht, mit welcher Art Magie bei Orks zu rechnen ist. Vielleicht können ihre Schamanen auch Dinge, von denen ich noch nie gehört habe. Also, seid wachsam! Berichtet mir sofort von der kleinsten Unregelmäßigkeit. Und laßt nirgendwo etwas liegen! Das gilt vor allem für die, die auf Ausritten die Stadt verlassen. Schon ein paar Fäden, die ein Dornbusch aus einem Umhang reißt, können zu eurem Verderben werden. Und redet euch untereinander nicht mit Namen an, wenn ihr nicht ganz sicher seid, daß kein Ork euch belauschen kann. Schließlich kennen die Schwarzpelze und ihre Schamanen nur die wenigsten von uns. Macht es ihnen also nicht leichter!«
»Und was ist, wenn es Verräter in unseren Mauern gibt?« Zerwas hatte die Frage gestellt und blickte herausfordernd in die Runde. »Kann ich jedem an diesem Tisch trauen?«
»Wenn wir einander nicht mehr vertrauen, ist unsere Sache schon jetzt verloren!« ergriff Marcian das Wort, bevor die Männer und Frauen Zeit hatten, über die Tragweite der Frage nachzudenken. Er schaute finster zu Zerwas hinüber. Diesen Gedanken auszusprechen grenzte schon fast an Hochverrat. »Viele von euch sind Offiziere der kaiserlichen Armee und Ehrenmänner, und alle, die an diesem Tisch sitzen, haben mir die Treue geschworen. Ich glaube nicht, daß es in dieser Runde einen Verräter gibt. Und doch ist es anzuraten, vorsichtig zu sein. Es wäre leichtfertig, jedem Bürger der Stadt zu trauen. Daß wir vorsichtig sein müssen, steht völlig außer Frage.«