Der Schmied atmete tief ein. Erneut blickte er sich unsicher um. Er hatte den Eindruck, daß die Reiter ihn mehr neugierig als mitfühlend beobachteten. Wieder stammelte der Junge etwas.
»Wenn du es nicht kannst, nehme ich dir die Arbeit ab!« Blautanns Stimme war tonlos.
Dann richtete sich Darrag auf. »Laß das!« fuhr er den Obristen an. »Das ist einer meiner Leute!« Langsam führte er sein Schwert. Bartka hatte die Augen geschlossen. Der Schmied führte die Klinge zur Brust des Knaben. Seine Hand zitterte leicht. Noch immer war er sich nicht sicher, ob er es tun könnte. Wieder schüttelte ein Krampf den zerschundenen Körper des Knaben. »Bitte!« röchelte er.
Darrag stieß zu. Bartka bäumte sich noch einmal auf, dann sank er zurück. Im Tod wirkten seine Züge entspannter. »Bringt ihn auf einen Wagen!« herrschte der Schmied die Reiter an.
Von Blautann legte ihm die Hand auf die Schulter. »Du hast das Richtige getan.«
»Laß mich in Ruhe!« zischte er. Darrag kniete nieder und säuberte seine blutige Klinge im hohen Gras. Dann schritt er den Hügel hinab und schloß sich wieder der Wagenkolonne an.
Als Darrag am Abend in seine Schmiede zurückkam, war er völlig in sich gekehrt. Er hatte Bartkas Vater besucht und ihm vom Tod seines Sohnes berichtet. Er hatte ihm nicht die ganze Wahrheit gesagt, sondern verschwiegen, was die Orks dem Jungen antaten. Der alte Mann war gebrochen. Er hatte Bartka vergöttert, war er doch das einzige, was ihm nach dem Tod seiner Frau noch geblieben war. Der alte Mann wollte den Jungen noch einmal sehen, doch der Schmied hatte dafür gesorgt, daß Bartka als erster in dieser Nacht beerdigt worden war. Schweigend überließ er dem Alten die Waffen des Toten. Der Mann wollte noch mit ihm reden, aber Darrag konnte nicht. Er hatte schon mit Dutzenden Vätern und Müttern reden müssen, die nach den Verwundeten und Toten fragten. Er fühlte sich leer. Als er nach Hause kam, wünschte er sich sogar, weit weg von Misira und den Kindern zu sein. Er wollte seine Ruhe. Wollte allein sein, mit niemandem mehr reden müssen.
7
Den ganzen Morgen musterte Marcian bereits den Aufmarsch der Orks. Es mußten mindestens tausend Krieger sein, die mit der Einkreisung der Stadt begonnen hatten. Durch das neumodische Fernrohr, das auf dem Bergfried aufgestellt war, konnte er die Aktivitäten der Belagerer verfolgen. Es war noch gar nicht so lange her, daß die Praios-Priester diese praktische Erfindung mit dem Bann belegt hatte. Noch vor dreißig Jahren war der Bote des Lichts, der Hohepriester des Kultes, der Auffassung, daß es gotteslästerlich sei, weiter zu sehen, als es einem von Geburt aus bestimmt war.
Marcian lächelte. Er war froh, dieses große Messingrohr zu haben. Die Schwarzpelze gingen sehr systematisch vor. Eigentlich hatte er einen wilden Sturmangriff auf die Mauern erwartet. Doch die Orks hielten sich außer Reichweite der Bogenschützen, hatten zwei kleine Lager vor den beiden Toren der Stadt aufgeschlagen, um Ausfälle schnell abwehren zu können. Ein größerer Trupp bezog nahe der Bastion am Fluß sein Quartier, und die Hauptmacht lagerte vor der östlichen Mauer. Mit sicherem Gespür hatte Sharraz Garthai in ihr den schwächsten Punkt in den Verteidigungsanlagen Greifenfurts erkannt.
Der Inquisitor wandte sich zu seinen Offizieren um. »Nun, was haltet ihr davon?«
Von Blautann war der erste, der auf die überraschende Frage antwortete: »Ich denke, wir sollten einen Ausfall machen und ihren Aufmarsch stören. Meine Reiter brennen darauf, es den Schwarzpelzen für den Überfall auf den Wagenzug heimzuzahlen.«
»Danke, Alrik, genau diese Antwort habe ich von dir erwartet. Nur fürchte ich, daß wir uns dabei lediglich eine blutige Nase holen. Wir sollten beobachten, wie es weitergeht, und dann vielleicht einen zielgerichteten Angriff unternehmen. Allein deshalb die Stadt zu verlassen, um mit den Orks die Klinge zu kreuzen, halte ich für völlig falsch. Wir sind leider in einer Position, in der wir uns keine unnötigen Verluste leisten können.«
»Sehr diplomatisch gesprochen«, warf Lysandra ein. »Von jetzt an sind wir hier gefangen. Wir haben nicht genügend Krieger, um uns mit den Orks auf eine offene Feldschlacht einzulassen. Mit anderen Worten, wir sitzen hier wie die Mäuse in der Falle und können nur abwarten, was die Orks tun.«
Keiner sagte mehr etwas. Die Amazone hatte die Sache auf den Punkt gebracht.
Marcian ging unruhig in seinem Turmgemach auf und ab. Bis weit nach Mitternacht hatten die Offiziere im Palas beratschlagt, was zu tun sei, und wieder einmal keine Lösung gefunden. Zehn Tage standen die Orks nun schon vor den Toren der Stadt, und noch immer hatten sie keinen Angriff unternommen. Lysandra und von Blautann behaupteten, durch das Fernrohr einen Zwerg im Lager der Schwarzpelze gesehen zu haben. Marcian wollte das nicht glauben. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, was einen Krieger aus dem kleinen Volk dazu treiben sollte, mit den Orks zusammenzuarbeiten. Auf der anderen Seite erklärte es das überaus geschickte Taktieren der Belagerer. Sie hatten sich einen Experten gekauft!
Vor den Stadttoren waren Schanzen errichtet worden, auf denen leichte Geschütze standen. Den Mauern der Stadt konnten diese Speerschleudern nicht gefährlich werden, doch sollten sie einen Ausfall unternehmen, würden die Geschütze mit Sicherheit einen hohen Blutzoll unter den Greifenfurtern fordern. Auch die beiden anderen Lager der Orks waren durch Erdanlagen geschützt. Sie hatten mindestens hundert menschliche Sklaven, die sie unerbittlich im Regen arbeiten ließen. Unterdessen blieb den Belagerten nichts anderes übrig, als zuzuschauen, wie die Orks ihre Positionen ausbauten und sicherten. Um die Stellungen der Gegner mit einem Trommelfeuer zu belegen, hatten sie weder genug Geschütze noch ausreichend Munition. Sie mußten haushalten! Schließlich konnte keiner sagen, wie lange die Belagerung dauern würde. Die Hoffnung auf einen schnellen Entsatz der Stadt hatten mittlerweile alle fahrenlassen.
Ihnen blieb nichts anderes übrig, als in dieser Lage ihre Verteidigungsposition auszubauen und auf den Angriff der Orks zu warten. Erst gestern hatte Marcian mit Darrag noch einmal die Sperren im Fluß kontrolliert, die verhindern sollten, daß Boote in die Stadt eindringen konnten. Auch hatte er veranlaßt, daß die alte Stadtmauer, die an mehreren Stellen von Straßen und Häusern durchbrochen war, wieder in Stand gesetzt wurde. Es hatte böses Blut wegen dieser Angelegenheit gegeben. Einige Wohnhäuser mußten zwangsgeräumt werden. Zerwas und Lancorian weigerten sich, ihre Türme zu verlassen. Bislang hatte er ihnen nachgegeben, doch es würde der Tag kommen, an dem sie weichen mußten. Sollten die Orks die Ostmauer überrennen, brauchten sie eine zweite Verteidigungslinie in der Stadt.
Marcian wußte ohnehin nur zu gut, wie unbeliebt er in Greifenfurt war. Vor zwei Tagen hatte er das Kommando über seine Einheiten an den Patrizier Gernot Brohm abgegeben. Die Brohms gehörten zu den ältesten Geschlechtern der Stadt. Der junge Mann genoß einen hervorragenden Leumund und hatte sich bereits als Unterführer bewährt. Dem Inquisitor hingegen verübelte man, daß er noch am selben Tag, an dem die Stadt eingekreist worden war, alle privaten Lebensmittel beschlagnahmen ließ. Dies war jedoch der einzige Weg, innere Unruhen zu verhindern. Sollten die Reichen ihn dafür nur hassen! Damit konnte er leben.
Schwieriger war es, mit der Wut Cindiras fertig zu werden. Sie lag hinter ihm im Bett. Marcian war sich nicht sicher, ob sie schlief. Erst eben hatten sie sich gestritten. Er wußte von seinen Agenten, daß sie sich in letzter Zeit immer häufiger mit Zerwas traf. Ausgerechnet! Obwohl er ihn nun schon mehr als zwei Wochen beobachten ließ, lieferten seine Spione kein wirklich stichhaltiges Material.
Wieder blickte er sich zu Cindira um. Gleichmäßig hob und senkte sich ihre Brust. Sie schien wirklich zu schlafen. Vielleicht sollte er noch einmal zu den Magiern gehen. Sie hatten in den letzten Tagen im Stadtarchiv nach Hinweisen gesucht, aus denen sich ergründen ließ, warum der Praios-Tempel eingerissen worden war. Marcian dachte oft darüber nach, was die Orks zu dieser unverständlichen Tat bewegen haben mochte. Doch er konnte sich keinen Reim darauf machen.