Die Magier schliefen offensichtlich schon. Marcian klopfte schon zum wiederholten Mal gegen die schwere Holztür, als sie endlich geöffnet wurde. Der kleine muskelbepackte Yonsus stand in der Tür und schaute ihn verschlafen an.
»Darf ich hineinkommen?« Die Frage des Inquisitors war kaum mehr als eine Höflichkeitsfloskel. Ohne auf die Antwort zu warten, schritt er in die Kammer. Die beiden anderen Männer lagen noch in ihren Betten. »Ich wollte wissen, wie weit ihr mit euren Nachforschungen im Archiv gediehen seid!« Die Männer sahen sich schlaftrunken an, brummten unverständlich vor sich hin und standen aus ihren Betten auf, während Yonsus schon wieder unter seine Decke kroch.
»Laß ihn schlafen, Marcian, der hat sowieso nichts anderes als seine Geschütze im Kopf. In den letzten Tagen haben wir ihn kaum noch gesehen.«
Der Inquisitor stellte seine Laterne auf den Tisch, und die beiden Männer setzten sich zu ihm.
»Gut, daß du hier bist«, eröffnete der bärtige Odalbert das Gespräch. »Spätestens morgen wären wir zu dir gekommen. Wir brauchen eine Sondergenehmigung. Das Recht, ein Haus zu durchsuchen, und vielleicht auch ein paar Soldaten. Ich fürchte, es wird Ärger geben.« »Hat Zerwas Dreck am Stecken?« Marcian gab sich erst gar keine Mühe, seine Freude zu unterdrücken.
»Ich sprach von einem Haus, nicht von einem Turm«, entgegnete Odalbert trocken.
»Wir sind bei unseren Recherchen einer ganz anderen Sache auf die Spur gekommen«, mischte sich der schlacksige Riedmar ein. Er hatte sich seine Decke um die Schultern geschlungen und rutschte unruhig auf dem Schemel. »Zunächst waren wir sehr verwundert über die Unordnung, die im Archiv des Magistrats herrscht. Überall liegen Aktenstapel auf dem Boden des Kellers. Einige Regalbretter sind eingestürzt, und man muß schon wirklich lange suchen, um ein bestimmtes Dokument zu finden. Eigentlich ist es sogar fast unmöglich. Kennt man sich dort nicht aus, kann man höchstens Zufallsentdeckungen machen.« »Und genau das ist auch die Absicht, die dahinter steckt«, ergriff nun wieder Odalbert das Wort. »Der Stadtschreiber Irgan Zaberwitz hat etliche Dokumente verkauft. Wir haben fast eine Woche gebraucht, um das festzustellen. Was alles fehlt, läßt sich auf die schnelle nicht einmal annähernd schätzen. Wir haben bislang nicht einmal den zehnten Teil der Dokumente durchgesehen. Es reichte allerdings, um zu bemerken, daß immer wieder Seiten in Büchern fehlen, Urkunden, deren Existenz in anderen Dokumenten erwähnt ist, unauffindbar sind und so weiter.« »Und wer hat den Kram, der fehlt?« Marcian wurde ungeduldig.
»Ich bin nicht sicher, ob Irgan uns alle seine Kunden genannt hat, doch das meiste scheint er an das Patrizierhaus Brohm verkauft zu haben. Nach dem, was er uns erzählte, muß es dort eine umfassende Bibliothek über die Geschichte der Stadt geben«, fuhr Odalbert fort. »Wie habt ihr den Schreiber zum Reden gebracht?«Die Magier grinsten sich an. »Das war kein Problem. Wir haben ihn ein wenig eingeschüchtert.«
Marcian fragte nicht weiter. Für einen Moment herrschte Schweigen. »Über die Orks und den Grund für ihre merkwürdigen Ausgrabungen auf dem Platz der Tempel haben wir nichts gefunden. Ich denke, es sieht auch schlecht aus, was das angeht. Vor zweihundert Jahren ist das Rathaus bis auf die Grundmauern abgebrannt. Dokumente aus der Zeit vorher sind so gut wie nicht erhalten geblieben. Es gibt nur ein paar Niederschriften aus dem Gedächtnis des damaligen Archivars. Doch dieses Material ist auch wieder sehr lückenhaft. Eine interessante Spur haben wir aber, was Zerwas angeht.« Odalbert schwieg einen Augenblick, um die Spannung des Inquisitors zu genießen. »Der Turm, in dem Zerwas wohnt, ist der Turm der Henker. Er selbst war ja angeblich auch Henker. Dies mag noch Zufall sein, aber jetzt höre dir mal diese Namen an: WARSEW - WRESAN - ZARWEN. So hießen drei Henker, die dort vor Jahrhunderten lebten. Klingt alles recht ähnlich, nicht? Es kommt aber noch besser.« Wieder legte Odalbert eine seiner rhetorischen Pausen ein.
»Wir haben die Beschreibung des Henkerschwertes, mit der die drei ihren Beruf ausübten. Es ist genau die Waffe, die Zerwas heute besitzt.« »Ja, und ... ?« Marcian war die Spielchen des Magiers leid.
»Das war alles. Erscheint dir das nicht verdächtig?« mischte sich Riedmar ein.
»Das reicht nicht. Nur weil es ein paar Henker gab, die ähnliche Namen hatten, kann ich Zerwas noch nichts ans Zeug flicken. Ich brauche mehr.«
»Dann sorge dafür, daß wir uns das Privatarchiv der Brohms ansehen können. Vielleicht finden wir dort ja mehr.« Odalbert klang beleidigt. »Außerdem beobachten die beiden Elfen Tag und Nacht den Henker und dienen auch in seiner Bürgergarde. Ich bin sicher, daß wir bald mehr über ihn wissen werden. Dann werden wir den Stadtschreiber noch mal in die Mangel nehmen. Vielleicht hat er ja auch an andere verkauft.«
»Tut das!« Der Inquisitor erhob sich. »Ich komme euch morgen abend noch einmal besuchen.« Marcian nahm seine Blendlaterne und ging. Als er das Turmzimmer erreichte, war Cindira nicht mehr dort.
Am nächsten Morgen besichtigte der Inquisitor mit den anderen Offizieren den kleinen Hafen der Stadt. Der Wasserpegel war durch den ständigen Regen der letzten Tage bedenklich gestiegen. Obwohl die Anlagen nur wenig genutzt wurden, war der Hafen in einem guten Zustand. Nur während des Hochwassers im Herbst und Frühjahr konnten Flußkähne bis Greifenfurt die Breite heraufkommen. Mit Notsegeln und gezogen von Ochsen auf einem Treidelpfad erreichten sie die Grenzstadt. Durch den starken Regen war der Fluß nun mitten im Sommer schiffbar geworden, und Marcian machte sich Sorgen, daß die Orks vielleicht versuchen würden, auf diesem Weg in die Stadt einzudringen. Sollte es noch einen oder zwei Tage so weiterregnen, würden die scharfen Metallspitzen der eisernen Barrieren, die die Hafeneinfahrt und den Burggraben sicherten, unter den Fluten verschwinden.
»Kann man irgendwas dagegen unternehmen?« wandte sich Marcian an Darrag. Die Männer standen im strömenden Regen auf dem vordersten Kai.
»Das wird schwierig.« Der Schmied strich sich durch den Bart, der vor Wasser glänzte. »Ich fürchte, man müßte die ganze Konstruktion ausbauen, denn im Wasser kann ich nicht arbeiten. Damit wäre der Hafen aber dann völlig schutzlos.«
»Das Ganze ist doch wie ein Fallgitter gebaut, das im Hafenbecken liegt und durch eine Kette schräg aufgerichtet werden kann, so daß die eisernen Spitzen gegen die Rümpfe der Booten weisen, die hier anlegen wollen, nicht wahr?«
»Richtig«, entgegnete der Schmied. »Und?«
»Vielleicht sollte man eine zweite solche Anlage bauen, wenn wir es uns nicht leisten können, die Barriere auszubauen.«
Darrag fing an zu lachen. »Weißt du, wieviel Eisen ich brauche, um so ein Gitter zu schmieden. Vergiß es! Was wir noch an Metall in der Stadt haben, brauchen wir dringender, um Waffen für die Bürgerwehr zu schaffen.«
»Was nutzen uns die Waffen, wenn wir hier vom Hafen her überrannt werden?«
Laute Rufe zwischen den Lagerschuppen unterbrachen den Disput. Zwei Gestalten in grauen Umhängen, begleitet von einigen Wachen, kamen durch den Regen gelaufen. Odalbert und Riedmar!
»Der Stadtschreiber ist tot, er hat sich erhängt!« rief der schlacksige Riedmar schon von weitem. Marcian fluchte. Dann drehte er sich zu den Offizieren um. »Ich fürchte, ich muß dieser Sache nachgehen, bevor es Unruhe im Magistrat gibt. Findet eine Lösung für das Problem hier! Wir sehen uns heute abend.«
»Willst du nicht, daß wir mitkommen?« fragte Oberst von Blautann. »Ich halte es für falsch. Wenn wir alle dort auftauchen, geben wir der Angelegenheit damit ein Gewicht, das sie vermutlich gar nicht verdient hat. Ich möchte nicht, daß es zu unnötigem Gerede kommt.«
Inzwischen hatten die beiden Magier mit den Stadtgardisten die Offiziere erreicht.
»Ich werde mir vor Ort ansehen, was geschehen ist«, empfing sie Marcian und hob den rechten Arm. Ein Gruß, aber auch eine Geste, die man als Aufforderung zum Schweigen deuten konnte. Ohne ein weiteres Wort an die Offiziere verschwand er mit den Männern im Regen.