Der Dauerregen verwandelte die Gassen der Stadt in Schlamm. Marcian und die beiden Magier hatten sich Stiefel, Hosen und Umhänge besudelt und tropften vor Nässe, als sie das Rathaus erreichten. Unterwegs erzählten sie Marcian, daß mit einigem Ärger zu rechnen sei. Auf dem Dachboden hatte man einen Abschiedsbrief des Schreibers gefunden. Darin war die Rede von Inquisitoren, die ihn angeblich in den Tod getrieben hatten.
Hastig erklomm Marcian die enge Stiege, die zum Dachstuhl führte. Dort hatten sich mehrere Ratsherren versammelt und starrten zum Schreiber hinauf, der an einem Hanfseil von einem der mächtigen Querbalken des Dachstuhls hing.
»Wer hat ihn gefunden?« Marcian mußte fast schreien, um das Geräusch der schweren Regenschauer auf den Holzschindeln des Daches zu übertönen. Erschrocken drehten sich die Männer und Frauen um. Sie hatten ihn offensichtlich nicht kommen hören.
Zaghaft meldete sich ein sommersprossiges Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren. »Ich.« »Was hattest du hier oben zu suchen?« »Ich sollte hier einen Eimer aufstellen, weil es durch das Dach regnete und in eine Amtsstube tropfte.«
Marcian musterte den Toten. Irgendwo mußte ein Fenster offen sein. Die Leiche drehte sich leicht im Luftzug, während das Seil ein unangenehmes Knarren von sich gab. Irgan hing die Zunge aus dem Hals. Die Züge des Toten waren schrecklich verzerrt. Unter ihm lag ein umgestoßener Stuhl am Boden, daneben ein Aktendeckel. An den Stuhl lehnte der Krückstock des alten Mannes.
»Hat hier jemand etwas verändert?« fragte Marcian mit schneidender Stimme.
Schweigen. Schließlich meldete sich Glombo Brohm zu Wort. Ein feister Mann mit dicken Speckrollen unter dem Kinn. Schweiß perlte ihm auf der Stirn. »Ich habe das hier aufgehoben.« Er schwenkte ein Blatt Papier. »Sonst hat hier, glaube ich, keiner was angefaßt. Was soll die Frage?«
Marcian blieb dem Mann die Antwort schuldig. Mit ausgestreckter Hand forderte er das Papier. In fahriger Schrift, ganz anders als die wunderschön gemalten Buchstaben, für die der Schreiber in der Stadt bekannt war, hatte er seinen Abschied verfaßt.
Seit Wochen werde ich verfolgt und bedrängt. Jetzt drohen mir die Inquisitoren mit der hochnotpeinlichen Befragung. Ich bin unschuldig, doch ich bin auch ein alter Mann. Bevor ich auf der Folter ein Verbrechen gestehe, das ich nicht begangen habe, scheide ich lieber freiwillig aus dem Leben. Mögen die Götter mir vergeben!
Marcian blickte finster zu den beiden Magiern hinüber, als der dicke Ratsherr nach dem Schreiben griff. »Was soll das mit der Inquisition? Was glaubt Ihr, was Irgan damit gemeint hat?« Die Frage hatte einen drohenden Ton.
»Was weiß ich über die Hirngespinste eines alten Stadtschreibers?« antwortete Marcian gelassen.
»Vielleicht sollten wir lieber die beiden dort fragen?« Glombo Brohm deutete auf Odalbert und Riedmar. »Sie haben Irgan in letzter Zeit arg zugesetzt. Und Ihr wart ja wohl derjenige, der sie hierher geschickt hat.« »Richtig, aber bin ich deshalb ein Inquisitor? Die zwei dort habe ich ausgesucht, weil sie lesen und schreiben können. Sie sollten im Archiv nach Unterlagen suchen, aus denen sich ergibt, warum die Orks den Platz der Sonne verwüstet haben. Irgan sollte ihnen helfen und hat sich dabei alles andere als kooperativ verhalten. Wie es in seinem Stadtarchiv aussieht, brauche ich euch ja wohl nicht zu erzählen. Die beiden haben sich mehrfach über ihn bei mir beschwert. Und das war alles.« »Aber ...« setzte der dicke Ratsherr an.
»Strapaziert nicht meine Geduld! Als Befehlshaber der Stadt leite ich die Untersuchung. Die beiden hier taten nur ihre Pflicht. Sie haben Irgan in meinem Auftrag ausgerichtet, daß seine schludrige Verwaltung zum Himmel stinkt und daß er mit einer Strafe zu rechnen hätte. Wenn sich der alte Mann darüber in irgendwelche Wahnvorstellungen gesteigert hat, tut es mir aufrichtig leid. Diesen Schrieb hier betrachte ich als blanken Unsinn.«
»Ihr habt wohl recht«, lenkte Glombo ein.
»Holt den Toten da runter«, wandte sich Marcian an die Wachen, die noch auf der Treppe standen. »Und ihr beiden folgt mir zur Garnison. Ich habe mit euch zu reden.« Unsicher schauten sich Odalbert und Riedmar an.
Als man Irgan vom Seil geschnitten hatte, nahm Marcian dessen Schlüssel zum Archiv an sich. Dann hob er den Aktendeckel vom Boden auf und stieg die Treppe hinab.
Der Inquisitor durchmaß schon zum dritten Mal das Turmzimmer. Er war außer sich vor Wut. Auf dem Weg bis zur Garnison hatte er geschwiegen. Er wollte nicht, daß andere dieses Gespräch mitbekamen. Doch jetzt platzte es aus ihm heraus.
»Seid ihr eigentlich von allen guten Geistern verlassen! Ihr habt euch wohl als allmächtige Inquisitoren gegenüber dem alten Mann aufgespielt!«
»Gar nichts haben wir«, entgegnete Odalbert trotzig.
»Und was soll dieser Brief? Jemand weiß Bescheid. Die Frage ist nur, ob er seine Informationen von Irgan hat oder aus einer anderen Quelle. Mit diesem Abschiedsbrief wollte er uns auffliegen lassen.«
Die beiden Magier konnten Marcian nicht ganz folgen.
»Ich glaube nicht, daß dieser alte Schmierfink Selbstmord begangen hat.« Jetzt legte Marcian eine kleine Pause ein und genoß die Verblüffung auf den Gesichtern der zwei. »Seid ihr eigentlich blind? Habt ihr nicht den Krückstock am umgestürzten Stuhl lehnen sehen? Glaubt ihr, Irgan ist, nachdem er sich erhängt hat, noch einmal herabgestiegen, um den Stock ordentlich anzulehnen? Und was fällt euch an dieser Akte auf?« Der Inquisitor hielt den beiden die Kladde aus dickem Papier hin. Die Aufschrift aus Tinte war naß geworden und bis zur Unkenntlichkeit zerlaufen.
Riedmar musterte den Aktendeckel und zog dann die Schultern hoch. »Haltet die Pappe mal schräg gegen das Licht.«
Der Magier folgte den Anweisungen Marcians, konnte aber nichts Auffälliges entdecken.
»Siehst du den Siegelabdruck unten in der Ecke nicht? Das ist ein Siegel der Inquisition. Der Greif ist fast nicht mehr zu erkennen. Jemand hat dort seinen Ring in der Pappe abgedrückt. Das heißt, daß in dieser Akte irgendein Schriftstück der Inquisition aufbewahrt wurde. Wer immer Irgan ermordete, hat es mitgenommen. Wahrscheinlich ist der Täter über das Dach gekommen. Schließlich war eine Stelle am Dach eingedrückt, so daß es dort morgens durchregnete und das Mädchen geschickt wurde, um den Eimer aufzustellen. Außerdem war auch eines der Dachfenster nur angelehnt, so daß es ganz schön gezogen hat da oben. Ich denke, der Schreiber wollte jemanden erpressen.«
»Aber wen?« fragte Odalbert.
»Das herauszufinden ist eure Aufgabe. Ihr nehmt euch jetzt einige Wachen und stattet dem Patrizier Brohm einen Besuch ab. Von ihm wissen wir, daß er von Irgan Akten gekauft hat. Schaut euch seine Sammlung an und sucht dort und im Stadtarchiv nach Hinweisen auf einen Inquisitions-Prozeß. Wenn wir darüber mehr wissen, werden wir vielleicht den Mörder finden.«
Diese Sartassa Steppenwind machte ihm schon wieder schöne Augen. Zerwas lächelte ihr zu. Sie war durchaus talentiert. Er hatte die hübsche Halbelfe in den Rang eines Korporals erhoben und zur Anführerin eines Trupps seiner Bürgermiliz gemacht. Zu schade, daß dies alles nur ein Spiel war. Der Vampir war gewohnt, daß Frauen seinem besonderen Charme sehr schnell verfielen. Doch bei Sartassa war es zu schnell gegangen. Sie kam aus der Garnison, und er war sich von Anfang an sicher, daß Marcian sie zusammen mit der Auelfe geschickt hatte, um ihm nachzuspionieren. Genauso wie die beiden Gelehrten, die im Stadtarchiv herumschnüffelten, um etwas über ihn herauszufinden. Gestern nacht hatte er sich von Sartassa verführen lassen. Es war schön. Er glaubte schon, es wäre ernst, doch als er ihre Sachen durchsuchte, fand er den Beweis, daß sie nichts als seinen Tod im Sinn haben konnte.