»Eines meiner Geheimnisse kennst du nun«, erklang hinter ihr die Stimme von Zerwas. »Und gleich wirst du noch eines erfahren.«
Sartassa drehte sich um. Hinter ihr stand breitbeinig der Henker, sein großes, schwarzes Schwert zum Schlag erhoben.
8
Marcian stand auf der Stadtmauer und beobachtete aufmerksam die Aktivitäten im Lager der Orks. Es schien große Aufregung unter den Schwarzpelzen zu herrschen. Schon früh am Morgen waren Reiter aus dem Süden den Strom entlang gekommen. Darauf wurde das Lager bei der Bastion am Fluß in Alarmbereitschaft gesetzt. Dann formierte sich eine große Reiterschar im Hauptquartier an der Ostmauer und galoppierte wieder den Fluß hinab. Geschütze wurden verlegt und in das Lager vor der Bastion geschafft.
Marcian hatte darauf alle Truppen in Greifenfurt in Alarmbereitschaft versetzen lassen. Der Hafen war von Bürgerwehren besetzt, und auf den Stadtmauern entlang des Flusses standen Lysandras Bogenschützen. Es sah ganz so aus, als würden die Orks die Bastion am Fluß stürmen wollen oder gar einen Schlag gegen den Hafen planen. Was dieser plötzliche Sinneswandel sollte, nachdem massive Vorbereitungen für einen Angriff auf die Ostmauer stattgefunden hatten, war Marcian unbegreiflich. Auch er hatte Geschütze auf leichte Karren laden und in den Hafen bringen lassen. Nun lagen sich die Heere gegenüber und belauerten einander, ohne daß eine Seite das Gefecht begann.
Es wurde immer heißer. Hoch am Himmel drehten einige Mauerschwalben ihre Kreise. Das Warten zerrte an den Nerven. Die Orks schoben Bogenschützen, die hinter Wänden aus geflochtenem Ried Schutz fanden, bis an den Fluß vor. Doch sie eröffneten nicht das Feuer. Von der Bastion auf der anderen Flußseite stiegen dünne Rauchsäulen auf. Die Soldaten, die ohne Aussicht auf Verstärkung aus Greifenfurt den Hauptangriff zu tragen hätten, erhitzten Wasser in riesigen Kesseln, um so den ersten Angriff auf die Mauern abzuweisen.
Plötzlich entstand Unruhe unter den Kämpfern. Marcian blickte die Mauer entlang. Auf dem südlichsten Turm waren Lysandras Löwinnen postiert, die besten Kämpferinnen ihrer Bürgerwehr, und wiesen nach Süden den Fluß entlang. Dort waren knapp über dem Wasser einige bunte Schemen zu erkennen. Schiffe! Marcian schickte einen Burschen nach seinem Fernrohr. Mit bloßem Auge war noch so gut wie nichts zu erkennen. Er prüfte den Wind. Er blies aus dem Süden, doch war es nicht mehr als eine schwache Brise. Es würde lange dauern, bis sich die schwerfälligen Boote gegen den Wind die Breite herauf gekämpft hätten. Deshalb also der Aufmarsch der Orks. Sie wollten verhindern, daß die Boote die Stadt erreichten. Sie würden sie unter Geschützfeuer nehmen und womöglich noch unter den Mauern kurz vor der Hafeneinfahrt versenken.
Marcian sandte Boten aus, um seine Offiziere zu versammeln. Als sich der letzte auf den Weg gemacht hatte, kam der Bursche mit dem Fernrohr zurück. Vorsichtig lehnte der Inquisitor das schwere Messingrohr auf die Brüstung der Mauer und suchte am Horizont den Punkt, an dem sich die Schiffe gegen die Strömung vorwärts kämpften. Mit einigen Derhungen stellte er das Objektiv scharf.
Nun konnte er sehen, wie Reiter der Orks den Booten entlang dem Flußufer folgten und die Schiffe mit Pfeilen überschütteten. Die Bordwände waren zum Schutz der Männer mit Schilden behängt worden, ganz so, wie man es von den Langbooten der Thorwaler kannte. Dahinter mühten sich etliche Männer und Frauen an langen Rudern, die ganz so wie die zerbrechlichen Beine eines Wasserkäfers dicht über der Wasserlinie schwebten, um immer wieder mit kräftigen Stößen einzutauchen und die Boote einige Schritt weiter gegen die Strömung voranzutreiben. Die großen Segel flatterten unstet in der schwachen Brise. Bei diesem Tempo mochte es noch über eine Stunde dauern, bis sie die Stadt erreichten. Armbrustschützen, die hinter den Aufbauten der Schiffe in Deckung knieten, erwiderten das Feuer der Orks. Die Rümpfe lagen sehr tief im Wasser. Offensichtlich waren die Boote bis unter die Ladeschotten mit Vorräten vollgepackt.
Inzwischen hatten sich die Offiziere um Marcian versammelt. Stumm überließ er ihnen das Fernrohr, damit sie sich ein Bild von der Lage machen konnten. Lysandra war die erste, die etwas sagte. »Ich glaube nicht, daß sie die Stadt erreichen werden. Siehst du die Feuerkörbe, die die Orks hinter ihren Riedschildern vorbereiten? Sobald sie auf Höhe der Stadt sind, werden die Boote mit einem Hagel von Brandpfeilen überschüttet werden.«
»Denkst du, ein Ausfall wäre sinnvoll?« Marcian hatte sich der Amazone zugewandt.
»Wenn wir wollen, daß die Schiffe durchkommen, ist ein Ausfall der einzige Weg. Wir hätten dabei auch Gelegenheit, einen großen Teil der Geschütze der Orks zu vernichten. Sie haben im Verlauf des Morgens fast alles hier an die Flußseite schaffen lassen. Trotzdem ist es riskant!« Der Inquisitor blickte sich nach Oberst von Blautann um. Eigentlich hatte er schon längst mit einem Kommentar des draufgängerischen Reiteroffiziers gerechnet. Doch dieser musterte noch immer durch das Fernrohr die Stellungen der Orks auf der anderen Seite des Flusses. Zwischen den Lederzelten des Lagers konnte man einige große Gestalten erkennen. Streitoger! Riesige, annähernd menschenähnlich aussehende Bestien, die von den Orks in Rüstungen aus dickem Leder gesteckt worden waren. Sie galten als unberechenbare Kämpfer, die von Schamanen auf magische Weise kontrolliert werden mußten. Ihre Waffen, schwere mit eisernen Nägeln gespickte Keulen, konnten die Größe und das Gewicht eines Mannes erreichen. Im Nahkampf galten die Streitoger als so gut wie unbesiegbar.
Langsam ließ der junge Obrist das Fernrohr sinken. »Das wird schwer. Ich will nicht sagen, daß es unmöglich ist, aber ein Angriff auf die andere Flußseite ist mit etlichen Schwierigkeiten verbunden. Um mit meinen Reitern durch die Furt zu kommen, steht das Wasser noch zu hoch. Die schmale Holzbrücke weiter im Norden müssen wir erst von den Orks erobern. Wenn sie schlau waren, ist die Brücke allerdings schon längst so präpariert, daß man sie mit wenigen Axtschlägen zum Einsturz bringen kann. Sind wir einmal auf der anderen Seite, denke ich schon, daß ich den Schwarzpelzen mit meinen Reitern ordentlich zusetzen kann, zumal ihre eigene Kavallerie durch die Verfolgungsjagd am Fluß erschöpft sein wird.«
»Wie viele Männer brauchst du?«
»Zu diesem Kommando würde ich nur schwergepanzerte Kämpfer mitnehmen. Es kommt weniger auf die Zahl als auf die Schlagkraft der Truppe an. Ich denke, meine hundert Kürassiere würden reichen.« »Vielleicht sollten wir auch versuchen, über den Fluß hinweg mit Booten anzugreifen«, mischte sich Darrag ein. »Im Hafen liegen bestimmt zwanzig kleine Ruderboote und Flöße. Darauf könnte man mehr als hundert Männer einschiffen.«
»Aus dir spricht ja der blanke Wahnsinn! Willst du unsere Bürger auf die Schlachtbank führen?« Die Stimme des jungen Gernot Brohm überschlug sich vor Zorn. »Auf den Booten sind die Männer nichts weiter als Zielscheiben. Wenn du hundert losschickst, wird nicht einmal die Hälfte von ihnen lebend das andere Flußufer erreichen.«
»Vielleicht doch!« Der Schmied war noch immer von seinem Plan überzeugt und hatte sich drohend vor dem schmalbrüstigen Patriziersohn aufgebaut. »Ich denke, es kommt einfach darauf an, daß uns die Bogenschützen und Artilleristen von der Mauer aus Feuerschutz geben. Außerdem sollten wir erst dann losschlagen, wenn die Flußschiffe es bis vor die Stadtmauern geschafft haben. Die Schwarzpelze müssen sich dann zwischen Zielen entscheiden. Könnten wir auf diese Weise die Flußschiffe retten, wären sie das Opfer in jedem Fall wert gewesen.« »Ihr denkt immer nur an nackte Gewalt«, mischte sich der Zauberer Lancorian ein. »Mit Hilfe der Elfe, glaube ich, kann ich den Orks einen gewaltigen Strich durch die Rechnung machen. Bereitet die Ruderboote vor und vertraut uns beiden. Wir werden an den Orks Rache für das spurlose Verschwinden von Sartassa nehmen.«
Eine Stunde später hatten die fünf Flußschiffe beinahe die Stadtmauern erreicht. Nur wenige hundert Schritt trennten sie noch vom rettenden Hafen. Jeder auf der Wehrmauer konnte jetzt mit bloßem Auge den verzweifelten Kampf der Bootsmannschaften beobachten. Wie sich Männer und Frauen jeweils zu dritt gegen die langen Ruderstangen stemmten, um den Schiffen etwas mehr Fahrt zu geben. Wie die Armbrustschützen mit gezielten Schüssen die Reihen der Reiter lichteten. Jeder Treffer wurde von den Mauern mit einem Jubelschrei der Kämpfer belohnt.