Ein Windhauch strich über das Schlachtfeld. Zerwas spürte ein Prickeln auf der Haut. Die Schamanen der Orks hatten zum Gegenschlag ausgeholt. Sie riefen Windgeister herbei, um den Nebel aufzulösen. Vielleicht würden sie sogar versuchen, eines der Schiffe kentern zu lassen. Grimmig faßte er sein Schwert fester und warf sich in den Kampf. Dem ersten Gegner spaltete er mit wuchtigem Schlag den Schädel. Dann sprang er mitten in einen kleinen Trupp Feinde und ließ die schwarze Klinge kreisen. Als wäre es nur Stoff, schnitt das Schwert durch Metall und Leder, trennte Arme von Rümpfen und schlitzte Bäuche auf. Es dauerte nicht lange, und Zerwas wurde gemieden. Kein Ork wagte es mehr, sich dem rasenden Krieger in der schwarzen Rüstung zum Kampf zu stellen. Wurden rundherum die Streiter der Bürgerwehren langsam zurückgetrieben, so reichte das bloße Auftauchen des Vampirs, um die Schlachtreihen der Feinde in blinder Panik fliehen zu lassen.
Zerwas war außer sich vor Zorn. Er wollte kämpfen! Erst im allerletzten Augenblick bemerkte er den Bogenschützen, der auf ihn angelegt hatte. Der Pfeil schwirrte von der Sehne. Zu spät, schoß es dem Vampir durch den Kopf, als ›Seulaslintan‹ ohne sein Zutun eine ruckartige Bewegung in Richtung des Pfeils ausführte. Mit einem scharfen Kratzen schrammte die Spitze des Geschosses an der Klinge entlang. Der Reflex des Schwertes hatte ausgereicht, die Flugbahn des Pfeils so zu verändern, daß er an Zerwas' Haupt vorbei flog. Mit grimmigem Schrei stürzte sich der Vampir auf den Bogenschützen.
Mittlerweile war der Nebel zerstoben. Doch die kurze Zeitspanne hatte ausgereicht, daß die Schiffe Zuflucht im Hafen fanden. Der ganze Zorn der Orks richtete sich nun gegen die wenigen Schwertkämpfer, die tapfer das Ufer gestürmt hatten. Und ihre Schar schmolz wie Schnee in der Sonne, denn die Krieger in der Bastion verließen ihre Mauern nicht. Sie hatten wohl bereits erkannt, daß die Ausfalltruppe auf verlorenem Posten kämpfte. Schon bemannten die Orks wieder einige Geschütze und richteten sie nun gegen die Stadtmauer, um Rache an den Bogenschützen zu nehmen, die aus der vermeintlich sicheren Deckung der Zinnen blutige Ernte unter den Schwarzpelzen gehalten hatten.
Zerwas war es unterdessen gelungen, alle noch lebenden Schwertkämpfer um sich zu scharen. Sie bildeten einen großen Kreis, um zu versuchen, die rettenden Boote am Flußufer zu erreichen. In ihrer Mitte standen Lancorian und Nyrilla. Aus allen Richtungen prasselten Pfeile auf sie ein. Doch dann tönte ein lautes Kommando über das Schlachtfeld. Die Bogenschützen zogen sich zurück. Erleichtert atmete Zerwas auf, bis er sah, was der Grund für die Feuerpause gewesen war. An der Spitze einer Schar von Kriegern kamen drei Streitoger auf sie zugelaufen. Wahre Hünen mit Keulen, deren wuchtigen Treffern selbst die beste Rüstung nicht standhalten würde.
Der Vampir schluckte. Das war eine Sorte Gegner, die selbst ihm Schauer über den Rücken laufen ließ. Sollte ihm mit einer solchen Waffe der Schädel zertrümmert werden, wäre es vermutlich mit seiner Unsterblichkeit vorbei. Seine Hände waren naß von Schweiß, während sich rechts und links neben ihm die ersten Kämpfer schreiend zur Flucht wandten. Zerwas dachte nicht mehr viel. Er umklammerte sein Schwert fester und schrie: »Für Sartassa!« Dann lief er den Ungetümen entgegen, und es geschah das Unfaßbare. Sie hielten an. Sie starrten entsetzt zu ihm herüber, dann drehten sie sich um und flohen. Auch die Orks rannten weg. Einige warfen sogar Waffen und Schilde davon, um schneller laufen zu können.
Zerwas hielt inne. Was mochte nur geschehen sein? Er hatte Menschen gesehen, die sich vor ihm zu Tode fürchteten, wenn er in dämonischer Gestalt auftrat. Doch ein ganzes Heer davonlaufen zu sehen war eine neue Erfahrung für den Vampir. Er drehte sich um. Aus dem Fluß hinter ihm hatte sich ein Gigant erhoben. Eine riesige Männergestalt wohl an die sechs Schritt groß stand plötzlich am Ufer. Das mußte einer der gefürchteten Orkland-Riesen sein.
Instinktiv machte Zerwas einen Schritt zurück. Dann durchschaute er den Zauber. Das alles war nichts weiter als das Blendwerk des Illusionisten Lancorian. Der Vampir stieß vor sich das Schwert in den Boden und begann lauthals zu lachen. Auch die anderen Bürger stimmten in das Gelächter ein, obwohl es bei vielen mehr hysterisch als erlöst klang. Der Henker schritt zu Lancorian hinüber und klopfte ihm auf die Schulter. »Du hast ohne einen Schwertstreich den Tag für uns entschieden, ohne auch nur einem Geschöpf ein Leid zuzufügen. Für mich bist du der größte Held auf diesem Schlachtfeld.«
Dann wandte er sich an die erschöpften Bürger. Gernot Brohm und Darrag waren nirgends zu sehen. Also übernahm er das Kommando. Zerwas wußte, daß die Orks bald wiederkehren würden. Er teilte die Krieger in zwei Gruppen. Die einen suchten das Schlachtfeld nach Verwundeten und Toten ab, die anderen zertrümmerten mit ihm die Geschütze der Orks und legten Feuer. In der Ferne hörten sie Kampflärm. Oberst von Blautann mußte es geschafft haben, über die Brücke zu kommen, und lieferte nun vermutlich den Geflohenen ein Gefecht, bevor sie sich neu formieren konnten. Der Vampir entschloß sich, nicht auf den Ausgang dieses Kampfes zu warten. Er ließ die Verwundeten zu den Booten schaffen und befahl den Rückzug in den Hafen.
Während Greifenfurt seinen Sieg über die Orks feierte, saß Marcian in seinem Turmzimmer und brütete finster vor sich hin. Viele Siege dieser Art konnten sie sich nicht leisten. Vor ihm auf dem Tisch lagen die Verlustlisten. Es waren beinahe so viele Kämpfer tot oder verwundet, wie sie auf den Schiffen an Nachschub erhalten hatten. Zwei Banner des Angbarer Schanz- und Sappeurregiments waren an Bord gewesen. Kämpfer, die auf den Umgang mit Artillerie und das Errichten von Verteidigungsanlagen spezialisiert waren. Einige zerlegte Geschütze hatten sich in den Schiffsbäuchen befunden. Dazu genug Lebensmittelvorräte, um zwei Lagerhäuser zu füllen.
Marcian dankte den Zwölfgöttern für dieses Geschenk. Am dankbarsten war er allerdings für die fünf Magier, die in die Stadt gekommen waren. Ihr Anführer Eolan hatte ihm bereits seine Aufwartung gemacht. Ein arroganter Kerl unbestimmten Alters. Mit seinen Adepten kam er aus der ›Halle des vollendeten Kampfes zu Bethana‹. Angeblich hatte ihn seine Herrin, Gräfin Udora auf diese Mission geschickt. Seine Anwesenheit sollte als ein Zeichen des guten Willens verstanden werden, nachdem es in letzter Zeit zu erheblichen Spannungen zwischen dem Kaiserreich und dem Lieblichen Feld gekommen war. Glaubte man den Legenden, so war Bethana die älteste Stadt der Menschen auf Aventurien. Ein kleiner Hafen am Meer der sieben Winde. Die Magier, die dort ausgebildet wurden, betrachteten sich als die vollkommenen Kampfmagier des Kontinents.
Marcian wusste sehr wohl, wie begehrt Adepten dieser Akademie unter den Offizieren aller Armeen waren. Er erinnerte sich an die kleine Kostprobe ihres Könnens, die Flammenlanzen, mit denen sie einige der Geschütze der Orks vernichtet hatten. Noch mehr beeindruckte ihn allerdings die Kaltblütigkeit, mit der sie mitten im feindlichen Feuer gestanden hatten und sich auf ihre Zauber konzentrierten. Dennoch war der Inquisitor sich nicht sicher, ob das Mut oder Überheblichkeit war. Zumindest Eolan war bis an die Grenze des Erträglichen arrogant. Er hatte für sich und die vier anderen Magier geradezu fürstliche Quartiere verlangt. Jeder von ihnen sollte einen eigenen Raum erhalten und einen Lakaien für niedrige Arbeiten. Der Magus hatte sich für seinen Auftritt vor Marcian mächtig herausgeputzt. Etliche goldene Ringe schmückten seine Finger. Er hatte ein neues, sauberes Gewand angelegt, trug ein Diadem mit einem prächtigen Edelstein auf seinem kahlrasierten Schädel und eine seltsam archaisch anmutende weiße Robe. Schließlich hatte Marcian seinen Wünschen entsprochen. Die Magier bekamen ein eigenes Haus in der Stadt, und Eolan hatte ihm auch das Versprechen abgetrotzt, daß sie alle an den Offiziersversammlungen teilnehmen durften. Sehr viel angenehmer war da Hauptmann Himgi, ein Erzzwerg und Anführer der beiden Banner der kaiserlichen Armee, die mit den Flußschiffen eingetroffen waren. Ohne große Umschweife hatte er sich seinem Kommando unterstellt und mit ihm beratschlagt, wo seine Männer Quartier beziehen konnten. Der leicht hinkende Zwerg mit seinem wallenden schwarzen Bart und dem einfachen soldatischen Gemüt war Marcian sofort sympathisch.