Wieder wandte sich der hagere Eolan an den Stadtkommandanten. »Du bist sicher, daß du wirklich willst, worum du mich gebeten hast?« Der Inquisitor nickte stumm.
»Dann brauche ich jetzt einen Gegenstand aus dem Besitz des Toten.« Marcian reichte dem Magier den Schlüssel zum Stadtarchiv. Irgan Zaberwitz mußte ihn ein halbes Leben lang um den Hals getragen haben. Inzwischen hatte Eolan sich auf den Boden gekniet und zeichnete mit Kreide einen Halbkreis. Obwohl er feingliedrig aussah, bewegte er sich mit der Kraft und Entschlossenheit eines Kriegers. Der Mann war es gewohnt zu befehlen, ging es Marcian durch den Kopf. Er gehörte zum Dekanat der Magierakademie zu Bethana. Viel hatte er darüber hinaus nicht verraten, doch die fast verblaßte Narbe, die sich über Stirn und rechte Augenbraue zog, und eine weitere auf dem rechten Handrücken verrieten, daß er nicht nur Theoretiker und Lehrer war. Wieder erinnerte der Inquisitor sich daran, wie die Magier im Feuer der Orks gestanden hatten. Selbst kaiserliche Gardesoldaten hätten sich nicht kaltblütiger verhalten können.
»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, schreckte ihn Eolans Stimme auf. »Ich muß von dir nun wissen, welche Fragen du beantwortet haben möchtest. Und sei gleich nicht ungeduldig. Es wird eine Weile dauern, bis sich mein Geist einen Weg in das Reich der Toten gebahnt hat. Es kommt auch vor, daß die Antworten, die wir von Verstorbenen erhalten, uns zunächst wirr, ja verrückt erscheinen. Oft klärt sich ihr Sinn erst im nachhinein. Drei Fragen werde ich für dich stellen. Der Kampf gestern hat meine Kräfte strapaziert, und ich möchte meine Energie nicht unnötig für ein Unternehmen aufwenden, dessen Rechtfertigung mir fragwürdig erscheint.«
Marcian ignorierte die bissige Bemerkung. Noch einmal erläuterte er Eolan, was er wissen wollte. Dann begann der Magier mit feierlicher Stimme die Beschwörung. Seine vier Schüler hatten sich schweigend in die Ecken des Raums gestellt und schlugen Schutzzeichen. Auch Marcian zeichnete mit fahriger Geste ein Symbol zur Abwehr böser Geister in die Luft. Mit monotoner Stimme wiederholte Eolan immer wieder die Formel. Sein Blick war auf den Schlüssel im Halbkreis gerichtet, und doch machte es den Eindruck, als würde er durch den Boden in unendliche Ferne schauen. Sein Geist mußte bereits auf dem Weg zu jenem Ort sein, der allen Lebenden verwehrt war, den dunklen Hallen des Totengottes, jenem Ort der Schwermut und Melancholie, von dem es unter normalen Umständen kein Zurück mehr gab.
Langsam begann der Inquisitor, sich Sorgen zu machen. Allzu lange hatte Eolan schon mit den Beschwörungsformeln geendet und blickte nur noch auf den Schlüssel. Ob er den Unwillen des Totengottes geweckt hatte? Vielleicht war er nun dazu verdammt, als einzig Lebender unter den Geistern der Verstorbenen gefangen zu sein.
Plötzlich durchlief ein leichtes Zittern die Lippen des Magiers. Die Wangen zuckten unter unkontrollierten Reflexen. Dann strich die Zunge des Magiers über seine Lippen. Eolan hatte Marcian erklärt, daß er einem Teil des Bewußtseins des toten Stadtschreibers in seinen Körper Platz gewähren würde, so daß er dem Stadtkommandanten auf die Fragen antworten konnte.
Wieder zitterten die Lippen Eolans. Dann öffnete er seinen Mund und versuchte zu reden. Die Stimme erinnerte ein wenig an die Irgans, doch klang sie dumpf, als käme sie aus unvorstellbarer Ferne.
»...ter Dam... Dämon ... Rot ... wie Blut. ... erschwingen ... Nicht der ... auf den ich gewartet hatte ... Er brachte ein Seil ... Ich wollte nicht ... Sein Blick zwang mich, ... es zu tun ... Er nahm die Akte ... und ... machte die Schlinge ... Ich wollte nicht ... auf den Stuhl ... Ich wollte nicht ... die Schlinge berühren ... Seine Augen waren schrecklich ... Seine Stimme war in meinem Kopf. Ich versuchte, mich zu wehren ... Der rote Dämon ist unbesiegbar. Dann stieß er den Stuhl fort, und ich stürzte in die Finsternis ... Flügelrauschen ... Der große Vogel, der dunkle Mann ...«
Bei den letzten Worten war die Stimme immer leiser geworden. Bis sie zuletzt zu einem Flüstern erstarb. Tränen liefen über Eolans Wangen. Dann begann er von neuem zu sprechen.
»Du mußt meinen Tisch finden. Irgan war nicht dumm! Ich habe dem Schwarzgerüsteten nicht getraut ... Als er die Blätter aus der Akte nahm, hat er nur unnützes Zeug bekommen. Aufzeichnungen über unsere Handelsbeziehungen zu Andergast ... Was du suchst, ist in dem hohlen Bein des Tisches versteckt, den der Schreiner Ulrik für meinen Vater angefertigt hat ... Der Schwarze und der Rote, die nur einer sind, haben es bis heute nicht gefunden.«
Die Stimme erstickte in einem schrillen Lachen. Dann war es für lange Zeit still. Marcian fürchtete schon, keine Antwort mehr auf seine dritte Frage zu erhalten, als noch einmal die Stimme Irgans erklang. Doch nun schien sie gehetzt. Er sprach in großer Eile, und Schweiß perlte von der Stirn Eolans.
»Er weiß, daß wir das Schweigen der Toten gebrochen haben! Er ist zornig und sucht uns. In der Akte findest du alles über den Prozeß, den die Inquisition gegen den Henker von Greifenfurt geführt hat. Seine Gespielin ist damals den Jägern des Praios ins Netz gegangen und hat ihren Meister verraten. Sie haben ihn mit dem Ring des Großinquisitors in den Bann geschlagen und mit sieben silbernen Dolchen auf dem Platz der Sonne gerichtet. Dann wurde sein toter Körper unter dem Allerheiligsten des Praios-Tempels eingemauert, auf daß er nie zurückkehre, denn der Henker war ein Wahhh...« Mit einem schrillen Schrei brach die Stimme mitten im Satz ab. Das war nicht mehr Irgan. Eolan hatte geschrien. Ein kalter Windstoß fuhr durch das Zimmer und löschte einige der Kerzen aus. Wieder schrie der Magier und krümmte sich unter Schmerzen. Marcian war es, als höre er das Schlagen gewaltiger Flügel. Für einen Moment verdunkelte der Schatten eines riesigen Vogels den Raum. Dann stürzte Eolan zu Boden. Der Inquisitor sprang an seine Seite. Blut tropfte von der Brust des Zauberers. Eine große Kralle hatte ihm das Gewand zerfetzt und drei blutige Striemen über die Rippen gezogen.
Benommen schlug der Zauberer die Augen auf. »Er hat mich gesehen«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
»Wer?«
»Ich muß einen Fehler gemacht haben. Er ist auf mich aufmerksam geworden und hat seinen Boten geschickt. Ich höre noch immer das Flügelschlagen.« Haßerfüllt blickte der Magier Marcian an. »Ich hätte mich nicht auf dich einlassen sollen. Du bringst Tod und Verderben. Das habe ich schon gespürt, als ich dich zum ersten Mal sah. Ich hätte mich nicht bereden lassen dürfen, einen Zauber zu versuchen, den ich nur unvollkommen beherrsche. Weiche von mir, du Ausgeburt der Niederhöllen. Du sagst, du bringst das Licht, doch in Wirklichkeit stärkt dein Tun ganz andere Mächte.«
Zitternd erhob sich Eolan. Seine Schüler stützten ihn und halfen dem Magier, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Marcian hatte den Eindruck, daß die Falten im sonnengebräunten Gesicht des Mannes tiefer geworden waren. Auch erschien er dürrer und ausgezehrter. »Weiche von mir, Bote der Finsternis!« kreischte Eolan mit der Stimme eines Greisen. »Meine Zeit ist noch nicht gekommen. Hesinde beschütze mich!« Lauthals begann er ein Gebet, in dem er um die Hilfe der Göttin der Magie flehte.
Aufgeregt murmelten die Adepten untereinander. »Er altert.«
»Nein, er wird wahnsinnig. Etwas greift nach seinem Verstand.« »Wir müssen einen Schutzkreis ziehen. Vielleicht können wir es aufhalten.«
Dann wandte sich ein junger, blonder Mann mit strengem Gesicht an Marcian. »Verlaß dieses Haus. Du kannst uns nicht helfen und hast für heute genug Unheil unter unser Dach getragen.«
Marcian schluckte eine zornige Antwort herunter und ging. War es seine Schuld, wenn Eolan seine Kräfte überschätzte? Er hätte doch nur seine Hilfe zu verweigern brauchen. Nein, der alte Magier war nicht an ihm, sondern an seiner eigenen Überheblichkeit gescheitert! Marcian verließ den Raum, in dem das unheimliche Ritual stattgefunden hatte, und wurde von einem verschüchterten Diener durch einen dunklen Flur zur Haustür geleitet.