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Auf der Straße wandte er sich nach Osten und schritt energisch aus. Die kühle Nachtluft ließ ihn wieder klar denken. In dem Viertel hinter der alten Stadtmauer war das Haus des Archivars. Schon zweimal hatte er das bescheidene Fachwerkhaus aufgesucht, das einst Irgan Zaberwitz gehörte. Vergebens. Seine Hoffnungen, dort eine Spur zu finden, waren enttäuscht worden. Doch nun wußte er, wo er suchen mußte!

Für einen Moment hielt Marcian inne. Hatte er das Geräusch von Flügeln gehört? Erschrocken blickte er in den nächtlichen Himmel, aber nichts war zu erkennen. Seine Hand war instinktiv zum Schwertgriff gefahren. Langsam drehte er sich in der schmalen Gasse um seine eigene Achse und musterte das kleine Stück Himmel, das zwischen den hervorragenden Dachfirsten zu erkennen war. Er konnte nichts sehen, und doch fühlte er sich beobachtet. Vielleicht war das auch eine Nachwirkung des unheimlichen Rituals, dem er beigewohnt hatte. Schaudernd erinnerte er sich wieder an den großen Vogelschatten und das Geräusch schlagender Flügel. Ob ein Wächter des Totenreichs auf Eolan aufmerksam geworden war? Der Inquisitor versuchte, den beunruhigenden Gedanken beiseite zu schieben. Vielleicht suchte dieser Todesbote sogar nach ihm? Schließlich war er doch verantwortlich dafür, daß die Beschwörung stattgefunden hatte.

Marcian beschleunigte seine Schritte. Kaum war er in die nächste Gasse eingebogen, hörte er wieder das Geräusch. Er bildete sich allerdings ein, daß das Flügelschlagen ein wenig anders klang. Vielleicht, weil sein Jäger nun endgültig die Welt der Lebenden erreicht hatte?

Der Inquisitor rannte los. Er mußte einen geschützten Ort finden. Für einen Augenblick fragte sich Marcian, ob er begann, verrückt zu werden. Nein! Diese Bedrohung bildete er sich nicht ein. Er mußte das Haus des Schreibers erreichen! Wieder schlug er einen Haken, mied es, einen kleinen Platz zu überqueren, und folgte erneut dem Lauf einer engen Gasse. Was ihm da am nächtlichen Himmel folgte, würde ihm mit Sicherheit die Krallen in den Rücken stoßen, wenn er einen Platz überquerte und die Gelegenheit zu einem Angriff bot.

Marcian erreichte die Gasse der Weber. Eine ärmliche Gegend mit heruntergekommenen eingeschossigen Fachwerkhäusern. Die Mauern standen hier so dicht beisammen, daß er immer wieder mit der Schulter an den Wänden entlangschrammte, während er durch die Gasse auf sein Ziel zurannte. Die Giebel der windschiefen Häuschen ragten so weit nach vorne, daß es fast unmöglich war, den Himmel zu sehen. Marcian blickte dennoch nach oben. Nichts!

Mit wild klopfendem Herzen stand er endlich vor der Tür zum Haus des Schreibers. Seit Irgan zu Boron gegangen war, schloß hier niemand mehr ab. Der Inquisitor drückte die Schulter gegen die Tür, die ohne Widerstand aufsprang. Das ganze Haus bestand aus nur einem Raum. Eine hölzerne Leiter führte unter den Dachfirst. An der gegenüberliegenden Wand, unweit des gemauerten Kamins, stand ein mit Papieren bedeckter Tisch. Er war das einzige etwas besser gearbeitete Möbelstück in dieser bescheidenen Hütte. Hinter ihm durchbrach ein großes Fenster die Mauer, dessen hölzerne Läden von innen verriegelt waren. Marcian durchmaß den Raum, um im Kamin mit Stein und Stahl ein wenig Zunder zu entfachen. Daran entzündete er die Kerzen, die auf dem Sims in einem alten bronzenen Halter standen. Dann bückte er sich neben den Tisch. Er klopfte mit dem Knöchel gegen die schön gedrechselten Beine. Beim dritten hatte er Erfolg. Es klang hohl. Wie hatte er dieses Versteck nur übersehen können! Das Tischbein ließ sich herausschrauben. In seinem Innern war ein Bündel eng zusammengerollter Pergamentseiten versteckt. Marcian überflog die Papiere. Sie trugen allesamt das Siegel der Inquisition.

Vor Aufregung hatte er die Bedrohung am Nachthimmel für einen Augenblick vergessen, als mit lautem Krachen die Fensterläden aufflogen. Marcian rollte sich unter den Tisch und zog sein Schwert. Ein eisiger Luftzug ließ die Kerzen verlöschen. Ein riesiger Schatten huschte über ihn hinweg und landete mitten im Zimmer. Die Gestalt, die sich vor ihm aufbaute, maß mehr als zwei Schritt. Mächtige lederne Flügel wuchsen aus ihren Schultern. Im Dunkeln konnte der Inquisitor sie nur ungenau erkennen, doch entsprach das, was er sah, ziemlich genau seinem Bild von Dämonen. Ein ganz leichtes Glimmern leuchtete noch im Kamin. Es tauchte das Monstrum in ein rötliches Licht. Marcian schluckte. Das Wesen schien keine Haut zu haben. Naß schimmerte blutiges Muskelfleisch. Breite Lederbänder liefen über seine Brust, und es schien etwas auf den Rücken geschnallt zu tragen.

Als die Gestalt sich umdrehte, knirschten die alten Bodendielen bedenklich, als würden sie jeden Augenblick zerbersten. »Komm aus deinem Loch gekrochen!« forderte sie ihn auf. Die Stimme erklang in Marcians Innerem. Das Wesen hatte seine Lippen nicht bewegt und zeigte ein Maul mit dolchartigen Reißzähnen, während es ihn mit bösen gelben Augen argwöhnisch musterte. Die Kreatur war ein Telepath. Er mußte aufpassen, was er dachte, denn seine Gedanken würden wie ein offenes Buch sein.

»So ist es!« ertönte es in seinem Schädel. Obwohl die Stimme ohne gesprochene Worte auskam, schien sie ihm merkwürdig vertraut. »Ich habe etwas für dich, du heimtückischer Mörder.« Die Kreatur schleuderte ihm einen kleinen Beutel herüber. »Los, mach ihn auf!«

Ohne den Blick von der Gestalt im Zimmer zu wenden, fingerte Marcian an dem Lederriemen, der den Beutel verschloß. Aus seinem Inneren klingelte es metallisch. Was mochte dieses Nachtgeschöpf nur beabsichtigen? Warum verfolgte es ihn und griff dann doch nicht an? Obwohl das Wesen diese Gedanken deutlich vernommen haben mußte, erhielt der Inquisitor keine Antwort.

Endlich war der Beutel offen. Marcian schüttete den Inhalt auf die Holzdielen. Es war eine silberne Kette aus Münzen, in die ein kunstfertiger Schmied tränenförmig geschliffene Onyxe eingearbeitet hatte. Daneben lag ein kleiner goldener Ring mit einem Greifensiegel. Sartassa! Das war ihr Schmuck und sicher auch ihr Ring.

»Komm da heraus!« erklang wieder die vertraute Stimme. »Später wirst du noch genug Zeit haben, vor mir zu knien.«

Das Ungeheuer wich einen Schritt in das Zimmer zurück, und Marcian kroch unter dem Tisch hervor. Drohend hob er das Schwert in der Rechten und richtete es auf die Kehle des Monstrums. Er war sich zwar nicht sicher, ob die Waffe gegen diese Ausgeburt des Bösen helfen mochte, doch fühlte er sich mit dem blanken Stahl in der Hand ein wenig wohler. Marcian erinnerte sich an das Abschiedsgeschenk des Großinquisitors. Sollte der Baron recht behalten, konnte ihm die Kreatur nichts anhaben. Mißtrauisch musterte ihn das Geschöpf. Er hatte versucht, nicht konkret an das zu denken, was er um den Hals trug. Dennoch schien es etwas bemerkt zu haben. Es bleckte die Zähne und fauchte ihn an. Marcian faßte neuen Mut. »Was hast DU mit Sartassa gemacht?« Die Stimme des Inquisitors hatte fast ihren gewohnten Befehlston wiedergefunden.

»Die Frage sollte besser lauten, was hast du mit Sartassa gemacht! Sie kam zu mir mit Verrat im Sinn.«

Marcian verharrte. Jetzt wußte er, woher er die Stimme kannte. Die Kreatur imitierte Zerwas!

»Was soll dein Gaukelspiel? Warum sprichst du mit der Stimme des Henkers.«

»Hast du wirklich noch nicht begriffen? Glaubst du, ich wüßte nicht, wer hier der Gaukler ist? Wessen Leute verbergen sich denn hinter Masken? Welchem Herren dienen die drei Magier im Palas wirklich? Wer hat Sartassa und ihre Freundin, die Auelfe, zu mir geschickt, damit ich sie in meine Bürgerwehr aufnehme? Was sind die Jägerin, der Zwerg und der Söldner wirklich? Du siehst, ich kenne alle deine Agenten, INQUISITOR!«

Der Rote und der Schwarze, hatte die Stimme des toten Irgan gesagt. Sie waren ein und dieselbe Person. Langsam fügten sich die Geheimnisse für Marcian zu einem Bild. Der Rote, das war der Dämon, der nun vor ihm stand, und der Schwarze war Zerwas in seiner schwarzen Rüstung. Dieses Monstrum war auch der Henker!