Die ganze Woche lang hatte er darüber nachgedacht, wie er Zerwas loswerden könnte, doch dem Inquisitor war kein Weg eingefallen. Es gab nur eine Lösung. Konnte er den Vampir nicht besiegen, mußte er sich mit ihm verbünden. Nur wenn Zerwas ihn für schwach und verzweifelt hielt, beging er vielleicht einen Fehler.
Müde erhob sich der Inquisitor aus dem hohen Lehnstuhl am Ende der Tafel. Augenblicklich wurde es stiller im Saal. Die Männer und Frauen blickten zu ihm. Marcian machte eine beschwichtigende Handbewegung. Sollten sie weiterfeiern. Er würde nun gehen. Sein Körper war übersät mit Prellungen. Es war zwar keiner gegnerischen Klinge gelungen, seinen Panzer zu durchdringen, dennoch hatte er viele schmerzhafte Hiebe einstecken müssen, und seine Rüstung sah übel zugerichtet aus. Als er am Platz des Henkers angelangt war, beugte er sich zu ihm herab und flüsterte ihm ins Ohr, er möge in sein Zimmer kommen. Ohne weiteren Kommentar verließ der Inquisitor dann den von Fackeln hell erleuchteten Saal.
Marcian mußte nicht lange warten, bis es an seine Tür klopfte. Zerwas trat ein, ein böses Lächeln auf den Lippen. »Hier bin ich, und ich muß sagen, du hast Mut. Nach unserem letzten Treffen hätte ich nicht geglaubt, daß du es noch einmal wagen würdest, mir allein zu begegnen.« »Unten im Saal sitzen zwei Dutzend Zeugen, die gesehen haben, wie ich dich nach hier oben eingeladen habe. Du wärst nicht so dumm, mich jetzt zu töten. Außerdem bin ich überzeugt, daß du es nicht kannst, oder hast du schon vergessen, was bei deinem letzten Versuch geschehen ist?«
Zerwas blickte sich in dem großen, karg möblierten Raum um. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle. Das war fast die ganze Einrichtung. Kein Vergleich zu dem Luxus, mit dem er sich umgab. »Also, wenn wir uns nicht gegenseitig an die Gurgeln gehen, was willst du dann von mir?« »Ich will einen Pakt mit dir schließen.«
Zerwas schaute ihn fassungslos an. »Ein Pakt zwischen einem Inquisitor und einem Vampir? Du amüsierst mich. Glaubst du etwa ernsthaft, daß ich dir das abnehme?«
»Ich glaube sogar, daß wir beide keine andere Wahl haben. Ich kann nicht zwei mächtige Feinde zur gleichen Zeit bekämpfen. Ich biete dir an, daß du so lange sicher vor mir sein wirst, bis die Orks geschlagen sind. Ich werde nichts gegen dich unternehmen. Als Gegenleistung verlange ich, daß du mir alle Hilfe gegen die Orks gibst, die du geben kannst.«
Der Henker schritt unruhig im Zimmer auf und ab. »Du redest, als könntest du mir Bedingungen stellen. Warum sollte ich auf das Angebot eingehen?«
Marcian versuchte, gelassen zu wirken. Er setzte sich und ließ sich Zeit mit der Antwort. »Du solltest darauf eingehen, um wieder ruhig schlafen zu können.«
Zerwas lachte laut auf. »Glaubst du etwa, daß du mir Angst machst?« »Wenn nicht, kann ich nur sagen, um so besser. Auf Übermut folgt stets der Fall. Vergiß nicht, daß ich Inquisitor bin. Ich werde schon einen Weg finden, dir zu schaden!«
»Und was willst du als Gegenleistung für deine Gnade?« Zerwas stand nun unmittelbar vor Marcian, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und blickte ihn herausfordernd an.
»Zunächst möchte ich wissen, warum du heute mittag die Stadt gerettet hast. Noch vor ein paar Tagen hast du mir erzählt, du wolltest Greifenfurt leiden sehen.«
»Wo ist da der Widerspruch? Ich möchte nicht, daß es schnell vorbei ist. Ich will meinen Spaß haben. Ich werde nicht sterben, wenn die Stadt von den Orks überrannt wird. Aber zunächst möchte ich erleben, wie immer wieder die Hoffnungen der Bürger enttäuscht werden. Möchte sehen, wie ein Haus nach dem anderen in Flammen aufgeht. Wie Kinder und Mütter mit vor Hunger hohlen Wangen auf den Straßen stehen, um sich die schmale Lebensmittelration abzuholen, die ihnen zugedacht ist. Zu wenig zum Leben, aber zu viel zum Sterben. Ich will hören, wie tausendfach dein Name verflucht wird, Inquisitor. Und ich will dich zerbrechen sehen. All das wäre mir genommen worden, hätten die Schwarzpelze schon heute die Mauern überrannt.«
Marcian war beunruhigt. Mit einem solchen Haß war er bislang noch nicht konfrontiert worden. Daß Menschen ihn sterben sehen wollten, hatte er schon oft erlebt, aber einen solchen Weg zum Ziel hatte bislang noch keiner eingeschlagen. »Warum bist du dir so sicher, daß die Stadt untergehen wird?«
Zerwas zuckte mit den Schultern. Er hatte wieder begonnen, im Turmzimmer auf- und abzugehen. »Das ist ein Gefühl, eine Ahnung.« »Doch zunächst kann ich mich darauf verlassen, daß du alles tun wirst, um zu verhindern, daß Greifenfurt erobert wird.«
»Natürlich. Ich habe dir doch schon gesagt, warum. Meine Rache wäre verdorben, wenn ich dich und die Bürger der Stadt schon morgen an den Zinnen der Stadt aufgehängt sähe.«
»Ich möchte dir etwas vorschlagen.« Marcian zögerte noch. Was er plante, verstieß für einen Inquisitor gegen Ehre und Gewissen. Allein für den Gedanken daran, mit diesem Geschöpf der Finsternis gemeinsame Sache zu machen, gehörte er auf den Scheiterhaufen. »Ich werde dir nicht weiter nachstellen, doch du wirst mir dafür helfen, die Stadt vor den Orks zu retten.«
»Du weißt, daß ich dir ein solches Versprechen nur für ein paar Monate geben kann. Letztendlich gehen wir verschiedene Wege. Ich will die Stadt zerstört sehen, und du willst sie retten.«
»Ich weiß«, lächelte Marcian hintersinnig. »Doch ein Stück Weges werden wir noch zusammen gehen. Laß uns einen Pakt darauf schließen, daß ich dir innerhalb dieser Mauern keinen Schaden zufügen werde und du mir dafür hilfst zu verhindern, daß die Stadt in den nächsten zehn Wochen fällt. Danach können wir ein neues Abkommen treffen, oder du bist einfach von deinem Wort entbunden. Was hältst du davon?« Zerwas musterte den Inquisitor mißtrauisch. Er konnte keinen Betrug hinter seinen Worten erkennen, und doch war er sich sicher, in eine Falle gelockt zu werden. Aber was konnte ihm schon passieren? »Gut, ich werde mich auf dieses Spiel einlassen. Für zehn Wochen wirst du meine Hilfe haben.«
»Dann schwöre!« Marcian richtete sich auf. »Ich will mehr als nur dein Wort. Ich will, daß du dich wirklich an unsere Vereinbarung gebunden fühlst.«
»Du schacherst wie eine alte Fischfrau.« Arrogant grinste Zerwas ihn an. Doch die Selbstsicherheit war nur Maske. Er wollte noch ein wenig Zeit gewinnen, um die Worte des Inquisitors abzuwägen. Er konnte aber keine Heimtücke an ihnen finden. »Also gut. Ich schwöre feierlich bei Boron, dem Gott der Toten und dem einzigen Herren, dem ich mich verbunden fühle. In den nächsten zehn Wochen werde ich alles tun, um dich im Kampf gegen die Orks zu unterstützen. Dafür erwarte ich, daß du alle Nachstellungen gegen meine Person einstellst.«
»So sei es!« Feierlich hob der Inquisitor die rechte Hand. »Ich schwöre bei Praios, dem Gott der Gerechtigkeit und des Lichtes, daß ich für diesen Zeitraum alle Intrigen gegen dich ruhen lasse und dir innerhalb der Mauern dieser Stadt, die mir untersteht, kein Leid widerfahren soll.« Noch immer war sich Zerwas nicht sicher, ob er das Richtige getan hatte. Der Inquisitor war einer der wenigen Menschen, die er nicht vernichten konnte. Er wandte sich zur Tür. »Nun, wo dir deine Angst vor mir genommen ist, kann ich doch wohl gehen.« Der Vampir bemühte sich, herablassend zu klingen.
»Ich werde dich nicht gegen deinen Willen halten. Das widerspräche doch unserem Pakt.«
Marcians Selbstgefälligkeit reizte Zerwas. Wütend riß er die Tür auf und verschwand auf der Treppe, die zum Burghof führte.
Der Inquisitor lehnte sich entspannt in seinen Stuhl zurück. Der erste Teil seines Plans war aufgegangen. Jetzt galt es zu hoffen, daß der Vampir sich an sein Wort gebunden fühlte.
Zerwas betrachtete Sartassa. Seit er sie zum Vampir gemacht hatte, war sie noch schöner geworden. Ihre böse Seite hatte Oberhand gewonnen. Sie war launisch und grausam. Es dauerte eine ganze Weile, bis er ihr begreiflich machen konnte, was sie war. Zunächst mußte er Sartassa anketten, damit sie sich in ihrer Unwissenheit kein Leid zufügte. Vieles, was früher selbstverständlich war, barg nun Gefahren. Schon ein einfacher Spaziergang im Sonnenlicht würde ihren Tod bedeuten. Langsam hatte sie sich in ihr Schicksal gefügt und fand nun zunehmend Gefallen daran. In der Nacht, als die Flußschiffe wieder die Stadt verlassen hatten, machten sie ihren ersten gemeinsamen Ausflug. Zerwas lehrte sie, wie sie mit seiner Hilfe ihren Körper verwandeln konnte, um eine Fluggestalt anzunehmen. Gemeinsam waren sie durch den nächtlichen Himmel gesegelt. Hatten versucht, bis zu den Sternen zu fliegen, waren so hoch in den Himmel gestiegen, bis sie in der dünnen Luft kaum noch Atem bekamen und dann in halsbrecherischem Sturzflügen wieder auf die Erde zurückgerast.