Vor sieben Tagen hatte das Dauerfeuer auf die Stadt begonnen. Zunächst schossen die Schwarzpelze noch jämmerlich schlecht. Zerwas erinnerte sich, wie die Soldaten auf den Mauern gestanden hatten und lachend die Fehlschüsse kommentierten, die weit vor der Stadtmauer ins Erdreich einschlugen. Doch die Orks hatten schnell gelernt, und mittlerweile war auch dem letzten in der Stadt das Lachen vergangen. Pausenlos prasselten mächtige Felsbrocken auf sie hernieder, zerschlugen Häuserdächer oder rissen Löcher in die Zinnen der Stadtmauer. Die Bürger konnten tagsüber kaum noch die Häuser verlassen. Nirgends in der Stadt war man sicher. Der Tod wählte seine Opfer ohne Bedacht. Kinder, Krieger und Greise wurden von den Geschossen getötet, die ohne Unterlaß auf Greifenfurt niedergingen. Selbst bei Nacht schossen die Schwarzpelze gelegentlich, so daß man sich nie sicher fühlen konnte. Auf Dauer würden die Bürger diesen zermürbenden Angriffen nicht standhalten. Es war höchste Zeit, etwas zu unternehmen!
Ungeduldig blickte der Vampir zur Mauer hinauf. Sartassa näherte sich dem Turm. Ein weiches gelbes Licht fiel aus der Tür, die auf den Wehrgang der Stadtmauer führte. Nun trat die Elfe in den Lichtschatten und rief leise nach der Wache im Turm. Sie war nackt und sah aus wie die Göttin der Liebe. Unwiderstehlich. Zerwas hatte seine dämonische Gestalt gewählt, um mit Sartassa auf telepathischem Weg in Kontakt zu bleiben. Sie sollte selbst ihren Opfern nachstellen, doch würde im Turm irgend etwas Unvorhergesehenes geschehen, wüßte er sofort Bescheid. Er war so sehr mit ihrem Geist verschmolzen, daß er durch ihre Augen sah und jedes ihrer Gefühle teilte.
Ein Wachtposten erschien in der erleuchteten Tür. Zerwas konnte spüren, wie das Herz der Elfe schneller schlug. Sie begann mit dem Mann zu flirten. Zerwas kannte ihre honigsüßen Worte nur zu gut und wußte, daß sie stets ihre Wirkung erzielten. Die beiden verschwanden im Turm. Der Vampir spürte ihre Gier, die Lust nach dem Blut des jungen Mannes. Sie mußte vorsichtig sein. Aufpassen, daß sie sich nicht zu schnell verriet, oder sie würde keinen Spaß mehr an der Sache haben.
Noch jemand war im Turm. Einige Worte wurden gewechselt. Dann sah Zerwas eine Gestalt in der Tür auftauchen. Eine Frau mit kurzem blonden Haar in einer Lederrüstung. Sie schlenderte den Wehrgang entlang. Offensichtlich wollte sie das vermeintliche Liebespaar nicht stören. Wieder spürte Zerwas die gewaltige Lust der Elfe, spürte, wie sie sich unter schmeichelnden Worten über den Tisch der Wachstube beugen ließ, sie dem jungen Mann in Fetzen das Hemd von der Schulter riß. Er spürte, wie sie sich seinen Küssen hingab und sie ihn wiederküßte. Es war der Moment, in dem er in sie eindrang, als sie zubiß. Der Wachtposten stöhnte vor Lust, er begriff nicht, was mit ihm geschah. Sartassa jubelte innerlich. Jede Faser ihres Körpers schien von neuer Kraft belebt. Zerwas spürte, wie ihr das warme Blut die Kehle hinabrann. Der junge Soldat wurde schwächer. Der Narr argwöhnte immer noch nichts und glaubte, daß der Liebesakt ihm die Kraft genommen habe. Schritte lenkten die Aufmerksamkeit des Vampirs zur Stadtmauer. Die Kriegerin kam zurück. Zu früh! Sie durfte noch nicht in den Turm! Sartassa sollte ihr Spiel mit dem Wachtposten bis zu Ende genießen.
Zerwas spannte seine mächtigen ledernen Flügel. Er schlug ein paarmal in die Luft, um sich dann mit einem kraftvollen Sprung vom Boden zu lösen. Steil schoß er in den Nachthimmel und flog einen weiten Bogen, um die Kriegerin von hinten anzugreifen. Einen Moment verharrte er flügelschlagend über ihr, um dann hinabzustoßen, wie ein Falke, der ein Kaninchen schlägt. Mit vernichtender Wucht traf er die Frau im Rükken. Die Krallen seiner Füße durchschnitten die schlecht gearbeitete Lederrüstung und drangen ihr in die Lungen. Der mächtige Aufprall ließ sie vornüberstürzen.
Mit einem Satz trennte sich der Vampir von seinem Opfer. Vergeblich versuchte sich die Kriegerin aufzustemmen und erbrach Blut. Die Wunden in ihrem Rücken waren tödlich. Langsam zog Zerwas sein Schwert und schritt auf die blonde Frau zu. Mit einem Tritt in den Leib riß er sie herum, so daß sie auf dem Rücken lag und er ihr ins Gesicht sehen konnte. Langsam näherte sich seine Klinge ihrer Brust. Behutsam zerschnitt er ihren Panzer und weidete sich am Entsetzen in ihrem Blick. Noch immer quoll Blut über ihre Lippen. Offensichtlich konnte sie kaum noch atmen. Dann stieß er ihr die Klinge tief in den Körper.
Zerwas blickte immer noch auf die Tote, als ihn eine Hand sanft an der Schulter berührte. Sartassa stand hinter ihm. Ein Tropfen geronnenen Blutes klebte an ihrem Kinn. »Das ist das erste Mal, daß ich mit Fug und Recht behaupten kann, einen Jüngling vernascht zu haben.« Ein böses Grinsen spielte um ihre Lippen. »Was tun wir nun?«
»Wir müssen die Spuren beseitigen.« Zerwas durchforschte ihren Geist. Sie hatte Gefallen an der Bluttat gefunden. Erst jetzt konnte er Sartassa wirklich als Gefährtin betrachten. Gemeinsam gingen die beiden zum Turm zurück. Dort lag der Wachsoldat auf dem Tisch. Sein Gesicht war bleich wie Wachs. In den erstarrten Zügen spiegelten sich noch immer Lust und Verzücken. Sein Oberkörper war nackt und trug blutige Striemen von den Nägeln der Elfe. Die Hose war um seine Füße geschlungen.
»Zieh ihn wieder an«, befahl Zerwas der Elfe. »Man darf nicht ahnen, was hier geschehen ist. Wir müssen alles so herrichten, daß kein Verdacht auf mich fällt.« Die Elfe gehorchte und begann, den Knaben, so gut es ging, wieder anzuziehen. Ein letztes Mal blickte Zerwas ihn an. Er mochte vielleicht achtzehn Jahre alt sein. Vermutlich war dies seine erste Liebesnacht gewesen. Nun, er konnte wenigstens sicher sein, daß den meisten Männern eine solche Ekstase in ihrem ganzen Leben nicht vergönnt war.
Zerwas verließ den Turm und stieg in den Nachthimmel auf. Er brauchte einen Felsbrocken. Ein Geschoß der Orks. In größer werdenden Kreisen flog er um den Wachturm. Es war alles ruhig. Keine anderen Wachen patrouillierten über die Mauer. Hier im Süden der Stadt hatte es während der ganzen Belagerung noch keinen Angriff gegeben. Deshalb standen wenige Männer Wache.
Endlich fand er, was er suchte. Einen mächtigen Felsbrocken, der sich tief in den Schlamm einer Straße eingegraben hatte. Der Vampir landete und machte sich an dem Geschoß zu schaffen. Es aus der Erde zu lösen war leicht, denn er verfügte über weit mehr Kräfte als ein gewöhnlicher Mensch. Doch selbst er würde mit dem Felsen nicht fliegen können. Durch die Straßen zu schleichen wäre zu riskant. Auch wenn es Nacht war, konnte man jederzeit einer Patrouille begegnen. Für einen Augenblick zögerte der Vampir, dann griff er nach dem Knauf des dunklen Schwertes zwischen seinen Flügeln. Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf die Macht der schwarzen Klinge und spürte schließlich, wie deren Kraft auf ihn überging. Wieder griff er mit beiden Klauenhänden nach dem Geschoß. Nun wog es nicht schwerer als ein abgetrennter Menschenkopf, obwohl es einen Durchmesser von mehr als einer Elle hatte. Mühelos erhob er sich in den Himmel.
Als er wieder den Turm erreichte, hatte Sartassa ihre Arbeit vollendet. Gemeinsam zerrten sie die Leichen auf den Wehrgang. Dann hob Zerwas den Fels und schmetterte ihn auf den Schädel des Knaben, der wie eine Nuß zerbarst. Die Bißwunde, die Sartassa ihm beigebracht hatte, war nicht mehr zu sehen. Die Leiche der Kriegerin rollte er von der Mauer. Dann hob der Vampir erneut das Geschoß und ließ es auf sie herabfallen, so daß ihr Brustkorb zerschmettert wurde. Für den uneingeweihten Betrachter mußte es nun so aussehen, als wären die zwei bei einem Wachgang von der Felskugel getroffen worden.
Sartassa hatte ihn während der ganzen Zeit beobachtet. Aus der nächtlichen Stadt war ein dumpfes Geräusch zu hören. Zerwas griff sie beim Arm und stürmte mit ihr die Stiege des Wachturms hinauf. Von der Plattform konnten sie sehen, wie ein Trupp Reiter die Hauptstraße vom Platz der Sonne her kam. Sie hatten die Hufe ihrer Pferde umwickelt, um leiser voranzukommen. Nun wurde das südliche Tor geöffnet. Der Augenblick für den Angriff war gut abgepaßt. Das Madamal war bereits hinter dem Horizont versunken, und Wolken verdunkelten den Himmel im Osten. Mit etwas Glück würden sie die Schanze, die wenig mehr als zweihundert Schritt vor dem Tor lag, überrennen können, bevor von dort auch nur der erste Schuß abgefeuert wurde. Noch immer kamen Reiter die Straße entlang. Blautanns Kürassieren folgten Freischärler von Lysandra und Bürger, die sich in den letzten Gefechten als Schwertkämpfer hervorgetan hatten. Es sah so aus, als hätte man jeden auch noch so altersschwachen Gaul aus den Ställen geholt, um eine möglichst große Reitertruppe zu bilden. Zerwas fluchte innerlich. Ein großartiges Gemetzel stand bevor, und nur weil er Sartassas Wünschen nachgekommen war, stand er noch immer hier auf dem Turm. Er fühlte ›Seulaslintan‹ in seiner ledernen Scheide auf seinem Rücken vibrieren. Auch das schwarze Schwert spürte, daß ein großes Gefecht bevorstand. Eine Nacht, in der viele Männer und Frauen ihr Leben lassen würden. »Wir sollten mitkämpfen«, murmelte Sartassa vor sich hin, während sie mit zusammengekniffenen Augen den Reitern nachschaute, die vor der Stadtmauer in der Dunkelheit verschwanden. »Gib mir meine Fluggestalt. Wir können noch vor den Reitern im Hauptlager der Orks sein und Verwirrung stiften.«