Marcian fluchte vor sich hin. Er haßte diesen Morgen. Vor einer Stunde hatten ihn Wachen aus dem Bett geholt. Es hatte wieder einen Mord gegeben. Diesmal war es ein regelrechtes Massaker. Ein junger Mann und seine drei Kinder waren umgebracht worden. Der Inquisitor stand im Regen vor der ärmlichen Hütte, in der das Verbrechen geschehen war. Er brauchte frische Luft.
Lysandra trat neben ihn. »Der Bestie, die das getan hat, möchte ich am liebsten das Herz herausreißen.«
Marcian blieb stumm. Er hatte eine Wache vor das Haus postiert. Die neugierigen Nachbarn sollten nicht sehen, was dort passiert war. Obwohl er selbst schon schrecklicher Folter beigewohnt hatte, war ihm übel geworden. Drugon, der Vater, lag nackt auf dem Tisch. Seinen abgetrennten Kopf hatte man auf dem Strohlager gefunden, das der Familie als Bett diente. Der Mörder hatte ihm die Brust gespalten und das Herz herausgeholt.
Hauce, den ältesten Sohn, hatte man mit dem Kopf nach unten an einem Seil am Deckenbalken aufgeknüpft. Ihm war die Kehle durchschnitten worden. Der Knabe, er mochte vielleicht fünf sein, erinnerte an ein geschächtetes Lamm. Die beiden kleinsten Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hatte der Mörder mit dem Kopf gegen die Bretterwand geschlagen. Ihre Schädel waren geplatzt wie überreife Melonen.
Während die anderen um ihn herum rätselten, wer so bestialische Morde begangen haben konnte, sah der Inquisitor in seinem Geiste den Mörder vor sich. Den anderen war ein wesentliches Detail entgangen. Trotz des bestialischen Gemetzels war nur wenig Blut auf dem Boden der Hütte und in den Strohlagern der Kinder gewesen. Unter dem geschächteten Knaben hätte eine riesige Lache sein müssen. Statt dessen klebten nur einige Tropfen Blut auf dem Boden. Das war das Werk von Zerwas! Doch es wunderte ihn, daß keiner der Nachbarn die Schreie der Familie gehört haben wollte. Es war doch unmöglich, daß ein solches Massaker lautlos geschehen konnte.
Der lockige Odalbert, einer seiner Agenten, schreckte ihn aus den Gedanken auf. Er hatte einen hageren Mann mit eisgrauem Stoppelbart im Gefolge. »Der Kerl hat letzte Nacht gesehen, wie Drugon Besuch bekommen hat. Eine Frau war bei ihm.«
»Erzähl es mir in deinen Worten. Doch sag mir zuerst einmal, wer du bist!« Marcian musterte die zerlumpte Gestalt. Er gehörte wohl auch in dieses heruntergekommene Viertel. Direkt am Fluß lagen die Hütten der Hafen- und Feldarbeiter. Hier lebten Männer und Frauen, die nichts als ihre Muskelkraft zu verkaufen hatten.
»Ich heiße Karman, Herr. Ich wohne hier schon, seit ich Kind war.« Karman wirkte verlegen und wich den Blicken Marcians aus. »Gestern abend, nach Mitternacht, habe ich gesehen, wie eine Frau die Straße herunterkam. Donnerwetter, sagte ich zu mir, was für ein hübsches Weib. Muß wohl eine Rahjabraut gewesen sein. So eine, die tut, als wär’s für den Tempel und die Göttin, tut's aber in Wirklichkeit nur für die Geldkatze am Gürtel. Hat einen langen roten Kapuzenmantel getragen und war angemalt wie eine Novadihure.
Hat auch so einen bimmelnden Schmuck um den Hals gehabt.« Karman machte eine Pause und spuckte einen gelb-braunen Priem in den Schlamm der Gasse.
»Und was war mit der Frau?« Marcian wurde ungeduldig; Ihm war der Mann zuwider.
»Die ist bei Drugon reingegangen. Er stand an seiner Tür und glotzte in den Himmel. Da ist auch das Weib stehengeblieben. Haben ein paar Worte geredet, und dann ist sie mit ihm rein. Und ich dachte mir noch, ist seine Alte noch nicht kalt, da treibt er es schon vor den Kindern mit einer Nutte.«
»Seine Frau Yasinthe ist vorgestern nacht beim Überfall auf das Orklager umgekommen. Sie gehörte zu meinen Löwinnen.« Lysandra hatte bisher schweigend zugehört, doch jetzt war sie außer sich vor Zorn. »Ich hätte das nie von Drugon gedacht. Ich habe ihn zwar immer für einen Weichling gehalten, doch daß er so etwas macht, hätte ich nicht geglaubt.«
»Und hast du sonst noch was gesehen? Ist nach der Frau noch jemand bei Drugon gewesen?« Marcian war verwirrt. Das paßte alles nicht mehr zu dem Bild, das er sich von den Morden gemacht hatte.
»Ich glaube nicht.« Karman wirkte verschüchtert. »Ich dachte noch, wo nimmt der nur das Geld her für so eine Braut? Als die dann rauskam, hatte sie bloß noch ein helles Kleid an. War schlank wie eine Elfe und hat langes schwarzes Haar gehabt.«
»Und nach ihr ist niemand mehr gekommen?« fragte Marcian ungeduldig.
»Das weiß ich nicht. Ich bin dann nach Hause gegangen und habe mich aufs Ohr gehauen.« Wieder spuckte Karman auf die Straße. Ein dünner Faden geblichen Speichels lief ihm aus dem Mund und tropfte vom Kinn auf seine zerschlissene Jacke.
»Gut, Mann. Geh jetzt nach Hause. Vielleicht werde ich dich noch einmal besuchen.« Marcian schritt noch einmal zu der Hütte hinüber. Die Einrichtung war spärlich. Ein Lager aus Stroh war in einer Ecke hergerichtet. Einige zerknüllte Decken lagen dort. Es gab einen Tisch und zwei Stühle, einen gemauerten Kamin mit einem Topf und einigen Holzschüsseln. Das war schon alles. Neben dem Kamin lagen die Kleider des toten Drugon.
Marcian schritt hinüber. Billige Stiefel, ein schlichtes Hemd und zerrissene Hosen. Und zuunterst lag ein roter Kapuzenmantel. »Der Tod trägt rot«, ging es dem Inquisitor durch den Kopf. Die Prophezeiung des verrückten Blinden. Kannte er die Mörderin? Gab es noch mehr Vampire außer Zerwas?
»Odalbert!« Der junge Magier war nicht mit in die Hütte gekommen. Er hatte sich übergeben müssen, als er die Toten zum ersten Mal sah, und mied es seitdem, das Haus noch einmal zu betreten. Marcian trat heraus. »Such mir alle Frauen in der Stadt, auf die die Beschreibung von dem alten Kerl paßt. Nimm dir noch ein paar Leute, wenn du es nicht alleine schaffst. Bring die Verdächtigen zu Karman und schau, ob er vielleicht eine wiedererkennt. Und du, Lysandra, kümmere dich darum, daß die Toten unter die Erde kommen. Schließlich hast du die Familie gekannt.« Der junge Magier machte sich auf den Weg. Doch die Amazone knurrte wütend vor sich hin. »Meinetwegen können das Schwein hier die streunenden Hunde fressen. Leid tun mir bloß die Kinder.«
»Trotzdem wirst du dafür sorgen, daß alle ein Begräbnis bekommen. Ich glaube nicht, daß Drugon ein schlechter Mann war.« Marcian reichte, was er gesehen hatte. Er bahnte sich seinen Weg durch die Schaulustigen, die sich mittlerweile auf der Gasse versammelt hatten. Jeder von ihnen könnte der nächste sein. Der Inquisitor wußte nicht viel über Vampirismus, aber das wenige reichte schon aus, ihm gewaltige Sorgen zu bereiten. Vor seinem geistigen Auge sah er die Stadt schon bevölkert von blutgierigen Ungeheuern. Zumindest würden die Orks dann eine böse Überraschung erleben, wenn sie die Mauern stürmten. Marcian wurde immer unruhiger. Gemeinsam mit den anderen Offizieren stand er am Morgen des zweiten Tages des Efferd, des Monats, der dem Gott der Meere geweiht war, auf dem Bergfried der Festung und beobachtete das Lager der Orks. Seit dem nächtlichen Überfall auf ihr Lager hatten sie keinen Angriff auf die Stadt mehr unternommen. Das Geschützfeuer war vollständig eingestellt worden. Statt dessen waren rege Bautätigkeiten zu beobachten. Sie schienen noch mehr Sklaven einzusetzen. Bereits am Vortag konnte man im Hinterland einige Rauchsäulen sehen. Vermutlich abgelegene Gehöfte, die von den Schwarzpelzen gebrandschatzt wurden. Heute morgen hatte er auch beobachtet, wie einige Reiter neue Sklaven aus dem Süden heranbrachten. Die Schanzen vor den Toren der Stadt waren schon jetzt zu regelrechten kleinen Festungen ausgebaut. Sie waren auf allen Seiten von Erdwällen geschützt, vor denen die Sklaven tiefe Gräben ausgehoben hatten. Die Flanken der Erdwälle waren mit dicken angespitzten Ästen gespickt. Ein Reiterangriff auf diese Stellungen war nun unmöglich. Im Gelände rund um die Schanzen waren große hölzerne Schutzwände aufgestellt. Auch dort gingen irgendwelche Arbeiten vor sich. Regelmäßig fuhren Karren vor und wurden voll Erde geschaufelt. Vermutlich waren die Schwarzpelze dabei, dort Fallgruben auszuheben.