»Wenn die so weiterwühlen, haben sie bis Monatsende die Stadt mit einem geschlossenen Gürtel von Verteidigungsanlagen umgeben. Dann kommt, außer vielleicht über den Fluß, niemand mehr hier herein oder hinaus.« Oberst von Blautann stützte sich auf die Zinnen und musterte die Stellungen der Orks.
»Sehr scharfsinnig«, kommentierte Lysandra seine Beobachtungen. »Was sie wohl hinter den Schutzwänden treiben?« warf Marcian fragend ein, um einem Streit zwischen den beiden vorzubeugen.
»Vermutlich werden dort Gruben mit angespitzten Pfählen ausgehoben. Reiterfallen. Das Ganze mit System, und es ist beunruhigend anders als alles, was ich bisher über Belagerungen von Orks gehört habe. Diese Arbeiten sehen so aus, als würden sie direkt nach dem Reißbrett eines kaiserlichen Strategen angefertigt. Genauso würde ich auch vorgehen, wenn ich diese Stadt stürmen sollte und meine Truppen zunächst einmal vor überraschenden Ausfällen zu schützen hätte.« Himgi, der Zwergenhauptmann, der mit den Versorgungsschiffen in die Stadt gekommen war, mußte auf einem Stuhl stehen, um über die Zinnen des Bergfrieds zu schauen. Vor sich hatte er eine Karte auf die Mauer gelegt und verzeichnete dort alle Arbeiten, die er im Lager der Orks beobachten konnte. Besonders sorgfältig malte er dabei auf, wo überall die Schutzwände gestanden hatten. So würden - sie einen Plan der Fallen haben. »Die befestigten Lager vor den Toren fassen jeweils rund zweihundert Krieger. Ich fürchte, damit sind sie zu groß, als daß wir sie noch angreifen könnten. Wie viele Reiter haben wir noch, von Blautann?« Der Obrist runzelte die Stirn und überlegte einen Augenblick. »Wenn wir jedes Pferd der Stadt mitrechnen, können wir rund zweihundertfünfzig Krieger ausrüsten. Aber in meinen Augen ist es ohnehin völlig sinnlos, diese Befestigungen mit Reitern anzugreifen. Wir können unmöglich über die Gräben hinweg die Erdwälle stürmen. Das ist die Aufgabe von Infanteristen.«
»Euer Fazit ist also, daß es uns langsam unmöglich wird, noch irgendwelche Initiative zu ergreifen.« Marcian war während des ganzen Gesprächs unruhig auf- und abgegangen. Jetzt blieb er stehen und musterte den Zwerg.
»So ist das nun mal bei einer Belagerung. Wir sitzen hier wie die Mäuse in der Falle und müssen abwarten, was die anderen tun.« Der Zwerg hielt dem Blick des Inquisitors stand und strich sich über den Bart. »Das einzig Erfreuliche ist, daß die Orks ihre Stellungen auf der anderen Flußseite fast ganz geräumt haben. Sie scheinen auch zu wenig Leute zu haben, um an allen strategisch wichtigen Stellen präsent zu sein.« »Was wird nun weiter geschehen?« fragte Marcian gereizt.
»Das kann ich auch nicht mit Sicherheit sagen.« Himgi hüpfte von seinem Hocker und trat auf die Falltür im Boden der Plattform. »Wäre ich der Offizier, der dort drüben zu befehlen hätte, würde ich die Stellungen weiter so ausbauen, daß ein Angriff auf sie reiner Selbstmord wäre. Danach würde ich neue Geschütze bauen lassen und die Stadt in Trümmer schießen.«
»Na, das sind ja rosige Aussichten.« Lysandra hieb mit der Faust auf die Zinnen. »Ich wußte doch, daß ich nicht hätte hierbleiben sollen. Kann man irgend etwas dagegen tun?«
»Nichts«, entgegnete der Himgi, öffnete die Falltür im Boden und schritt die Treppe hinab.
Zwei Tage später hatten die Orks ihre Arbeiten vor den Toren beendet. Nun hatten sie alle Sklaven im Hauptlager zusammengezogen und damit begonnen, drei große Rampen aus Erde aufzuschütten. Daß er einen Großteil der Arbeiten der Belagerer nicht sehen und einschätzen konnte, machte Marcian nervös. Wilde Gerüchte kursierten in der Stadt. Das Verrückteste, was er bislang gehört hatte, war, daß die Schwarzpelze hinter den hölzernen Schutzwänden Käfige aufgestellt hätten, in denen sich blutgierige Säbelzahntiger befanden.
Wieder stand Marcian vor einer Wand. Sieben Schritt durchmaß sein Turmzimmer, und er war wohl schon hundertmal auf- und abgegangen. Er wußte sehr wohl, daß seine Offiziere bereits hinter seinem Rücken Späße über diese Marotte machten, doch er konnte einfach besser denken, wenn er dabei umherlief. Er wartete auf Eolan. Schon vor einer halben Stunde hatte er einen Boten zu dem Magier geschickt. Er wollte wissen, ob die Zauberer irgendeine Möglichkeit hatten, auszuspähen, was hinter den Erdaufschüttungen im Hauptlager vor sich ging oder was hinter den Holzwänden vor den Toren der Stadt versteckt war.
Wieder stand der Inquisitor vor einer Wand und drehte um. Da öffnete sich die Tür. Eolan trat herein. Ohne zu klopfen und ohne einen Gruß kam er mitten ins Zimmer. Der Magier stützte sich schwer auf seinen Stock. »Du hast mich rufen lassen, Kommandant?« Seine Stimme klang verbittert.
»Setz dich, Eolan!« Marcian überging das provokative Auftreten des alten Mannes. Mit einem Seufzer ließ der Magier sich auf einem Stuhl nieder. »Ich muß von dir wissen, ob es einen Weg gibt, das Lager der Orks auszuspähen.«
Der Magier schwieg eine Weile und wiegte den Kopf hin und her. Dann begann er langsam und bedächtig zu sprechen. »Es gibt zwei Wege, die Orks auszuspionieren, doch keiner ist leicht. Du verlangst wieder nach Dingen, die im Grunde meine Fähigkeiten übersteigen.«
Marcian starrte dem alten Mann in sein eingefallenes Gesicht. Eolan hatte sich den Schädel völlig kahl rasieren lassen, und er wußte von den ändern Magiern, daß ihr Meister fast den ganzen Tag in Meditation verbrachte. Er war besessen von der Furcht, bald zu sterben, und versuchte, seinen Frieden mit dem Universum zu machen.
»Du sprichst in Rätseln für mich. Von welchen Wegen redest du, und warum willst du sie nicht gehen?«
»Ich könnte einen Dämon beschwören, um unsere Feinde auszuspähen, doch behagt mir der Gedanke nicht. Ich möchte nicht mehr in Sphären vordringen, die uns Menschen eigentlich verwehrt sind. Aus einer Dämonenbeschwörung, die fehlschlägt, kann viel Leid entstehen. Dieses Risiko möchte ich nicht mehr eingehen.«
»Mit anderen Worten, du hast Angst!« schleuderte ihm der Inquisitor entgegen.
»Nenne es ruhig Angst, wenn du es so siehst. Ich denke allerdings, daß es mehr mit Weisheit zu tun hat, wenn man sich nicht mit Kräften mißt, von denen man nicht weiß, ob man sie beherrschen kann. Ich habe lange zu dieser Einsicht gebraucht und dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Jedenfalls werde ich nicht dir zum Gefallen noch einmal einen Fehler machen.«
»Und der andere Weg? Du hast von zwei Möglichkeiten gesprochen.« »Ich weiß, daß einer meiner Adepten sich mit einem Zauber aus dem Volk der Waldelfen beschäftigt hat, der es erlaubt, die Gestalt eines Tieres anzunehmen. Doch weiß ich nicht, wie vollkommen er diesen Zauber beherrscht und was für ein Tier er gewählt hat. Nutzen würde uns ja wohl allein ein ... Vogel.« Eolan hatte eine ungewöhnlich lange Pause gemacht, bevor er das letzte Wort über die Lippen brachte. »Gut!« Marcian begann wieder auf- und abzugehen. »Dann finde heraus, was dein Schüler kann, und setz mich darüber in Kenntnis.« Stöhnend erhob sich der Magier aus dem Stuhl. »Es wird aber in jedem Fall noch einige Tage dauern, denn bevor ich gestatte, daß sich einer meiner Adepten einem solchen Risiko aussetzt, will ich erst persönlich sehen, wie gut er diesen Zauber beherrscht.«
Eolan verließ das Turmzimmer. Auch diesmal sagte er kein Wort zuviel. Kein Abschiedsgruß kam über seine Lippen, er schloß nicht einmal die Tür. Marcian ärgerte sich über den alten Mann. Mit der Arroganz, mit der er in den ersten Tagen nach seiner Ankunft aufgetreten war, hatte er besser umgehen können. Daß er ihm nicht wirklich helfen wollte, war unübersehbar. Er würde nun seine Agenten um sich versammeln. Immerhin verfügte er noch über andere Zauberer, die ihm bislang treu gedient hatten. Vielleicht besaßen die drei Magier und die Auelfe weniger Skrupel, was die Beschwörung eines Dämonen anging, oder sie verstanden es, sich in einen Vogel zu verwandeln. Zu guter Letzt blieb auch noch sein Freund Lancorian. Wieder stand Marcian vor der Wand des Turmzimmers. Er wendete, um seinen endlosen Marsch weiter fortzusetzen. Drei Tage hatte es gedauert, bis Marcian Nachricht von Eolan erhielt. Alle anderen Versuche, ohne die Magier aus Bethana auszukommen, waren fehlgeschlagen. Lancorian und die drei anderen Magier beherrschten den Tierzauber nicht. Auch die Elfe Nyrilla konnte dem Inquisitor nicht weiterhelfen. Sie beherrschte zwar den Verwandlungszauber, doch hatte sie die Gestalt einer Wildkatze gewählt und kam somit für einen Spähtrupp gegen die Orks nicht in Frage.