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Marcian war ins Haus der Magier am Platz der Sonne gebeten worden. Wie schon bei ihrem ersten Treffen sollte die Verwandlung in dem getäfelten Eßzimmer im ersten Stock stattfinden. Doch kaum war er angekommen, schickte man ihn schon wieder hinaus. Kalakaman, der junge blonde Zauberer mochte es nicht, wenn ihm der Stadtkommandant bei der Verwandlung zusah. Also hatte Marcian das Zimmer verlassen und stand nun wartend auf der Galerie. Er hatte den Eindruck, daß die Zauberer es genossen, ihre Macht ihm gegenüber auszuspielen. Doch blieb ihm keine andere Wahl, als sich ihren Launen zu fügen. Hinter der Tür hörte er, wie laut eine Zauberformel gerufen wurde. Nur ein Wort war deutlich zu verstehen: »Adler.«

Es wäre nicht schlecht, wenn es Kalakaman gelingen sollte, sich in einen Adler zu verwandeln. Als König der Lüfte brauchte er keinen Gegner zu fürchten, und mit scharfem Blick würde er den Schleier über den Geheimnissen der Orks lüften.

Seit vorgestern war beinahe ununterbrochenes Hämmern aus ihrem Haupt-lager vor der Ostmauer zu hören. Die Arbeiten an den drei hohen Erdhügeln waren abgeschlossen. Sklaven hatten Erde auf mehr als fünf Schritt Höhe aufgeschüttet und dann noch eine hölzerne Palisade darauf gesetzt. Das einzige, was man von der Stadt aus jetzt noch beobachten konnte, war, wie mehrmals am Tag auf großen Ochsenkarren Bauholz hinter die Hügel geschafft wurde.

Die Wirkung dieser Heimlichtuerei war enorm. Man redete von gewaltigen Katapulten, die dort gebaut würden, oder von Tunneln, die von hinter den Hügeln bis tief unter die Stadtmauern getrieben würden. Selbst seine Offiziere hatten sich schon zu den verwegensten Spekulationen hinreißen lassen. Lancorian war es gewesen, der erst gestern abend die These aufstellte, bei den drei nebeneinanderliegenden Hügeln handle es sich um eine Kultanlage oder um Gräber für getötete Anführer der Orks. Jedenfalls mußte Marcian dem Geheimnis auf den Grund gehen, oder um ihn herum würden noch alle verrückt werden. Ein Vogelschrei schreckte den Inquisitor aus seinen Gedanken. Er drang aus dem verschlossenen Eßzimmer. Dann hörte er das Geräusch wie Flügelschlagen. Die Tür öffnete sich, und einer der Adepten bat ihn wieder hereinzukommen.

Als Marcian den Raum betrat, hockte der prächtige Vogel, in den sich Kalakaman verwandelt hatte, bereits auf dem Sims des geöffneten Fensters. Sein Gefieder glänzte silbrig und blau. Er war wenig größer als der Unterarm eines Mannes. Blaue Augen musterten ihn kalt, und krächzend schrie ihm der Falke etwas ins Gesicht. Dann stieß er sich ab und schraubte sich auf gewaltigen Schwingen schnell in den Himmel. Alle eilten zum Fenster, um seinen Flug zu verfolgen. Nachdem er genügend Höhe gewonnen hatte, drehte der Vogel nach Süden, dort wo die Orks ihre Verteidigungsanlagen vor dem Stadttor ausgebaut hatten. Dumpfer Hörnerklang war jenseits der Mauern zu hören. Die Schwarzpelze schienen den majestätischen Falken am Himmel bemerkt zu haben. Doch was konnten sie schon tun. Er kreiste weit außerhalb der Reichweite jedes Bogenschützen. Noch immer drehte Kalakaman seine Kreise über dem Südtor.

»Laßt uns jetzt in den Garten gehen! Sobald er nach Osten fliegt, können wir ihn vom Fenster aus nicht mehr beobachten«, erklärte Eolan. Gestützt auf einen seiner Schüler, war er bereits auf dem Weg zur Galerie. Marcian folgte ihm.

Als die Gruppe den Garten erreichte, kreiste der Falke bereits über dem Hauptlager der Orks. Aus der großen Höhe mußte er ohne weiteres erkennen können, was sich hinter den Hügeln verbarg. Da entfuhr einem der Adepten ein Fluch. Mit ausgestrecktem Arm wies er in den Himmel. Links von Kalakaman, noch einige hundert Schritt entfernt, war ein schwarzer Punkt zu erkennen. Ein mächtiger Vogel stieß auf den verwandelten Magier zu. Dieser erkannte die Gefahr und versuchte, nach Westen zur Stadt hin zu entkommen. Eolan hatte dem jungen Zauberer eingeschärft, sich auf keinen Fall irgendeinem Risiko auszusetzen. Der schwarze Vogel holte schnell auf. Währenddessen gelang es dem Falken, in weiten Kreisen an Höhe zu gewinnen.

Der schwarze Vogel erschien riesig. Noch war er zu weit entfernt, als daß man seine Größe hätte schätzen können, doch war er deutlich größer als der Falke. Ganz so, als ahnte er, daß der andere ihn nicht angreifen würde, hatte er den kräfteraubenden Steigflug abgebrochen und befand sich nun unterhalb Kalakamans.

»Das muß ein anderer Magier sein.« Eolans Stimme klang heiser. »Er verhält sich sehr klug. Er will auf jeden Fall verhindern, daß Kalakaman hier in der Stadt landet. Sobald er tiefer geht, wird er ihn angreifen.« »Und warum wehrt dein Schüler sich nicht?« Marcian hatte von Anfang an nicht verstanden, warum der alte Magier seinem Adepten verboten hatte, sich auf einen Luftkampf einzulassen.

»Er wäre dumm, sich zum Kampf zu stellen. Kalakaman hat zwar jetzt den Körper eines Falken, und er kann auch fliegen, doch ist es töricht zu glauben, er wäre ebenso geschickt wie ein Blaufalke. Er hat erst wenige Male diese Gestalt angenommen. Ihm fehlt die Erfahrung im Luftkampf. Ist sein Gegner mit der Vogelgestalt, die er gewählt hat, vertrauter, wird es ihm leichtfallen, meinen Schüler zu besiegen.« Eolan hatte vor Wut die Fäuste geballt und starrte in den Himmel. Mittlerweile waren die beiden Vögel über der Stadt. Nun konnte man den Schwarzen besser erkennen. Seine Spannweite mußte mehr als drei Schritt betragen. Kopf, Flügelspitzen und Brust des Vogels waren schneeweiß, der Rest des Körpers von tiefem Schwarz. Wer immer sich hinter dieser Gestalt verbarg, er hatte klug gewählt. Der schwarze Vogel war ein Königsadler, der seltenste unter den Adlern Aventuriens. Legenden rankten sich um diesen mächtigen Vogel, und es gab Königreiche, in denen es unter Todesstrafe verboten war, Jagd auf ihn zu machen. Sein Erscheinen würde den meisten Bürgern als ein Omen gelten.

Noch immer versuchte Kalakaman, weiter an Höhe zu gewinnen. »Das ist keine Lösung, Junge«, murmelte Eolan vor sich hin.

»Warum?« Marcian verstand den Einwand des alten Mannes nicht. »Weil er nicht ewig am Himmel bleiben kann. Kalakaman hatte mit einem kurzen Erkundungsflug gerechnet. Eigentlich sollte er jetzt schon wieder im Garten sitzen.«

»Wo ist das Problem?« Marcian wandte den Blick nicht vom Himmel. Der Königsadler hatte begonnen, langsam höher zu steigen. Entweder würde er den Adepten so bald erreichen, oder der junge Magier mußte immer weiter in den Himmel fliehen. Doch statt aufzusteigen, schwankte der Falke unsicher in der Luft. Es sah ganz so aus, als hätte er mit schweren Winden zu kämpfen.

Auch Eolan verfolgte den verzweifelten Wettkampf und ließ sich Zeit mit der Antwort. Immer wieder murmelte er: »Komm zurück, du mußt es wagen!«

»Warum fliegt er nicht einfach davon?« Marcian hatte den Eindruck, als würde der Falke immer mehr zum Spielball der Winde. Er kam kaum noch von der Stelle, und der Königsadler würde ihn bald eingeholt haben. »Warum fliegt er nicht einfach in einen Wald und versteckt sich dort?«

»Weil er das nicht kann!« Eolans Stimme war verzweifelt. »Er wird vom Himmel stürzen. Er muß sich jetzt entscheiden. Du scheinst das Wesen der Magie zu vergessen. Heute kann fast kein Zauber mehr gewirkt werden, der von ewiger Dauer ist. Kalakaman hat nur einen Teil seiner Kräfte aufgewandt, um sich in den Falken zu verwandeln. Während er den Zauber sprach, mußte er sich entscheiden, wie lange die Verwandlung andauern sollte. Wir hatten abgesprochen, daß er nur wenig Kraft aufwenden sollte, weil er nur einen kurzen Flug vor sich hatte. Mit diesem Duell war nicht zu rechnen, und deshalb wird er sich bald zurückverwandeln. Geschieht das in der Luft, ist es sein sicherer Tod, sollte er aber ...« Eolan brach mitten im Satz ab.