Da erhob sich Marcian. »Nun, es sieht so aus, als könnte man euch nicht mit guten Worten von dieser Dummheit abhalten. Dann laßt uns gemeinsam überlegen, wie dieses Unternehmen so gut wie möglich durchzuführen ist. Und du, Zerwas, sollst das Oberkommando innehaben!« Mit überheblicher Geste bedankte sich der Vampir.
Dies mochte eine Gelegenheit sein, ihn loszuwerden, dachte Marcian und lächelte freundlich zurück.
Kolon stand auf dem Erdwall der Schanze vor dem Andergaster Tor. Bald würden sie kommen; dessen war er sich völlig sicher. Schon vor zwei Nächten hatte er die Speerschleudern in Position bringen lassen. Verborgen hinter den hölzernen Schutzwänden standen die Aale, wie sie die Soldaten wegen der langen Speere nannten, die diese Geschütze verschossen, bereit, jeden Ausfall zu einem Blutbad werden zu lassen. Er hatte dafür gesorgt, daß die besten Bogenschützen der Armee auf die Schanzen direkt vor den Toren der Stadt verteilt waren. Sollten die Greifenfurter nur kommen! Kolon erwartete sie sehnsüchtig. Diesmal würden sie es sein, die eine Niederlage erlitten.
Der Zwerg legte den Kopf in den Nacken und schaute zu den verblassenden Sternen. Er brauchte den Angriff. Es fiel ihm immer schwerer, Sharraz Garthai noch davon zu überzeugen, daß es besser wäre, wenn die Menschen zuerst angriffen. Schon hatte er befehlen müssen, die Ostmauer zu beschießen, um den Sturm der Orks vorzubereiten. Sharraz Garthai befürchtete, seine Autorität zu verlieren. Er brauchte dringend einen Erfolg.
Kolon verachtete die Orks. Sie waren strohdumm. Wäre er nicht hier, würden sie vermutlich immer noch mit Wurfankern und Leitern versuchen, die Mauern der Stadt zu überrennen. Doch so etwas mußte anders angepackt werden. Man mußte Finten wagen und den Feind verwirren. Der Kampf um eine Stadt war im Grunde von einem Schwertkampf nicht sehr verschieden. Es gab nur drei Wege, den Gegner zu vernichten. Er konnte an einer Vielzahl kleiner Schläge zugrunde gehen, doch das hieße, eine lange Belagerung führen. Statt dessen bestand auch die Möglichkeit einen Angriff mit solcher Kraft voranzutreiben, daß ihm einfach nichts entgegenzusetzen war, doch dafür hatte Sharraz Garthai zu wenige Krieger, und dann gab es noch den dritten Weg: Man mußte einen Schlag führen, der völlig unerwartet kam und tödlich traf. Genau das würde geschehen. Kolon hatte lange mit Gamba über dessen Möglichkeiten beraten, und sie hatten gemeinsam einen Plan ausgeheckt, der den sicheren Untergang der Stadt bedeutete. Zunächst war auch Sharraz Garthai davon überzeugt gewesen, doch nun dauerte ihm das alles zu lange. Auch wenn er die Belagerung leitete, so war er doch wie die meisten seines Volkes zu ungeduldig.
Angestrengt lauschte Kolon in die Morgendämmerung. Hatte er nicht gerade ein Pferd wiehern gehört? Jetzt war es wieder still, bis auf das Zwitschern der Vögel, die im hohen Gras ihre Nester hatten. Der Zwerg versuchte, im Zwielicht das Stadttor auszumachen. Doch vergebens. Es mochte noch eine halbe Stunde dauern, bis die Sonne aufging.
Da war das Geräusch wieder. Das konnte kein Zufall mehr sein. Der Zwerg hob den Arm und winkte. Zehn Orks standen hinter ihm unten am Erdwall bereit. Sie würden nun ausschwärmen und leise ihre Kameraden wecken. Jetzt durfte es noch keine Horn- und Trommelsignale geben.
Aus den Augenwinkeln sah Kolon, wie sich eine Gestalt über die Böschung schwang und zu den hölzernen Schutzwänden hinüberlief. Dort schliefen direkt neben den Geschützen die Bedienungsmannschaften. Noch wenige Augenblicke und alle waren in Alarmbereitschaft. Schon kamen die ersten Bogenschützen auf den Erd wall und kauerten sich hinter die Brustwehr. Im Morgendunst war ein leises Knirschen zu hören. Das Geräusch der Stadttore, die sich in ihren Angeln bewegten. Er hatte recht gehabt. Sie kamen.
Kolon drehte sich um und ließ prüfend den Blick über das Lager der Orks schweifen. Alle Krieger waren mittlerweile geweckt. Er lachte leise, diesmal würden die Greifenfurter diejenigen sein, die eine Überraschung erlebten. Bis zum Hauptlager durchzukommen war unmöglich. Kolon war sich völlig sicher, an alles gedacht zu haben. Neben ihm kauerte ein Ork mit einem ausgehöhlten Mammutstoßzahn. Sobald Kolon es befahl, würde er ein Hornsignal geben, und die Bogenschützen eröffneten das Feuer. Aber erst mußten die Feinde näher kommen. Wieder spähte der Zwerg angestrengt ins Zwielicht. Eine lange Reihe Reiter durchquerte das Tor. Fast völlig lautlos nahmen sie Aufstellung. Dann folgten Fußsoldaten. Sie sollten vermutlich die Reiter abschirmen. In geschlossener Formation kamen die Infanteristen nun langsam auf die Schanze zumarschiert. Kolon griff nach der schweren Armbrust, die vor ihm auf der Brustwehr lag und gab dem Ork mit dem Horn ein Zeichen. Ein dumpfer, quäkender Ton zerriß die Stille des Morgens. Für einen Augenblick schienen die Menschen in ihrem Vormarsch zu stokken.
Der Zwerg hörte, wie die hölzernen Schutzwände ins Gras fielen. Dann war das scharfe Klacken der zurückschnellenden Sicherungsbügel der Speerschleudern zu vernehmen. Er hatte den Geschützbedienungen eingeschärft, zunächst auf die Reiter zu schießen. Das Fußvolk wäre Sache der Bogenschützen, die sich nun neben ihm erhoben. Von einem Augenblick zum anderen war die Luft erfüllt vom Sirren der Bogensehnen und Pfeile. Schon hörte man die ersten Schreie Getroffener durch die Nacht gellen und das Wiehern von Pferden im Todeskampf. Kolon spannte seine Armbrust. Noch immer rückten die Fußsoldaten vor. Der Zwerg ließ sich Zeit. Er wollte einen Offizier. Dann erkannte er einen Jüngling mit Locken. Er trug einen runden Schild und einen Küraß, soweit Kolon es im schwachen Licht erkennen konnte. Sorgfältig zielte er, legte den Zeigefinger an den Abzugsbügel und schoß. Der Bolzen riß den Mann von den Beinen. Er taumelte gegen die rückwärtigen Reihen und brach dann endgültig zusammen. Rings um ihn entstand Verwirrung. Die Fußsoldaten waren keine vierzig Schritt mehr vorn Graben der Bastion entfernt.
Kolon griff nach dem Köcher mit den Bolzen und spannte seine Waffe erneut. Unter den Menschen brach nun endgültig Panik aus. Viele warfen die Schilde weg und rannten um ihr Leben. Schon wollten die ersten Orks die Böschung hinunterstürmen, den Graben durchqueren und ihnen nachsetzen, als die Stimme des Zwerges den Lärm der Schlacht übertönte. »Alles bleibt auf dem Posten! Wer hier ohne meinen Befehl die Verfolgung beginnt, den schieße ich nieder. Denkt an die Reiter! Im offenen Gelände sind wir ihnen nicht gewachsen.«
Die meisten hielten zögernd an und blickten mißtrauisch herüber. Kolon legte ruhig seine Armbrust an und zielte auf einen Ork, der den Graben durchquert hatte und gerade die gegenüberliegende Böschung erklomm. Kolon schoß. Mit einem Schrei stürzte der Krieger nieder, versuchte sich in der weichen Erde festzuklammern und rutschte sterbend die Böschung herunter. »Alles zurück auf die Posten!« Die Orks gehorchten ihm.
Jetzt kamen die Reiter zurück. Offensichtlich war ihnen der Durchbruch mißglückt. Ihre Reihen hatten sich gehörig gelichtet. »Vergeßt die Fußsoldaten, schießt nur noch auf die Reiter.' Feuer.'« kommandierte der Zwerg. Wieder war das harte Klacken der entsicherten Speerschleudern zu hören. Wie Blitze fuhren die Geschosse zwischen die Menschen, rissen Roß und Reiter zu Boden. Kolon fiel ein blonder Offizier mit wallendem blauen Umhang auf. Er versuchte, ein Trüppchen Reiter um sich zu sammeln. Offensichtlich wollte er eine Attacke auf die Geschützstellungen reiten, um so das Feuer auf sich zu ziehen und den anderen den Rückzug durch das Tor zu erleichtern.
Hastig spannte der Zwerg seine Armbrust und drehte an der Kurbel, die über einen ausgeklügelten Mechanismus den stählernen Bogen der Waffe spannte. Dann stützte er die Armbrust auf die Brustwehr auf, um sorgfältiger zielen zu können. Er wollte den Kopf dieses blonden Reiters. Nervös spannte er den Finger am Abzug und schoß, doch im selben Moment bäumte sich das Pferd des Reiters auf. Der Bolzen schlug dem Hengst in die Brust, der noch ein zweites Mal stieg und dann zusammenbrach. Geschickt sprang der Reiter aus dem Sattel und rollte sich im Gras ab. Schnell war er wieder auf den Beinen. Einer der Männer aus seinem Gefolge stieg ab und überließ ihm sein Pferd. Schon saß der Reiter wieder im Sattel, und sein Befehl zum Angriff schallte über das Schlachtfeld.