Respektvoll pfiff Kolon durch die Zähne. Die Ritter hatten Mut. Es mochten vielleicht zwanzig sein, die auf die Stellung der Orks zugaloppierten. Die Wahrscheinlichkeit, diesen Angriff zu überleben, war gering, doch ihr Plan ging auf. Alle Bogenschützen ringsherum konzentrierten ihr Feuer auf die näherkommenden Reiter. Auch die Bedienungsmannschaften der Speerschleudern richteten ihre Geschütze neu aus, um den Rittern, die auf die befestigten Schanzen zuhielten, in die Flanken zu schießen.
Pferde strauchelten, von Pfeilen durchbohrt. Ritter wurden von Speeren aus dem Sattel gerissen und mehrere Schritt hinter ihre Reittiere geschleudert, doch noch immer hielten die Überlebenden auf die Schanze zu. Sie mußten jetzt weniger als fünfzig Schritt entfernt sein. Wieder spannte Kolon seine schwere Armbrust. Auf diese Distanz würde er treffen. Bedächtig zog er einen Bolzen aus dem Köcher an seiner Hüfte. Einen Augenblick betrachtete er das massige kleine Holzgeschoß mit seiner kantigen stählernen Spitze. Du wirst ein Heldenleben beenden, dachte er und legte den Bolzen ein. Als er aufblickte, um zu zielen, sah er, wie der Ritter samt Pferd zur Seite gerissen wurde. Ein Speer hatte Roß und Reiter getroffen. Diesmal gelang es dem Blondschopf nicht, sich abzurollen. Er verschwand unter dem stürzenden Pferdeleib. Eine rothaarige Frau riß ihren Schimmel hart herum und sprang aus dem Sattel. Sie kniete neben dem gefallenen Ritter. Kolon kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Noch immer war das Morgenlicht schwach und hatte kaum die Kraft, die Dunkelheit zu vertreiben. Es schien, als wäre dem Reiter der Speer durch den Oberschenkel geschlagen, so daß er regelrecht an sein totes Pferd genagelt war. Die Frau mit dem wehenden weißen Umhang machte sich an dem Schaft zu schaffen. Rings um sie wendeten nun die wenigen überlebenden Reiter ihre Pferde, um dem tödlichen Feuer der Orks zu entgehen. Nur zwei blieben bei ihr und versuchten, sie mit den Schilden von den Pfeilen der Gegner abzuschirmen. Mit einem Schwerthieb durchtrennte sie den Speer kurz über dem Bein des Reiters, dann löste sie den Schenkel aus der tödlichen Verklammerung. Einige Speere schossen kurz über ihren Kopf hinweg. Einer der zurückgebliebenen Ritter wurde getroffen. Ein Speer schlug ihm glatt durch den Unterleib, doch die anderen hatten Glück.
Kolon fluchte. Diese barbarischen Hinterwäldler. Immer, wenn es darauf ankam, schossen sie daneben. Aus Orks würde man wohl niemals vernünftige Artilleristen machen. Er würde dieses Schauspiel nun beenden. Soeben versuchte die Rothaarige, mit einem anderen den Pferdeleib wegzurollen und den Ritter endgültig zu befreien. Sorgfältig zielte der Zwerg und schoß. Einen Atemzug später sah er, wie es die Frau nach hinten riß. Zufrieden schmunzelte er. Doch dann richtete sie sich wieder auf. Kolon schrie vor Wut und fluchte in der Sprache der Zwerge auf den Schmied, der diese Rüstung gefertigt hatte. Der Bolzen mußte an ihrem Küraß abgeglitten sein, ohne ihn zu durchschlagen. Wieder machte sie sich an dem Pferd zu schaffen. Um sie und den letzten verbliebenen Streiter schlugen die Geschosse ein. Jetzt hatten sie den Ritter mit dem blauen Umhang befreit. Der Zwerg blickte zum Stadttor hinüber. Die drei mußten mehr als zweihundert Schritt laufen, um die rettenden Mauern zu erreichen. Das würden sie nicht schaffen. Selbst wenn alle Orks blind wären und ziellos ihre Pfeile abfeuern würden, konnten sie die Strecke bis zum Tor unmöglich überleben. Kolon fühlte sich wie der Kommandant eines Erschießungskommandos. Die drei hatten es gewagt, ihm zu trotzen. Dafür würden sie nun sterben! »Schießt sie nieder und holt euch ihre Skalps!« schrie Kolon auf orkisch seinen Kriegern zu, die den Befehl mit begeistertem Geschrei aufnahmen. Der Zwerg musterte die schwarzbehaarten Kreaturen, die er kommandierte. Früher hatte er Orks als Abschaum betrachtet, heute sah er sie anders. Sie waren zwar undisziplinierte Barbaren, doch gute Kämpfer. Die meisten menschlichen Soldaten waren den Hieben eines wütenden Orks nicht gewachsen. Und so würde es auch den Greifenfurtern ergehen. Heute war der Tag, an dem die Stadt fallen würde.
Vor dem Andergaster Tor waren nur noch wenige Reiter. Fast alle hatten sich hinter die schützenden Mauern geflüchtet. Ein großer Mann in schwarzer Rüstung ließ seinen Rappen steigen. Er rief etwas, doch auf die Entfernung konnte Kolon seine Worte nicht verstehen. Dann ließ der Schwarze sein Schwert über dem Kopf kreisen und wies auf die Stellung der Orks. Er riß das Pferd herum und kam auf sie zugaloppiert. Die anderen folgten. Dicht an seiner Seite fiel noch ein zweiter Mann in schimmerndem Plattenpanzer und mit wehendem roten Umhang auf. Das mußte Marcian sein!
Kolon lächelte böse. Sollten sie nur kommen! Sie wären nur mehr Futter für seine Geschütze. Die drei Überlebenden hatten inzwischen hinter den Kadavern toter Pferde Deckung gesucht, um nicht dem Beschuß der Orks ausgesetzt zu sein.
Unter den angreifenden Reitern ertönte ein Hornsignal. In weit ausgefächerter Linie galoppierten sie auf die Schanze zu. Die meisten trugen nur leichte Lederrüstungen und waren mit Bögen bewaffnet.
Kolon gab erneut den Befehl zu schießen. Wie Hornissen im ersten Licht der Sonne blinkend flogen die geölten Speere der Geschütze auf die Reiter zu. Einer durchschlug den Hals eines Pferdes und drang tief in die Brust des Reiters. Auch die Bogenschützen verrichteten ihr tödliches Handwerk. Dichte Schauer von Pfeilen flogen den Angreifern entgegen. Das mußten Wahnsinnige sein.
Als sie die drei hinter den gestürzten Pferden erreicht hatten, zügelten die Bogenschützen ihre Pferde und erwiderten das Feuer. Ein bunt gefiederter Pfeil schlug dicht vor dem Zwerg in die Brustwehr ein. Einige der Orks schrien getroffen auf und stürzten. Diese Hunde schossen elend gut. Doch sie würden der Übermacht der Orks nicht lange standhalten.
Wieder hielten die Speere der Geschütze tödliche Ernte unter den Reitern. Mittlerweile waren die Verletzten von den Anführern auf die Pferde gezogen worden. Kolon legte auf den Mann in der Rüstung an. Das war ein Göttergeschenk, daß der Kommandant der Stadt jetzt unmittelbar vor ihm stand. Er mußte sorgfältig zielen. Traf der Bolzen nicht genau auf die schweren Eisenplatten des Harnischs, würde er wirkungslos abgleiten. Jetzt Zusammen mit einem Schauer von anderen Pfeilen flog der Bolzen des Zwergs auf sein Ziel zu. Der Ritter riß seinen Schild hoch. Fünf oder sechs Pfeile fing er so ab. Doch der Bolzen mußte den Schild durchschlagen haben. Ein Horn ertönte. Der Mann wendete sein Pferd. Er schwankte im Sattel.
»Treffer!« Kolon hüpfte hinter der Brustwehr auf und ab. Dann beruhigte er sich wieder. Jetzt würde er dem Kerl den Rest geben. Wieder drehte er die Kurbel seiner Armbrust und beobachtete, wie sich der stählerne Bogen langsam spannte. Die Reiter hatten gewendet. Sie holten alles aus ihren Pferden heraus, um endlich wieder in die Sicherheit der Stadtmauern zu gelangen. Der Ritter in der schwarzen Rüstung und Marcian fielen zurück. Der Schwarze hatte die rothaarige Frau zu sich auf den Sattel gezogen und der Kommandant den Offizier mit dem blauen Umhang. Dadurch waren sie wesentlich langsamer geworden. Rund um sie schlugen Speere ein.
Dann zerstob neben Kolon ein Teil der Brustwehr aus festgestampfter Erde. Zwei Orks wurden schreiend von der Schanze gefegt. Sie mußten auf der Stadtmauer ein Geschütz in Stellung gebracht haben. Kolon war vor Schreck die Armbrust losgegangen. Fluchend spannte er den Bogen erneut. Gleich waren die Reiter außerhalb der Reichweite. Schon öffneten sich die Tore der Stadt. Kolon schoß, doch die Wahrscheinlichkeit, auf diese Distanz noch zu treffen, war gering. Er hatte gefehlt. Der Zwerg hob den Arm. Es war sinnlos, noch weiter zu schießen. »Feuer einstellen!«