Plötzlich stand eine Frau mit schwarzem Umhang unter ihnen. Im ersten Augenblick glaubte der Magier, sie sei eine Söldnerin auf Seiten der Orks, doch dann hieb sie auf ihre Gegner ein. Die Frau kämpfte überaus geschickt und schien keine Angst vor dem Tod zu haben. Sträflich vernachlässigte sie ihre Deckung und griff tollkühn drei Orks auf einmal an. Noch weitere Krieger mit schwarzen Umhängen kamen ihr zu Hilfe. Nach wenigen Augenblicken lagen etliche Gegner tot auf der Gasse. Der Rest floh in die Nacht.
»Dank dir, Lancorian!« sagte die Kriegerin, die zuerst zu ihrer Unterstützung kam und schüttelte ihm die Hand. »Ohne dich wäre ich schon längst tot. Warum hast du Marcian noch nicht unsterblich gemacht?« Der Magier war völlig verblüfft. »Äh ...«, fing er verlegen an. »Weil ich das nicht wollte«, mischte sich der Inquisitor schnell ein. Verständnislos blickte ihn die Kriegerin an. »Nun ja«, sagte sie schließlich, »wir müssen weiter. Bis Sonnenaufgang wird die Stadt wieder in unserer Hand sein. Die meisten Orks rennen wie die Hasen, wenn sie Zerwas kommen sehen. Er kämpft, als sei Rondra in ihn gefahren.« Die Krieger verschwanden in der Nacht.
»Lancorian, ich muß dir etwas erklären.« Marcian packte seinen Freund bei der Schulter und zog ihn in einen Hauseingang.
»Was ist da los?« Sharraz Garthai bebte vor Wut. Wieder war einer der Unterführer zu ihm gekommen und berichtete von Kriegern in schwarzen Umhängen, die nicht zu töten waren.
»Brich den Angriff ab!« Kolon der Zwerg wußte sich auch keinen Reim auf die Nachrichten zu machen, die seit einer Stunde das Hauptquartier der Orks erreichten. »Zieh die Männer zurück! Sie brauchen Ruhe. Morgen werden wir uns den Rest der Stadt nehmen. Allein die Garnison wird uns noch eine Weile widerstehen können.«
»Trotzdem möchte ich wissen, was dort vor sich geht. Ihre Kampfkraft schien doch schon fast gebrochen. Warum setzen sie diese Truppen erst jetzt ein?« Sharraz Garthai war verzweifelt. Der massige Krieger saß auf einem Haufen aus Fellen und hatte angefangen, sich zu betrinken. »Es könnte sein, daß wir morgen genausowenig Erfolg haben werden.« Gamba, der bislang schweigend zugehört hatte, erhob sich. »Ich weiß nicht, was dort passiert, aber es kann nicht mit rechten Dingen zugehen. Wir sind in einer schlechten Position. Die Schamanen und ich sind mit den Kräften am Ende. Wir werden Tage brauchen, bis wir wieder in der Lage sind, einen machtvollen Zauber zu wirken, und ich glaube, daß das, was in der Stadt vor sich geht, nicht ganz geheuer ist. Es gibt keine Menschen, die unsterblich sind. Es sei denn, sie sind verzaubert. An deiner Stelle würde ich mich auf einen Gegenangriff der Greifenfurter vorbereiten, Sharraz.«
Dem Ork fiel der Unterkiefer herab. »Was? Du spinnst. Heute haben wir sie fast vernichtet ...«
»Und diese Nacht sind wir aus der Stadt wieder zurückgeschlagen worden. Beschönige die Dinge nicht! Wenn ich der Kommandant von Greifenfurt wäre und über unsterbliche Krieger gebieten könnte, würde ich zum Angriff übergehen.«
Ungläubig starrte der General den Druiden an. Es ließ sich nicht leugnen, daß er recht hatte. »Kolon, sorge dafür, daß unsere Stellungen bereit sind, einen Angriff abzuschlagen!«
»Jawohl, Gebieter.« Der Zwerg salutierte zackig und verließ das Zelt. Draußen hob er den Blick zu den Sternen. Wie, bei allen Göttern, sollte man einen Angriff von Kriegern abwehren, die offenbar unsterblich waren?
Bald würde die Sonne aufgehen. Zehn Reiter hatten sich bei der Ostmauer, unweit der Bresche, versammelt. Marcian musterte jeden argwöhnisch. Einige Vampire waren in der Nacht umgekommen. Unglückliche Treffer hatten ihnen den Kopf zerschmettert, andere waren durch Pfeile getötet worden. Es schien, als seien bestimmte Sorten Holz geeignet, sie zu Boron zu schicken. Er blickte zu Zerwas auf seinem prächtigen Rappen. Ob das auch für ihn galt? Die sieben überlebenden Vampire waren jedenfalls unverletzt und kräftig. Sie wußten immer noch nicht, was mit ihnen geschehen war, glaubten weiterhin das Ammenmärchen, das ihnen der Henker erzählt hatte.
Die Pferde, auf denen sie saßen, hatten mit Rauschkräutern beruhigt werden müssen. Sie spürten sehr wohl, was für Geschöpfe sie im Sattel trugen.
Gemeinsam mit Sartassa, Lancorian und den anderen Reitern sollte Zerwas einen Angriff gegen die Orkstellungen vortragen. Marcian hoffte, daß die Schwarzpelze dadurch so sehr in Panik geraten würden, daß sie die Belagerung vielleicht ganz aufgaben. Auf der anderen Seite konnte es auch sein, daß die Vampire bei der Attacke ihr unheiliges Leben verlieren würden. Marcian blickte zu Boden und lächelte in sich hinein. Gleichgültig, was geschah, seine Feinde würden sich nun untereinander bekriegen, und er war auf jeden Fall der Sieger. Sorgen machte er sich allein um Lancorian. Er sollte die Vampire durch einen Dunkelzauber schützen, sobald die Sonne aufging.
Zerwas hatte sich zunächst gegen diesen Angriff gesträubt. Es schien, als spürte er, daß Marcian ihn in eine Falle locken wollte. Doch als die feurige Sartassa den Vampir einen Feigling genannt hatte, war er zum Angriff auf die Orks bereit gewesen. Wieder schmunzelte Marcian. Selbst jetzt, wo die Elfe von der Seite des Lichts zur Finsternis gewechselt war, leistete sie ihm noch gute Dienste. Sie schien großen Einfluß auf Zerwas zu haben. Erste Streifen silbrigen Lichts zeigten sich am Horizont. Bald würde sich im Osten das feurige Gestirn des Praios über die sanften Hügel erheben. Zerwas zog sein Schwert aus der prächtigen Scheide auf seinem Rücken. Unruhig schnaubten die Pferde. »Für Boron!« schrie der Vampir und gab seinem Rappen die Sporen.
In der Bresche hielten die Reiter noch einmal kurz an. Lancorian formte seine Hände zu einer geschlossenen Kugel und verschloß die Augen. Mißtrauisch beobachtete ihn Zerwas. Der Magier war ein guter Freund des Inquisitors. Er sollte ihn im Auge behalten. Vorsichtig lenkte er sein Pferd durch die Trümmer näher an ihn heran. Rund um die Reiterschar begann die Luft zu flimmern. Schnell wurde aus Zwielicht vollkommene Dunkelheit. Eine Schwärze, die jedes Licht absorbierte. Zerwas brauchte einen Augenblick, um sich an die Finsternis zu gewöhnen. Als Vampir sah er bei Nacht besser als am Tag, doch diese Finsternis war irgendwie anders. Er konnte kaum noch sehen, wo er lang reiten würde. »Achtung, alles im Schritt vorwärts!« kommandierte der ehemalige Henker. »Paßt auf, daß ihr nicht die Richtung verliert.«
»Ich werde euch vor Hindernissen warnen, ich kann noch ganz normal sehen«, meldete sich Lancorian zu Wort. »Wir reiten jetzt mitten in einer zehn Schritt umfassenden Halbkugel aus Finsternis. Von außen kann uns keiner sehen. Die Dunkelheit ist für Orks und Menschen undurchdringlich.«
Aus dem Lager der Schwarzpelze erklangen quäkende Hörner. Sie hatten den drohenden Schatten vor der Stadtmauer bemerkt. Allmählich gewöhnten sich Zerwas' Augen an den Zauber. Schemenhaft konnte er das Lager der Orks zweihundert Schritt voraus erkennen.
»Achtung, steigert jetzt das Tempo!« rief der Vampir seinen Streitern zu. »Wir werden über die Rampen, auf denen sie gestern die Belagerungstürme herausgeschoben haben, in das Lager einfallen.«Donnernd rissen die Hufe der Pferde das Gras auf. Vor ihnen konnten sie erkennen, wie vereinzelt Orks auf Geschütze zurannten. Einige Bogenschützen schossen wahllos auf die unheimliche Schwärze, die mit stetig steigendem Tempo auf das Lager zukam.
»Wir werden unsere Freunde jetzt ein wenig erschrecken«, rief Lancorian atemlos. Der Reitertrupp war nun weniger als fünfzig Schritt vom Lager entfernt. Plötzlich war eine tiefe, böse Stimme zu vernehmen, die in gebrochenem Orkisch stammelte: »Ich bin der Herr der Finsternis und schicke meine Schergen, um euch in den Abgrund zu reißen. Fürchtet euch, denn für den, den die Nacht erfaßt, wird es kein Entkommen mehr geben.«